Mittwoch, 17. Juni 2020

Leben zu Zeiten von Corona - Vierteljahres-Update

"Was schulden wir uns als Menschen?-

Respekt vor allem. 
Und weniger Urteile: 
Für mich ist das Leben ohnehin so hart und einsam, 
dass ich jedem, der da durchkommt, 
erst mal gratuliere. 
Ich will ihn nicht verurteilen. 
Er wird versagen, wie ich versagen werde,
er wird Schlechtes tun, 
wie ich es getan habe und tun werde."
Leïla Slimani, Schriftstellerin


Ich habe länger hin und her überlegt, ob ich auf unsere Erlebnisse während der Coronakrise hier im Blog noch mal eingehen soll, nachdem ich ein paar - nennen wir es mal freundlicherweise so - komische Reaktionen erhalten habe, die so gar nicht auf meine persönliche Darstellung bzw. Lage eingingen und mich mit Sachverhalten konfrontiert haben, mit denen ich mich eigentlich gar nicht beschäftigt hatte und die in meinem dargestellten Alltag auch gar keine Rolle spielten.



Aber da dieses Blog unter anderem für mich auch die Funktion eines Tagebuches hat ( ja, ich lese immer wieder alte Beiträge ), habe ich mich für den Post entschieden und ansonsten meine Blogroll verändert bzw. mich umorientiert, bei wem ich noch mitlese.

Nach nun einem ganzen Vierteljahr in häuslicher Zurückgezogenheit - wir haben unsere Haustüre sozusagen am 16. März geschlossen - sind wir dabei, diese Selbstbeschränkung zu lockern und auch wieder andere ins Haus zu lassen. Aber davon später.

Ich selbst verspüre noch keinerlei Überdruss und Ungeduld, keine Einschränkung in meinen Möglichkeiten der Selbstverwirklichung. Im Gegenteil: Ich genieße die Ruhe und Entschleunigung aufgrund von dezimierten Terminen und dem Fehlen von jeglicher Angst, draußen etwas zu verpassen. Mir fehlt nicht die Bestätigung durch andere, und die Schwätzchen an der Haustür oder dem Küchenfenster reichen mir neben den intensiveren digitalen familiären & freundschaftlichen Kontakten völlig. Ich gehe das Thema nach wie vor rational an und bin kein Opfer des Präventionsparadoxon. Auch die Gründe für meine Entscheidung vor drei Monaten finde ich immer noch für uns stimmig:


Nachdem ich in den vergangenen acht Jahren fünf sehr nahestehende Menschen habe sterben sehen, hatte ich genug Erfahrung, wie ein guter Abgang aus dem Leben zu sein hat, für den Betroffenen, aber noch mehr für die Zurückbleibenden. Denn wenn das in menschenwürdiger Form geschieht, lässt sich der Verlust hinterher besser verarbeiten und akzeptieren. All das schien mir unter den coronabedingten Vorgaben in unseren Krankenhäusern nicht mehr gewährleistet zu sein. Deshalb die Entscheidung für einen privaten "Lockdown", meinem Lebensmenschen zuliebe, aber auch mir, denn ich hätte mir nie verzeihen können, ihn unter solchen Umständen aus dem Leben gehen zu lassen.

Auch mein Gefährte hat das so gesehen. Aber bei ihm haben die neuen Umstände letztlich nicht zu einer Beruhigung, sondern zu einer großen Beunruhigung geführt, ja zu einer Krise.

Mein Mann hat seit zwölf Jahren mit der Diagnose "Morbus Parkinson" zu leben. Das lief recht zufriedenstellend bei entsprechender medikamentöser Einstellung und physiotherapeutischer Betreuung - abgesehen von einer Krise vor bald drei Jahren, bedingt durch eine unvollständige Analyse einer Altersdiabetes zusammen mit einer unsachgemäßen Therapie derselben mit erheblichen Auswirkungen in puncto Gewichts- & Muskelabbau. Nach sieben Wochen in Selbstbeschränkung auf die eigenen vier Wände lief es dann aber auf einmal gar nicht mehr...

Der Bewegungsmangel durch die weitgehende Begrenzung auf den häuslichen Rahmen -  zwei Mal wöchentliche halbstündige Physiotherapie und der Weg zu Fuß dorthin konnten durch die Arbeit im Garten & Haus nicht adäquat ersetzt werden -, die Erkenntnis, dass man bestimmte schwere Gartentätigkeiten einfach nicht mehr ausführen kann, das Gefühl, dadurch zu gar nichts mehr nutze zu sein, bei der Arbeit entstandene Rückenbeschwerden und eine langanhaltende Reizung des Ischiasnerves, ein drohender Besuch in der orthopädischen Ambulanz und das Gerede über die Alten, die sowieso in ein paar Monaten sterben würden - das alles und die - siehe oben - justament  zu diesem Zeitpunkt in unsere Wahrnehmung gespülten Verschwörungsfantasien, derer wir uns durch Auseinandersetzung mittels nüchterner Herangehensweise zu erwehren versuchten, führten zu einer seelisch wie körperlichen Ausnahmesituation.

