Donnerstag, 1. Oktober 2020

Great Women #235: Dorothee Sölle

Wurde doch mal wieder Zeit, an dieser Stelle über eine Kölnerin zu erzählen! Eine, die zu der Zeit, als ich zum ersten Studium nach Köln kam, in der Stadt und darüberhinaus von sich reden machte. Doch ich, gerade nach dem Abitur durchs Hinaufsteigen in den Turm des Bonner Amtsgerichtes endlich konfessionslos geworden, hatte für religiöse Themen damals so überhaupt kein Ohr. Meinen Blickwinkel auf  Dorothee Sölle hat sich später dann geändert...
"Ich will mich nicht gewöhnen"

Am 30. September 1929 erblickt Dorothee Sölle als Dorothee Nipperdey in der Domstadt das Licht der Welt. Ihre Eltern sind die ursprünglich aus dem Elsass stammende, 1918 nach Jena ausgewiesene Hildegard Eißer, von Beruf Erzieherin, und der im thüringischen Bad Berka geborene Hans Carl Nipperdey, seit 1925 Professor für Wirtschafts- und Arbeitsrecht an der Kölner Universität ( der er bis 1963 treu bleiben wird ). 

Häuser in der Professorensiedlung heute
Dorothee ist das vierte Kind der Familie mit drei Brüdern, Carl, Otto & Thomas, und einer Schwester, Sabine, die drei Jahre nach ihr geboren wird. 

Da die Familie zum gehobenen Bürgertum der Stadt gehört, wächst Dorothee im teilweise sehr noblen Viertel Marienburg im Kölner Süden auf, in der "Professorensiedlung" in der Wolfgang-Müller-Straße, besucht aber in den 1930er Jahren zunächst die Volkschule an der Annastraße in Raderberg, einem von Arbeitersiedlungen geprägten Stadtteil. Später wechselt sie auf das innerstädtische Kaiserin-Augusta-Gymnasium, wo sie auch das Abitur ablegen wird.  

Da der Vater aus beruflichen Gründen viel unterwegs ist, spielt er in Dorothees Leben weniger eine Rolle als die immer präsente Mutter, die als kluge Frau mit protestantischen Grundsätzen und festen Regeln in der Lebensführung beschrieben wird. Im Elternhaus spielt die Kirche aber kaum eine Rolle, man kann eher von einer Form des säkularisierten Christentums sprechen, die dort gelebt wird. Doch in den Zeiten des Nationalsozialismus, in der ein Abwenden von der Kirche angesagt ist, verlässt man diese nicht wie "die Ratte das sinkende Schiff", so Hildegard Nipperdey gegenüber ihrem Mann. Alle Nipperdey - Kinder werden auch konfirmiert.

Hans Carl Nipperdey hat diese dunkle Zeit der deutschen Geschichte als Vierteljude nie ganz ungefährdet durchleben können. Vor der Machtergreifung der nationalliberalen DVP angehörend, grenzen sich der Professor & seine Familie nach außen hin nicht gegen die Ideologie der Nationalsozialisten ab. Er arrangiert sich aus beruflichen Gründen mit dem Regime so, dass sich die Lebensverhältnisse der Familie nicht spürbar verändern. Für das Regime ist er insofern tätig, als er das Arbeitsrecht mit ihrer Ideologie in Übereinstimmung bringt. "Er war sicher kein Scharfmacher. Aber in seinen Texten von damals findet man etwa das Wort Arier durchaus", weiß sein Enkel Martin später zu berichten. Zu Juden hält man aber weiterhin Kontakt, versteckt auch zeitweilig die Mutter eines  Mitschülers im Haus. Mehr Widerstand ist allerdings nicht, höchstens das Bewusstsein, dass man "mit denen" nichts gemein habe.

