Donnerstag, 1. November 2018

Great Women # 159: Sophie Lissitzky-Küppers

Was mich immer wieder fasziniert sind die Geschichten von Menschen, die in jenen unseligen Zeiten deutscher Geschichte ihr Heil nicht im Westen, sondern in der Sowjetunion gesucht haben. Zwei Frauen habe ich hier in dieser Rubrik schon vorgestellt - Carola Neher und Zenzl Mühsam. Heute folgt das Porträt einer dritten Frau, die ihrem russischen Ehemann gefolgt ist und die eine wichtige Rolle in der Kunstszene dort wie zuvor in Hannover gespielt hat.

Sophie Lissitzky- Küppers kommt am 1. November 1891, also heute vor 127 Jahren, als Eleanor Marie Sophie Schneider in Kiel zur Welt. 

Ihre Eltern sind Mathilde Parcus, Tochter eines Münchner Druckereibesitzers, und Christian Schneider, letzterer Schiffsarzt bei der Marine in Kiel, aber ursprünglich auch aus München stammend, jüngster Sohn aus der Verlegersfamilie der "Fliegenden Blätter" u.a.. Zu Beginn des Jahres 1891 haben der elf Jahre ältere, als Marineangehöriger weit gereiste Christian und die gut ausgebildete, sprachlich versierte höhere Tochter eines überzeugten Katholiken geheiratet.

Sophie ist ihr erstes Kind, eine Schwester, Tilly, wird ihr folgen, ebenso zwei Brüder, Julius (1898) und Hermann (1903). Als Angehöriger der preußischen Marine hat der Vater vor der Eheschließung unterschreiben müssen, dass die zu erwartenden Kinder protestantisch getauft werden, und von der Verlegergroßfamilie ist erwartet worden, dass ein männlicher Erbe für den Verlag zur Welt kommt, denn alle Brüder des Vaters sind kinderlos.
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Sophie scheint zwischen zwei Polen, verkörpert durch Vater und Mutter, aufzuwachsen: Der von ihr sehr geliebte Vater erwartet von ihr, kompromisslos all ihre Pflichten nachzukommen, während die Mutter eine Verfechterin der absoluten Kompromissbereitschaft ist: "So bin ich zwischen zwei Feuern groß geworden und habe mich oft an ihnen verbrannt."

Als Sophie neun Jahre alt ist, zieht die Familie wieder nach München. Der gesundheitlich immer stärker angeschlagene und zudem morphinsüchtige Schiffsarzt hat seinen Abschied von der Marine nehmen müssen. Als Rettung erweist sich das Angebot seines ältesten Bruder Julius, Erbe des Verlages, der einst reich geworden ist durch Wilhelm Buschs "Max und Moritz", ihn als Leibarzt zu betreuen. Als Gegenleistung winkt das Erbe seines Vermögens nach seinem Tod.

Doch irgendwie scheint der Ehe bzw. dem Familienleben dieser Wechsel auf Dauer nicht gut zu bekommen. Die junge Sophie verbringt viel Zeit bei einer Tante, die neben der Pinakothek wohnt und sie zu ihren Besuchen im Kunstverein mitnimmt - die Kunst beginnt so, Hauptinhalt ihres Lebens zu werden.

Der Wunsch, Kunstgeschichte zu studieren, liegt da auf der Hand. Doch die Mutter würde das am liebsten verhindern, während der Vater seine Älteste darin unterstützt. Und so kann Sophie sich 1909 an der Münchner Universität einschreiben, zu einem Zeitpunkt, als erst 1432 Studentinnen an deutschen Universitäten zugelassen sind.

Während ihres Kunststudiums lernt Sophie den lebenslustigen Paul Erich Küppers, Sohn eines Essener Bergwerksbesitzers, kennen. Haltung statt Emotionen - das ist das Wichtigste in ihrer Sozialisation gewesen. Nun erfährt die eigentlich temperamentvolle Sophie eine ganz andere Einstellung zum Leben und eine Neugier auf alle neuen Strömungen in der Kunst.