Ich reagiere auf so etwas erst einmal mit vermehrter Aktivität. Also wurde physiotherapeutische Betreuung für zu Hause mobilisiert, ein Rollator angeschafft, gemeinsame körperliche Übungen angesetzt und absolviert. Aber als ich zu hören bekam: "Was soll das Ganze, mich will man doch sowieso am liebsten los werden, warum soll ich da noch mit dem Rollator gehen lernen? Das lohnt doch die ganze Mühe nicht mehr". Da war mir klar, dass der Gefährte seine Mitte in jeglicher Hinsicht verloren hatte...

Es dauerte, bis in Gesprächen herauskam, was ihn dazu gebracht hatte. Das Gerede davon, dass es von Vorteil sei, wenn "unverhältnismäßig viele ältere Angehörige durch Corona aus dem System gestoßen würden", wie es unter anderem der Chefberater von Englands Premier, Dominic Cummings ( ja, der, der sich nicht wie alle anderen an die Ausgangsregeln halten musste ) schon sehr unverblümt im März kundgetan hatte, saß im Kopf fest. Die vielen Toten, gerade unter den Alten in Großbritannien und Schweden*, die auch unter dem Aspekt der Entlastung der Rentenkassen gesehen wurden ( das hält selbst der Schwiegersohn in der Versicherungsbranche für keine unmögliche Überlegung ), taten ihr Übriges, um sich selbst als Last für die Gemeinschaft zu empfinden. "Ich habe Ängste, dass jemand beschließt, dass ich unter die Erde gehöre", so sein Empfinden.

Das kriegt man nicht durch ein paar Telefonate mit der Pflegekasse/-beratung oder diversen medizinischen Praxen gelöst. Und die stetig wachsende Unbesorgtheit der meisten Menschen außerhalb unseres Hauses kann ich nicht wegdiskutieren, gegen sie nicht anlieben. Der Physiotherapeut, inzwischen auch ich, üben nun mit dem Gefährten, auf öffentlichen Wegen zu gehen, ohne durch die Anwesenheit anderer jedes Mal im Gang verunsichert zu werden. Es braucht viel Geduld und Zuversicht und die Würdigung kleinster Erfolge. Ich will nicht verhehlen, dass ich das alles nicht immer habe.

Der Wunsch, alles wissen & verstehen zu können, auch die abstrusesten Ideen mancher Mitmenschen, hat uns mit in die Krise geführt. Gerade, weil es in dieser Krankheit keine abgeschlossene Informationslage gibt, sie dynamisch ist und unsere Erkenntnisse ebenso, führt die Ausdeutung der Gesamtheit oft zu falschen Schlüssen. Deshalb liest mein Mann nur noch die örtliche Tageszeitung, und ich teile ihm nur noch ausgewählte Funde im Netz mit. Was da an alternativen Informationen angeboten wird, zielt mir zu oft nur auf Angstmacherei ab, genau die, die den Verantwortlichen im Land in ihrem Umgang mit der Pandemie so heftig unterstellt wird. Was da inszeniert wird, dient dazu eine Dramatik zu erschaffen, die niemandem beim Bewältigen des Alltags etwas bringt, dafür aber viel der Selbst - Beweihräucherung der Person, die da so auf die Pauke haut. Also weg damit!

Inzwischen lassen wir auch wieder Besucher ins Haus: Familie, vereinzelte Freunde, den Physiotherapeuten, die Gärtner, deren Arbeit den Druck auf meinen Mann minimiert hat. Die meisten konnten im Garten empfangen werden und haben hinterher immer ein aufgehelltes Gemüt hinterlassen.

Wir sind mittlerweile auf einem akzeptablen Wege und leben wieder etwas entspannter in den Tag hinein und freuen uns daran, dass wir uns haben. Auf die in diesem Post geschilderten Erfahrungen hätten wir gerne verzichten mögen. Nur: In dieser privaten wie gesamtgesellschaftlichen Krise wusste so keiner wirklich, wohin die Reise geht. Und Schlaumeiereien wie "Das hätte ich dir gleich sagen können!" sind wohlfeil zu haben und einfach billig. Das Zitat habe ich nicht unbesonnen an den Anfang des Posts gestellt...







Schweden hat eine Überlastung und eine Triage wie in Bergamo oder New York vermieden, weil sie alte Menschen einfach nicht versorgt haben. Zwei Drittel aller ihrer Toten sind über 80 – auf der Intensivstation waren allerdings nur fünf Prozent. Das kann man den Infos dem Schwedischen Intensivregister entnehmen. Die alten Menschen wären nicht "ohnehin" irgendwann gestorben. Dem widerspricht die Übersterblichkeit in den Altersheimen, die doppelt so hoch ist wie in allen Jahren zuvor.