Es ist ein ty­pisch bil­dungs­bür­ger­li­ches El­tern­haus, in dem Dorothee und ihre Geschwister aufwachsen, "von Fra­gen und Re­den und Re­flek­tie­ren ge­präg­t", wie der Bruder Thomas später berichten wird.  Der ein­sei­ti­ge Bil­dungs­ka­non geht zu Las­ten von Na­tur­wis­sen­schaf­ten, Tech­nik und des Sports. Wichtige Er­zie­hungs­ziele sind Spar­sam­keit und Be­schei­den­heit so­wie die Ver­ach­tung der Ver­schwen­dun­g. Die Kindheitserinnerungen Dorothees sind geprägt von Beethoven, Krieg und - Kirschbäumen! Letztere stehen für das Ende der  Kindheit:
"Wir waren in den Ferien immer in den Alpen. Eines Tages machte das der Krieg unmöglich. Da sah ich einen blühenden Kirschbaum und hatte Heimweh nach den Bergen und den Sternen. Es war ein Gefühl von Trauer und Sehnsucht. Nie mehr würde ich so einfach da sein wie vorher, das wusste ich."
Die unter diesen Umständen Heranwachsende flüchtet sie sich hinein in einen kleinen Kreis, die sogenannte "Jungmädchenvereinigung", welchem auch ihr Bruder Thomas angehört. Gemeinsam lesen sie Schiller und diskutieren über seine Werke. 1943 entsteht dieses Refugium, um sich von der Realität des Krieges abzuschirmen. Doch die Bombardierung Marienburgs und das Kriegsende zwingen letztendlich den Teenager, sich dem Thema Nationalsozialismus zu stellen.
"Den 8. Mai 1945 erlebte sie wie viele andere als nationale Katastrophe. Der Tag erschien zum einen als Befreiung, aber auch als Untergang Deutschlands. Da dachte meine Mutter wohl auch ein bisschen nationalistisch", berichtet später ihr Sohn Martin.
Nach dem Krieg entwickelt sie dann doch immer stärker ein Gespür für die "geistige(n) Katastrophe des Bürgertums, aus dem ich stamme", ja, sie wacht geradezu "schmerzhaft" auf, als sie die Zerrissenheit und das Elend der Welt begreift, aber auch, dass sie zum Volk der Täter gehört, nachdem sie Anne Franks Tagebuch gelesen hat. Dieses Wissen um die Verbrechen der NS-Zeit sowie der Halbherzigkeit der Kirchen wird sie ab da nicht mehr loslassen. Auf persönlicher Ebene muss sie mit ihrer Familie den Tod des 22jährigen Bruders Carl in der Gefangenschaft verarbeiten.

Die aufbegehrende Jugendliche der Nachkriegszeit stürzt sich in die Gedankenwelt der existentialistischen Philosophie und des Ni­hi­lis­mus, liest Fried­rich Nietz­sche, Mar­tin Hei­deg­ger und Jean-Paul Sart­re. In ihrer Lehrerin Marie Veit findet sie jemandem, an dem sie sich reiben kann, jemand, der sie intellektuell herausfordert. Die ist nur acht Jahre älter als ihre Schülerin, aber schon promovierte Theologin und kennt Heidegger und Sartre genauso gut wie ihre Herausforderin, verbindet deren philosophischen Anschauungen aber mit ihrem offenen, kritischen Christsein. Dorothee Sölle:
"Eine wunderbare Lehrerin, die mir nie mein rotzfreches Geschwätz verbat, mich aber zur Klärung nötigte. Heute denke ich, sie hat meinen Zorn respektiert und meine Arroganz belächelt, sie hat unsere Intelligenz herausgefordert, weil sie Menschen einfach zutraute, daß sie der Erfahrung und des Gewissens fähig sind."
Nach dem Abitur studiert Dorothee ab 1950 erst einmal in Köln Deutsch, Alte Sprachen und Philosophie. Doch dieses Studium stellt sie nicht zufrieden.

"Die Hinwendung zur Theologie hat die Eltern überrascht. Die Familie hat eigentlich einen höchstens minimalen theologischen Bezug", so Sohn Martin. 1951 geht sie deshalb nach Göttingen, später nach Freiburg, um Theologie zu studieren. Sie hadert allerdings mit einem Gott, "der da oben in aller Herrlichkeit thronen soll und solche Dinge in Auschwitz mitveranstaltet hat". Und: "Was mich eigentlich in die Theologie gebracht hat war Christus."... "Da gab es das Gesicht eines Menschen, eines zu Tode Gefolterten vor zweitausend Jahren, der nicht Nihilist geworden war." Ihr Verständnis von zeitgemäßer Theologie wird sie später als "atheistischen Glauben an Gott" beschreiben.

In Freiburg lernt Dorothee 1954 Dietrich Sölle,  einen sieben Jahre älteren Schreiner, jetzt Kunststudent, aus Altenfeld/Thüringen kennen, der die damalige sowjetische Besatzungszone verlassen hat. Es ntwickelt sich eine eher ungewöhnliche Beziehung zwischen zwei Menschen mit sehr unterschiedlichem sozialen Hintergrund. Die Beiden heiraten noch im gleichen Jahr.