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1913 verlobt man sich heimlich. Die Verlegerssippe ist nicht begeistert, als sie davon erfährt, denn in der Zwischenzeit ist der Bergwerksbesitzer bankrott gegangen, und der junge Mann an Tuberkulose erkrankt. Doch Sophies inzwischen todkranker Vater - "Du wirst doch einen kranken Menschen nicht im Stich lassen" - findet einen Weg, die bösen Stimmen zu befrieden.

Er stirbt noch, bevor Sophie und Paul Erich Küppers am 7. September 1916 in München heiraten. Dann entweicht Sophie der Bevormundung  durch die Familie in Richtung Hannover.

Drei Monate zuvor hat Paul Küppers mitten im Krieg und in Zeiten arger Stagnation mit Albert Brinckmann dort die Kestnergesellschaft gegründet, als Reaktion auf die vom Stadtdirektor verhinderten Ausstellungsmöglichkeiten für zeitgenössische Kunst. Bei dem endete nämlich die Kunstgeschichte bei den deutschen Impressionisten Liebermann, Corinth und Slevogt, alle anderen, wie die Maler der "Brücke" oder des "Blauen Reiters", z.B. Rohlfs oder Nolde, müssen "draußen bleiben".

Paul Küppers übernimmt die künstlerische Leitung des Kunstvereins, und schnell wird das junge Paar trotz Hungerwinters Mittelpunkt der Kunstszene Hannovers und Gastgeber für Geselligkeiten, bei denen bald der "Lumpensammler"& Bürgerschreck, ein Sohn der Stadt namens Kurt Schwitters die wichtigste Rolle spielen wird. Sophie ist fasziniert von ihm und freundet sich mit Hannovers "Enfant terrible" an. Schwitters beteiligt sich 1917 dann auch an der "Ausstellung Hannoverscher Künstler. VII. Sonderausstellung" in der Kestnergesellschaft. Der mit privaten Mitteln gegründete Kunstverein entwickelt sich mehr und mehr zu einem Zentrum der Avantgarde. 1917 bringt Sophie auch ihren ersten Sohn, Kurt, zur Welt, 1920 folgt Hans.

Sophie verfügt neben Fachwissen über einen untrügliches Gespür für gute Kunst und Künstlerpersönlichkeiten mit Substanz. Sie handelt mit Kunstwerken und leistet Überzeugungsarbeit bei Sammlern und Mäzenen in der Stadt, darunter Fabrikanten wie Bahlsen, Sprengel und Beindorff ( "Pelikan" ), der Bankier Oppenheimer und weitere Stützen der Hannoveraner Gesellschaft.  "Es war die glücklichste Zeit meines Lebens", urteilt sie später.

1919 ermöglicht das Erbe von Onkel Julius dem Ehepaar in eine große, repräsentative Wohnung zu ziehen und erstmals selbst in größerem Stil Kunst zu kaufen: Es ist Kandinskys Meisterwerk von 1910 "Improvisation Nr.10", welches Sophie für 3000 Mark in der Berliner Galerie "Der Sturm" erwirbt ( niemand ahnt damals, dass dieses Bild einmal für zweistellige Millionenbeträge gehandelt werden wird, das heute nach einem Vergleich mit den Erben Sophies in der Fondation Beyeler verblieben ist ).

Salon des Ehepaares Küppers
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Nach und nach folgen Werke von Emil Nolde, Paula Modersohn - Becker, Ernst Ludwig Kirchner, Karl Schmidt - Rottluff, George Grosz, Marc Chagall, Oskar Kokoschka und vor allem vom besonders geschätzten Paul Klee. Im "Salon" der Küppers finden Dichterlesungen, Konzerte, Vorträge statt, die zum Stadtgespräch in der niedersächsischen Metropole werden.

Das intensive, oft rauschhafte Leben ist zu Ende, als Paul Küppers kurz nach der Jahreswende 1922 an der Spanischen Grippe stirbt. Sophie, 30 Jahre alt und Mutter zweier kleiner Kinder, gerät zwar erst einmal nicht in allzugroße materielle Not, eher in eine psychische, aber die Arbeit ihres Mannes in der Kestnergesellschaft kann sie nicht fortsetzen, obwohl fachlich qualifiziert genug: Ihre Stellung als Hausfrau und Mutter mache das unmöglich, wird ihr erklärt. Man ermöglicht ihr aber, in Räumen der Gesellschaft von ihr vertretene Künstler auszustellen.