1954 promoviert sie auch im Fach Literaturwissenschaften und macht ihr Staatsexamen in Theologie, um anschließend eine Stelle als Religions- und Deutschlehrerin am Genoveva-Gymnasium in Köln- Mülheim anzutreten. Ihr Mann wird ein paar Jahre später Kunsterzieher am Kölner Dreikönigsgymnasium.

Mit Sölle bekommt Dorothee drei Kinder: Martin 1956, im Jahr darauf Michaela und 1961 Caroline. Die Familie zieht in ein Reihenhaus am Pauliplatz in Braunsfeld. Doch nicht alle Grenzen zwischen den Lebenswelten der Ehepartner lassen sich in diesen Jahren niederreißen: Die Sölles trennen sich schließlich nach zehn Jahren. Nun alleinerziehende berufstätige Mutter erlebt Dorothee Sölle, was es in den 1960er Jahren bedeutet, die Grenzen der weiblichen Rolle zu überschreiten und nach einem eigenen Weg zu suchen. In dieser Krise entsteht 1965 ihr erstes theologisches Buch: "Stellvertretung. Ein Kapitel Theologie nach dem 'Tode Gottes'."
"Das Buch 'Stellvertretung' hatte innerhalb irgendeiner Karriere keinen Sinn. Es war vielmehr eine Selbstklärung für mich. .... Ich bin nicht unglücklich darüber, weil ich nun klarer sehe, wie tot der Gott ist.... Die Grundvorstellung ist: Gott handelt unmittelbar, auf wunderbare Weise, indem er mich oder dich rettet, und das hat nichts damit zu tun, wer wir sind."
1969
Geht man konform mit dem Zeitgeist jener Epoche, gilt Dorothee Sölle als gescheitert, gerade mal 36 Jahre alt. Doch sie eröffnet sich neue Perspektiven, schreibt für den Rundfunk & Zeitschriften, ist ab 1962 Assistentin an der TH Aachen, später wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Kölner Universität, wo sie sich 1971 an der Philosophischen Fakultät habilitieren wird.

1965 ist es auch, als sie auf dem Evangelischen Kirchentag in Köln eine beachtete Rede hält, in der sie so mit den damals vorherrschenden theologischen Vorstellungen aufräumt, dass sie bei den konservativen Kirchenleuten für einige Aufregung sorgt, zumal sie recht laut & frech ihre Thesen verbreitet, was man es einer Frau schon gar nicht zugesteht. Sie fordert ein politisches Christentum und erklärt einen Gott, an den die Gläubigen die Verantwortung für all ihr Tun delegieren können, für tot.

Bei einer Israelreise 1966 lernt Dorothee Sölle Fulbert Steffensky kennen, Benediktinermönch in Maria Laach. Fulbert sucht für sich eine Entscheidung, ob er angesichts neuer theologischer Vorstellungen & Herausforderungen im Kloster bleiben kann oder nicht. Die Frage scheint schnell beantwortet, als er Dorothee kennenlernt. 
Fulbert Steffensky, am 7. Juli 1933 im saarländisch-französischen Grenzgebiet geboren und aufgewachsen in der katholischen Welt des beschaulichen Örtchens Rehlingen an der Saar, kennt von kleinauf die Rituale und festen Gewohnheiten seines Glaubens. Aber es sind nicht nur religiöse Gründe, die ihn bewegen, mit 21 Jahren in das Benediktiner-Kloster Maria Laach in der Eifel einzutreten: Es ist die Wirtschaftswunderzeit, die einhergeht mit der Verdrängung der Verbrechen während der nationalsozialistischen Herrschaft, die ihn zum spirituellen Rückzug drängt. Es ist also ein gewollter Bruch und quasi ein 'erlaubtes Aussteigen aus der Gesellschaft', mit der er nicht einverstanden ist.
Eines der einschneidendsten Erlebnisse in der Biographie der Dorothee Sölle wird der Deutsche Katholikentag vom 4. bis 8. September 1968 in Essen, der unter dem Leitwort "Mitten in dieser Welt" steht, und auch eine Zäsur in der Geschichte des Katholizismus in der Bundesrepublik markiert ( das dringt bis in meine Bonner Nonnenschule vor, wird auch dort in entsprechenden Unterrichtsstunden und vor allem bei den Exerzitien im Kloster Walberberg thematisiert ). 