Doch dann lässt die Inflation ihr Erbe wie das Finanzpolster der Kestnergesellschaft weiter schrumpfen. Sie versucht trotzdem junge Künstler, von deren Werken sie überzeugt ist, nach wie vor zu unterstützen, was ihr den Titel "la mère des bolcheviks"beschert.

El Lissitzky (links) und Kurt Schwitters (rechts)


Im Oktober 1922 präsentiert der Freund Schwitters Sophie Kunstwerke des russischen Multiartisten und Mitbegründer des Konstruktivismus Lasar Markovich Lisitskii, genannt "El" Lissitzky, der sein Gast in Hannover ist. Sophie ist fasziniert und erwirbt ein Aquarell. Später, am gleichen Abend lernt sie den Künstler leibhaftig kennen, den sie sofort wegen seiner Herkunft interessant findet. Schon bald stellt sie für ihn den Kontakt zu Kestnergesellschaft für eine Ausstellung her. Lissitzky wird auch beauftragt, die erste Jahresgabe für die Mitglieder  des Vereins in Form einer Mappe mit Lithografien zu erstellen, bevor er wieder nach Berlin in seine russische Kolonie zurückkehrt.
El Lissitzky ist 1890 in einem kleinen Dorf im Gouvernement Smolensk in einer jüdischen Familie zur Welt gekommen. Der Vater ist bald nach der Geburt des Jungen nach Amerika ausgewandert, doch seine Frau verweigert den Nachzug, und so wächst der Junge im Schtetl von Witebsk in Armut auf, profitiert aber von der Bildung seines Vaters. 1909 wird El Lissitzky als Jude der Zugang zur Kunsthochschule von Sankt Petersburg verwehrt, weshalb er bis 1914 Architektur und Ingenieurwissenschaften an der Technischen Hochschule Darmstadt studiert, ein Studium, welches er - kriegsbedingt - 1915 mit dem Diplom in Moskau abschließen muss. Ab 1919 lehrt er an der Kunsthochschule von Witebsk, 1920-21 leitet er die Architekturabteilung der staatlichen Kunsthochschule in Moskau. 1922 ist er an der Ersten Russischen Kunstausstellung in Berlin beteiligt, die damals eine Sensation ist.
Sophie, die für die Kestnergesellschaft öfter nach Berlin reist, trifft den Künstler dort wieder und lernt seinen Künstlerkreis kennen, die den von Sophie so geschätzten deutschen Expressionismus argumentativ zerpflücken und sich einer neuen Sachlichkeit bzw. dem Konstruktivismus verpflichtet fühlen. Während seiner Aufenthalte in Hannover hält sich Lissitzky gerne bei Sophie und ihren kleinen Söhnen auf. In kleineren Kunstwerken spiegelt sich seine Zuneigung gegenüber der jungen Witwe.

Lissitzky: "Die Brüder" ( Kurt & Hans Küppers 1929 )
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Doch bald muss der an Tuberkulose erkrankte Lissitzky in die Schweiz, um diese in einem Sanatorium in Locarno zu behandeln. Sophie & die Hannoveraner Kunstfreunde sorgen dafür, dass er finanziell überhaupt dazu in der Lage ist. Da gelten die Beiden schon als Paar, bleiben aber beim förmlichen "Sie".

Ein Jahr lang halten sie Kontakt über Briefe, von denen nur noch die Lissitzkys erhalten sind.

Im Sommer 1924 ermöglichen die Freunde auch Sophie, der es immer schwerer wird, durch Kunsthandel den Lebensunterhalt zu verdienen, einen Aufenthalt mit ihren Kindern im Tessin. Im späten Herbst spitzt sich Lissitzkys Zustand zu, den die Schweizer Behörden wollen den mittellosen Ausländer los werden, worauf dieser einen heftigen Rückfall erleidet. Er beklagt sich über seine Unterstützer ( u.a. die Firma "Pelikan" und der Künstler Jean Arp ), fühlt sich "ausgesagt" und erwartet von der "lieben Madame Gottes", dass sie - trotz eigener Nöte - stark bleiben muss für "die armen Leute ohne deine Fürsorge". Im Februar 1925 will Sophie den kranken Künstler aus "seinem feuchten Loch" in Brione herausholen, als er von der Schweizer Polizei des Diebstahls bezichtigt und endgültig ausgewiesen werden soll. Weil zeitgleich seine Eltern ihn nach Moskau zurückrufen - die Schwester hat Suizid begangen - reist Lissitzky dorthin, und Sophie kehrt alleine nach Hannover zurück.