Katholikentag  in Essen
Source
Vor dem Hintergrund der Tet-Offensive während des Vietnam-Krieges sieht sich der "Ökumenische Arbeitskreis Köln", zu dem neben Dorothee auch Fulbert Steffensky, der spätere Nobelpreisträger Heinrich Böll und ihre ehemalige Lehrerin Marie Veit gehören, einen "politischen Gottesdienst" feiern. Das gestehen ihnen die Organisatoren um 23 Uhr in der Kirche St. Martin zu. Daraufhin nennen die Aktivisten und Aktivistinnen sich "Nachtbeter" und prägen den Begriff "Politisches Nachtgebet" für ihre Art des Gottesdienstes. 

Zu den Themen gehören sowohl der Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes in die damalige CSSR als auch der Vietnamkrieg ( man lehnt den sowjetischen Imperialismus ebenso ab wie den amerikanischen ) und die damit verbundene Verantwortung der Christen. In der Liturgie geht es "um politische Information, um ihre Konfrontation mit biblischen Texten, eine kurze Ansprache, Aufrufe zur Aktion und schließlich die Diskussion mit der Gemeinde".

Vorausgegangen ist diesem spektakulären Ereignis schon ein Schweigemarsch mit 2000 Menschen mit anschließendem Gottesdienst auf dem Kölner Neumarkt am Karfreitag 1968 - an prominenter Stelle das Plakat "Vietnam ist Golgatha". Ein Skandal und Medienereignis in diesem auch sonst an politischen Geschehnissen überreichen Jahr!

Nach dem Kirchentag sollen die Nachtgebete in Köln fortgesetzt werden. Die Jesuitenkirche St. Peter, bis heute ein Hort des Dialogs zwischen Kunst, Musik, Architektur und Religion, bietet sich dafür an. Der damalige Kölner Kardinal Frings ( ja der, auf den das "fringsen" nach dem Krieg zurückgeht  ) verbietet es aber, beneidet vom Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland (EKiR),  Joachim Beckmann, der das nicht kann, als das Presbyteriums der Evangelischen Gemeinde Köln, die "Nachtbeter" in die Antoniterkirche in der Kölner Einkaufszone lässt.

Beim "Politischen Nachtgebet" in der Antoniterkirche
"Beim ersten politischen Nachtgebet in Köln drängten sich 10.00 Menschen in die Antoniterkirche“, erinnert sich Stadtführer  Günter Leitner, der damals dabei gewesen ist. "Wir saßen auf dem Boden, überall brannten Kerzen, und alle hatten Angst, dass eine umfiel.“ 

Themen der politischen Nachtgebete sind die Militärdiktatur in Griechenland (Mai 1969), die wirtschaftliche Mitbestimmung (November 1970), der Paragraf 218 (Oktober 1971), die "Jesus People"-Bewegung (November 1971), die Baader-Meinhof-Gruppe (Juli 1972), die Bundestagswahl (September 1969 und November 1972), der Vietnamkrieg (Februar 1973) und der Putsch in Chile (Dezember 1973).

Dorothee Sölle gilt fortan in weiten Kreisen als linksradikal, und "Hinabgefahren zur Sölle" ist nicht die schlimmste Schmähung, die sie als streitbare Theologin zu hören bekommt. Ihre Theo­lo­gie der ra­di­ka­len Dies­sei­tig­keit - denn  das Wort Gottes ist  für sie nicht vom Leben zu trennen - verstört.  "Wie man nach Auschwitz den Gott loben soll, der alles so herrlich regieret, das weiß ich nicht", fragt sie. 

Für die Frommen ist sie also zu politisch, und für die Politischen ist sie zu fromm. Die Bischöfe sehen in ihr eine Kirchenzerstörerin, den Atheisten ist sie wiederum zu kirchlich. Ihre Bewunderer und Bewunderinnen stammen dann später eher aus den Reihen der Feministinnen und der Anhänger der Befreiungstheologie Lateinamerikas.

Das Feuer der politischen Nachtgebete lodert auch nicht ewig, so ihr Sohn: "Das hatte sich irgendwann überlebt."

Heirat (1969)
1969 beendet Fulbert Steffensky ohne Dispens der Kirche sein Mönchsdasein, tritt zum protestantischen Glauben über und er und Dorothee Sölle heiraten. Vorher hat er noch in einem Interview kund getan:  
"Es ist ja nicht wahr, dass katholische Priester nicht ,verheiratet’ sind. Viele sind mit tausend Dingen verheiratet, angefangen vom guten Essen und Trinken über viele andere Dinge bis hin zur Selbstbefriedigung, zur Freundin und zur Homosexualität." ( Quelle hier )
Als besonderes Hochzeitsgeschenk gibt es dafür vom nigelnagelneuen Kölner Kardinal Joseph Höffner eine Strafanzeige wegen Beleidigung. 

Mit ihrem zweiten Ehemann bekommt sie 1970 mit 41 Jahren noch ein viertes Kind, die Tochter Mirjam.

Trotz der fast gleichzeitig abgeschlossenen Habilitation bleibt der aufmüpfigen Denkerin eine akademische Laufbahn in Deutschland verwehrt. Erst im Jahr 1972 erteilt man ihr einen für ein Jahr befristeten Lehrauftrag in Mainz, wo sie  zum Thema "Theologie und ihre Grenzgebiete" referiert.  Eine anschließende Verlängerung wird verweigert, weil ihre Arbeit "zu teuer" sei. Nach Auseinandersetzungen einigt man sich dann, dass sie ein weiteres Semester ohne Bezahlung bleiben kann.

Beverly Harrison , Luise Schottroff
1975 wird ihr vom liberalen "Union Theological Seminary"in New York die Professur angeboten, die einst der angesehene Paul Tillich innegehabt hat. Die Aufenthalte in New York und die Begegnungen mit den Vereinigten Staaten beeinflussen Dorothee Sölle tief und verändern ihre  Ansichten.

Zehn Jahre lang wird sie ab da Sommer für Sommer nach New York ziehen. Im Winterhalbjahr lebt sie in Hamburg, wo ihr Mann ebenfalls seit 1975 als Professor für Religionspädagogik am Fachbereich Erziehungswissenschaft an der Universität Hamburg tätig ist.

Ihre Kollegin Beverly Harrison, Professorin für Sozialethik und einer der "Mütter der Feministischen Theologie", öffnet in New York weiter Dorothees Blick auf den Zusammenhang zwischen Theologie und Frausein, der in Mainz schon von Luise Schottroff angebahnt worden ist. Feminismus, erklärt Dorothee Sölle 1987 Susanne Mayer einmal, "habe für sie mit der Entschlossenheit zu tun, bestimmte Lügen der Männer einfach nicht mehr zu ertragen.... Frauen, glaubt sie, haben es einfacher als Männer, zu einem tieferen Verständnis von Humanität zu kommen." ( Quelle hier )

Schottroff, außerplanmäßige Professorin in Mainz, vom oben schon erwähnten rheinischen Präses Joachim Beckmann als antichristlich bezeichnet und vom damaligen Ministerpräsidenten Helmut Kohl massiv diskriminiert, hat sich schon früher mit ihren Beiträgen zur feministischen Befreiungstheologie einen Namen gemacht hat. Nun integriert auch Dorothee Sölle Feminismus und feministische Theologie in ihr Denken und Arbeiten und stellt entsprechende Fragen in das Zentrum ihrer Veröffentlichungen. Längst ist sie eine prominente Person geworden, als Grenzgängerin zwischen den wissenschaftlichen Disziplinen beliebt wie umstritten und als Gesprächspartnerin auch in den Medien begehrt.

Rastlos ist wohl der Begriff, mit dem das Leben der Dorothee Sölle in jenen Tagen am besten erfasst wird. Wechselnd zwischen den Kontinenten, mischt sie sich in beiden ein: In Vancouver fordert sie 1983 vor der Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen, dass sich christliche Kirchen weltweit für Frieden, Gerechtigkeit und die Bewahrung der Schöpfung einsetzen. Als skandalös wird hierzulande empfunden, dass sie sich ihren Zuhörern so vorstellt:
"Ich spre­che zu Ih­nen als ei­ne Frau, die aus ei­nem der reichs­ten Län­der der Welt kommt; ei­nem Land mit ei­ner blu­ti­gen, nach Gas stin­ken­den Ge­schich­te". Und: "Reich ist die Welt, in der ich lebe, vor allem an Tod und besseren Möglichkeiten zu töten.
Ihre Kritik an Politik, Gesellschaft & unserem Lebensstil wird als unerbittlich empfunden, maßlos und selbstgerecht sagen manch andere.

1983 demonstriert sie aber auch mit Hunderten von Menschen im schwäbischen Mutlangen gegen die Stationierung amerikanischer Mittelstreckenraketen, dabei ihr Freund Heinrich Böll, Inge und Walter Jens, Erhard Eppler, Dieter Hildebrandt und Petra Kelly ( siehe auch dieser Post ). Dorothee Sölle wird dabei festgenommen, ein zweites Mal im Zu­ge des Pro­tests ge­gen US-ame­ri­ka­ni­sche Gift­gasde­pots in Fisch­bach.