In Hannover ist sie zunehmend Opfer der aufkommenden rechten Hetze, sie wird als Jüdin denunziert, muss eine von ihr organisierte Ausstellung in Pyrmont abbrechen und leidet mit dem der Kestnergesellschaft verbundenen Philosophen & Schriftsteller Theodor Lessing, der antisemitischen Bedrohungen ausgesetzt ist aufgrund seiner Enthüllungen über den Serienmörder Haarmann und seiner Charakterstudie zum späteren Reichskanzler Paul von Hindenburg.

"Kabinett der Abstrakten" (1927)
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Im Herbst 1925 kann sie aus Anlass einer projektierten Ausstellung den Freund in Dresden treffen, bevor der wieder nach Moskau heimkehrt, begeistert und voller Zuversicht, was die dortige Entwicklung anbelangt. Nachdem die Dresdener Ausstellung ein Erfolg ist, organisiert Sophie die bemerkenswerte Werkschau  des Künstlers in der Galerie von Hans Goltz in München 1926, zu der El Lissitzky wieder anreist.

Nachdem Lissitzky für das Sprengel Museum in Hannover den Präsentationsraum "Kabinett der Abstrakten" gestaltet hat, beschließt das Paar zu heiraten und  zusammen nach Moskau zu übersiedeln - Kommentar des Bruders Julius: "Willst du etwa mit diesem Juden ein Judenkind in die Welt setzen?" Die Mutter droht mit Enterbung.

Die beiden Söhne aus erster Ehe sollen erst einmal in einem fortschrittlichen Landerziehungsheim in Thüringen bleiben, bis sich Sophie eingelebt hat. Ihre unvergleichliche Kunstsammlung verkauft Sophie teilweise, sechzehn Werke übergibt sie Alexander Dorner, dem legendären Leiter des hannoverschen Provinzialmuseums (dem heutigen Landesmuseum) als Leihgaben zur Aufbewahrung. Dann reist sie ab, zuerst nach Witebsk zu  den Eltern Lissitzkys, dann nach Moskau, wo sie gemeinsam in einer "Kommunalka" unterkommen.

Nüchtern und lapidar erlebt sie ihre zweite Eheschließung, genießt aber die märchenhafte Schönheit, die vom winterlichen Moskau ausgeht. Ihre deutsche Staatsangehörigkeit verliert sie durch diesen Akt, eine sowjetische erhält Sophie durch Beziehungen ihres Mannes relativ schnell, allerdings mit dem Vermerk:  "Nationalität: Deutsche". Das wird Auswirkungen auf ihr weiteres Schicksal haben, so, wie auf unzählige andere Menschen ausländischer Herkunft im Sowjetreich...

"Russischer Raum" (1929)
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Sophie lebt ein Leben getragen vom Enthusiasmus ihres Mannes, der sich wieder vor allem als Architekt versteht und wichtige Aufgaben zu übernehmen bereit ist. Doch existieren kann er davon nicht, so dass er als Fotokünstler, Typograph und Gestalter anspruchsvoller Ausstellungsprojekte arbeitet, was den Umzug in eine größere Wohnung ermöglicht.

Eine gemeinsame produktive Zeit folgt: 1928 gestalten sie - er als künstlerischer Leiter - den Sowjet-Pavillon auf der internationalen Presseausstellung "Pressa" in Köln. Ihre Einrichtung des  russischen Restaurants zeugt von Sophies Begeisterung für die Volkskunst ihrer neuen Heimat. Der Dichter Maxim Gorki, eigentlich im Exil in Italien, wird nach Köln in die Ausstellung gebracht, um ihn als Vater des sozialistischen Realismus zu präsentieren. Der berühmte "fliegende Reporter" Egon Erwin Kisch, den Sophie durch die Ausstellung führt, schreibt über alles einen euphorischen Report.

Privat bietet Sophie dieses Ereignis die Möglichkeit, ihre Söhne wiederzusehen und mit ihnen gemeinsam einen Urlaub in Österreich zu verbringen.