Doch die Friedensbewegung bricht sich weiter Bahn, und beim Kirchentag 1983 in Hannover tragen die Menschen die berühmten lila Tücher mit dem Slogan "Umkehr zum Leben. Die Zeit ist da für ein Nein ohne jedes Ja zu Massenvernichtungswaffen".

Ihre revolutionäre Ungeduld, die sie so sympathisch macht, wird zuweilen zu einer Unduldsamkeit, meint ihre Biographin Renate Wind, und das wirkliche Leben kommt den steilen Ansprüchen der Dorothee Sölle nicht wirklich hinterher. Dorothee fühlt sich immer wieder zerrissen "zwischen mystischer Selbstlosigkeit und elitärer Selbstverliebtheit".

Nach zehn Jahren in New York hat sie die Möglichkeiten und Grenzen der Freiheit ausgelotet und nimmt im Dezember 1985 Abschied von der Stadt. Im Winter 1987 ist sie für ein Semester Gastdozentin in Kassel, am ersten Lehrstuhl für feministische Theologie.

Ein weiteres Interesse der Dorothee Sölle gilt der la­tein­ame­ri­ka­ni­sche Be­frei­ungs­theo­lo­gie. Sie un­ter­nimmt Rei­sen nach Ni­ca­ra­gua - z. B. 1984 als Wahlbeobach­terin – und El Sal­va­dor und un­ter­stütz­t dort Ba­sis­ge­mein­den und Wi­der­stands­be­we­gun­gen. Die Be­frei­ungs­theo­lo­gie lenkt ihren Blick  wieder auf die Bi­bel, vor al­lem auf das Neu­e Tes­ta­ment, dem sie sich fort­an mit Lui­se Schot­t­roff wid­me­n, meh­re­re Bü­cher dazu veröffentlichen und auf Evan­ge­li­schen Kir­chen­ta­gen Bi­bel­ar­bei­ten und Dis­kus­sio­nen durch­führ­en wird.

36 Bücher werden es insgesamt in ihrem Leben werden, zu Themen und Thesen ihrer akademischen Arbeit wie "Lieben und arbeiten" (1985), "Politische Theologie" (Neuausgabe 1982). Dazu kommen Lyrikbände wie "Verrückt nach Licht" (1984) oder "Zivil und ungehorsam" (1990). 1982 hat sie sogar den Droste-Preis der Stadt Meersburg für Lyrik zusammen mit der tiefreligiösen Maria Menz verliehen bekommen.

Irgendwann wählt sie als Berufsbezeichnung "Schriftstellerin" statt "Theologin", versteht sich zwar noch als solche, insofern als sie über Gott und die Welt nachdenkt, aber ihr Geld verdient sie, ganz anders als ihre meisten Kollegen, nie bei der Kirche: "Ich war da nie angestellt, weder bei der Kirche noch als ordentliche Professorin an einer deutschen theologischen Fakultät." 1994 wird sie allerdings in Hamburg mit einer Ehrenprofessur gewürdigt.

In Rostock ( 1988)
Während die revolutionäre Bewegung in Nicaragua 1986 gescheitert ist, nimmt sie in den osteuropäischen Ländern und in der DDR Fahrt auf. Nach dem Mauerfall im November 1989 spricht sich Dorothee Sölle für eine langsamere Gangart bei der Wiedervereinigung aus, denn sie sieht das Hoffnungspotential in der Bürgerrechtsbewegung der DDR.

In ihrem letzten Lebensjahrzehnt widmet sich Dorothee verstärkt dem Thema Mystik: "Die Religion des dritten Jahrtausends wird mystisch sein oder absterben", heißt es bei ihr. Es entsteht ihr Alterswerk "Mystik und Widerstand". Darin gelingt ihr die Synthese ihrer Lebensthemen - die Liebe zu Gott und das unermüdliche Eintreten für eine gerechte Welt, in der es genug für alle gibt und in der alles mit allem verbunden ist. Diese Jahre sind auch geprägt von Zusammenbruch und langer Diabetes - Erkrankung sowie einem Herzinfarkt, von dem sie sich aber wieder erholen kann.

Bei einem ökumenischen Abendmahl am Rande des 94. Deutschen Katholikentags im Jahr 2000 in Hamburg hält sie eine umstrittene Predigt, in der sie die Kirchentrennungen des 16. Jahrhunderts für unsere heutige Zeit in Frage stellt. Die Christen sehnten sich zunehmend nach sinnlich wahrnehmbaren Zeichen ihres Glaubens. Die konfessionellen Unterschiede interessierten nur noch wenige Gläubige, so ihre Thesen. 

1997
"Gott und das Glück" lautet das Thema einer Tagung, die die Evangelische Akademie in Bad Boll vom 25. - 27. April 2003 veranstaltet. Als Referenten sind Dorothee Sölle und ihr Mann Fulbert Steffensky geladen, die zuletzt immer wieder gerne ihre diversen Sichtweisen auf Gott & die Welt auch öffentlich ausgetragen haben. Aber eigentlich soll sie sich noch schonen. Am Vorabend des 27. April sagt sie:
"Ich wünsche mir wirklich von ganzem Herzen, daß diese Erde bleibt... daß diese Schöpfung bestehen bleibt. Ob ich als Person, also mit Visitenkarte oder Enkelkindern, da vorkomme, ist mir nicht zentral. Gott ist... Der Fluch ist das Töten, nicht das Sterben.
Danach sitzt sie mit Freunden bei Wein & Zigarrillos. Am nächsten Tag erliegt sie im Beisein ihres Mannes völlig unerwartet den Folgen eines Herzanfalls. Sie ist 73 Jahre alt. Begraben wird sie auf dem Nienstedtener Friedhof in Hamburg, nah an der schönen Dorfkirche, unweit der Elbe. Bei ihrer Beerdigung singt man zum Schluss "Geh aus mein Herz"...
"Ich finde die Unsterblichkeitshoffnung problematisch. Ich glaube ja an das ewige Leben. Es geht weiter. Ich bin dann ein Tropfen in diesem Meer. Mein Glück hat immer mit Ichlosigkeit zu tun. Das Ego irgendwann ganz loszulassen - weil diese Schöpfung gut ist", hat sie einmal in einem Zeitungsinterview bekannt.

Ihr Leben lang hat Dorothee die Politik in den Glauben und den Glauben in die Politik getragen und ist damit die bekannteste und meistgelesene Theologin ihrer Zeit geworden. Sie hat ihre besondere Begabung, in der Begegnung mit Menschen, der Schönheit der Natur oder Literatur den tieferen Sinn des Lebens und das Wirken des Schöpfers zu sehen, genutzt, um ihre Erkenntnisse auf das alltäglich gelebte Leben anzuwenden. Christliche Lebensführung, politisches Engagement und Theologie sind für sie untrennbar verbunden. Diesen Weg ist sie unbeirrbar,  wie selten eine, gegangen.





11 Kommentare:

  1. Welch schöne Begegnung heute morgen bei Dir mit Dorothee Sölle.
    Viele Jahre hat sie mich und mein Leben begleitet mit ihrem neuen und radikalen Denken, das mir so Vieles erklärt hat, was ich sonst nicht begreifen konnte als junge Frau und als Frau überhaupt.
    Lange habe ich nicht mehr an sie gedacht. Gut, dass ich ihr heute wieder begegnet bin.
    Danke für dieses großartige Portrait sagt Sieglinde.

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  2. danke für diese erinnerung- wann gibt es diese frauenportraits als buch? gerne erinnere ich mich an das politische nachgebet, in der eifel der siebziger jahre war es sehr anders und befreiend für uns.

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  3. Liebe Astrid,
    "Ich wünsche mir wirklich von ganzem Herzen, daß diese Erde bleibt... daß diese Schöpfung bestehen bleibt." - mit diesem Satz kann ich viel anfangen, dieser Wunsch ist auch meiner. Ansonsten geht es mir mein ganzes Leben lang schon so wie dir nach dem Abitur - für religiöse Themen habe ich kein Ohr oder kann damit einfach nichts anfangen. Meine Welt ist weit weg von jeder Form von Religion, ich habe nie verstanden, wofür sie gut sein soll und habe Glauben für mich nie vermisst - was keineswegs bedeutet, dass ich Angehörige dieser oder jener Religion verachte. Er ist nur einfach nichts für mich und deshalb kann ich auch nicht nachvollziehen, weshalb man seine Energie und Intelligenz in einen "religiösen Kampf" steckt, überhaupt wenn Religion keineswegs das Thema war, mit dem man von Kindheit an so sehr verwurzelt ist, das man sie einfach schon "in sich drinhat" ...
    Die lila Tücher bringen mich aber immerhin zu deinem neuen Shirt :-) - freut mich, dass ich dich mit meinem letzten Outfit inspirieren konnte - und vielleicht zeigst du im Zuge der Blogparade ja dein Shirt samt Kette? Würde mich freuen!
    Ganz herzliche Rostrosengrüße im Oktober
    Traude
    https://rostrose.blogspot.com/2020/09/blogparade-violett-und-orange-in-den.html

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  4. Was für eine kämpferische, geradlinige Frau, die sich auch durch alle Seitenhiebe nicht hat abbringen lassen von ihrem Weg. Ich selbst kann nach meinen eigenen Erfahrungen mit Kirche dieser nichts abgewinnen, angefangen vom ersten Schwiegervater, der mich nur mit seinem zukünftigen Theologensohn trauen wollte, wennn ich das "Kind da in meinem Bauch beseitige" über seinen total versagenden Sohn, der mich mit krankem Kleinstkind allein vor dem Staatsexamen ließ "Weil er schließlich noch etwas vom Leben haben wollte...und nun das 5. mal verheiratet ist) , bis hin zum freundlichen Landesbischof in Eisenach, der viel versprach, nichts hielt und 5 Jahre später als IM enttarnt wurde.Nein, Kirche, ist für mich erledigt. Das hat nicht mit Glauben oder an etwas glauben zu tun. Danke für das aufrüttelnde Portrait! Sunni

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  5. Auf diese Great-Women-Donnerstage freue ich mich jedes Mal aufs Neue!
    Liebe Grüße
    Andrea

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  6. von Helga:

    Liebe Astrid,

    schön daß ich wieder lesen durfte. Der Donnerstag ist Womens Tag.
    Danke für das tolle Porträt einer wiedermal sehr starken Frau. Mehr kann ich dazu nicht sagen, denn Sunni und Rostrose haben genau auch meine Worte gefunden.

    Wochenend/Feiertagsgrüße zu Dir von Helga

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  7. wieder mit Genuss gelesen
    aber auch wieder völlig unbekannt ;)
    der Schlußabsatz besagt eigentlich alles
    und gefällt mir sehr gut

    liebe Grüße
    Rosi

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  8. Vielen Dank. Auch diese Frau war mir gänzlich unbekannt. Danke für das Erinnern und Bekanntmachen der Frauen. Ich lese diecPosts so gerne. Einen schönen Feiertag wünsche ich.

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  9. oh ja, sie war eine sehr spannende frau voller kluger gedanken und taten - auch für die, die nichts mit der kirche am hut hatten.
    bei deinem beitrag sind mal wieder einige erinnungen hochgekommen. wir haben damals viele diskussionen über kirche und gesellschaft mit freunden, die eher kirchlich orientier waren, geführt. besonders schön daran ist, dass wir alle heute noch eng befreundet sind!
    liebe grüße
    mano

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  10. Frau Sölle, das ist die bewunderte Theologin meiner Eltern. Sölle, Bultmann, Barth... alles so schwere Kost. Und wir Kinder wunderten uns, worüber die Älteren so stundenlang diskutieren konnten. Heute ist sie mir näher. Vielen Dank für die Erinnerung, liebe Grüsse nach Köln.

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  11. Heute, am Abend des 20. Todestages von Dorothee Sölle, war ich auf der Suche nach einem Text, der ihr Verhältnis zu ihrem Vater Hans Carl Nipperdey einmal stärker in den Blick genommen hat. Er hat - das war mir nicht bewusst - das deutsche Arbeitsrecht nachhaltig und wenn es um das Streikrecht geht, offenbar nicht nur positiv geprägt; vgl das DLF-Feature vom 25.4.23 Aus der Dlf Audiothek | Das Feature | Das paternalistische Arbeitsrecht des Hans Carl Nipperdey – Den Unternehmern treu ergeben
    https://share.deutschlandradio.de/dlf-audiothek-audio-teilen.html?audio_id=dira_DLF_7d210278
    Indirekt hat Ihr Porträt mir auch noch einmal eine Antwort auf meine Frage gegeben. Vielen Dank dafür!
    U. W.-O.

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Danke, dass du dir für ein paar liebe Worte Zeit nimmst!

Ich wünsche mir allerdings nach wie vor, dass ein Name am Ende des Kommentars steht.
Da die anonymen namenlosen Kommentare zuletzt wieder zugenommen haben, hier der ausdrückliche Hinweis:

Ich werde sie ab jetzt wieder konsequent NICHT freischalten.

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