1929 gestalten die beiden Lissitzkys dann auch den "Russischen Raum" auf der internationalen Ausstellung des Werkbundes "Film und Foto"(Fifo) in Stuttgart. Er ist zuständig für die Aufteilung des Innenraumes, sie besorgt die Auswahl der Fotos und Filme und bestimmt die Art der Präsentation: Eine Aneinanderreihung der Fotos wie bei einem Filmstreifen, was dem Betrachter ermöglicht, durch Bewegung seines Körpers und seines Auges Mehrfachbilder selbst zu schaffen.

Aus Anlass dieser Ausstellung macht das Paar die Bekanntschaft der berühmten Pioniere des russischen Films, Sergej Eisenstein und Dsiga Wertow. Sophie vermittelt Wertow an die Kestnergesellschaft, wo er seine Impressionen des Lebens in der Sowjetunion zeigen kann.

In den 1930er Jahren
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Sophie fasst immer mehr Fuß in den künstlerischen Kreisen ihrer neuen Heimat und genießt eine ähnliche Rolle wie in Hannover. Schließlich erfüllt sich auch ein Wunsch nach einem gemeinsamen Kind. Schwanger reist sie mit Lissitzky ein letztes Mal nach Deutschland, um an der Hygiene - Ausstellung in Dresden und der internationalen Pelzausstellung in Leipzig zu arbeiten. Dort wird Sophie Zeugin der weiteren Faschistisierung ihres Heimatlandes:
"Ein junger Bursche aus der kommunistischen Jugendgruppe hatte uns bei der Montage geholfen. Als ich am nächsten Morgen in unsere Halle kam und nach unserem Gehilfen fragte, sagte man mir, dass er in der Nacht von Faschisten mit einem an einer Schnur befestigten Gewicht erschlagen worden war. Man hatte ihm, während er unsere Plakate klebte, den Schädel zertrümmert. Es war uns grausig zumute. Wir arbeiteten so hart und so schnell wir konnten, um unsere Termine einzuhalten und gleich nach der Eröffnung der Ausstellung abzureisen." ( Quelle hier )
Zuvor hat Sophie ein letztes Mal Hannover und die Freunde besucht. Vier ihrer Kunstwerke lässt sie sich von Dorner gegen Quittung aushändigen. Als ihre Söhne Sommerferien bekommen, reist man gemeinsam mit ihnen nach Moskau.

Sophie, Jen & El Lissitzky
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Am 12. Oktober 1930 kommt der gemeinsame Sohn Jen zur Welt. Auch Kurt und Hans Küppers werden wegen der sich verschärfenden politischen Lage in Deutschland endgültig in die Sowjetunion geholt und als neues, größeres Zuhause ein typisch russisches Holzhaus auf dem Land, 45 Kilometer außerhalb von Moskau, bezogen, das ergänzt wird durch ein großes Studio und ein weiteres Schlafzimmer. Auch dieser Ort wird wieder zu einem Anziehungspunkt für Künstlerfreunde beider Nationen.

Als El Lissitzky 1935 den Auftrag für ein großes Album der Nahrungsmittel - Industrie erhält, bricht seine Krankheit wieder aus und ein Sanatoriumsaufenthalt in Georgien wird notwendig. Der Künstler instruiert seine Frau in puncto Fotografien, Papier, Einband und diese setzt das alles um, erarbeitet die Fotomontagen, verhandelt mit den Regierungsstellen. Der oft düstere Gemütszustand ihres fernen Ehemannes schlägt sich auch in ihrer Psyche nieder, zumal die diktatorischen Verhältnisse unter Stalin ihre gewohnten Freiräume immer mehr beschneiden und sie es zunehmend für geboten hält, zu allem den Mund zu halten. Da fällt auch ihrem Ehemann auf, dass seine "bronzene Marmor - Denkmalgestalt" gestützt und in den Arm genommen werden müsste, und er kehrt tatsächlich zu seiner an Rheuma & Erschöpfung leidenden Ehefrau heim.

Kurt Küppers, inzwischen über achtzehn Jahre alt, macht sich nach einem Streit mit seinem Stiefvater auf nach Deutschland, nach München, wo er - vergeblich - auf die offenen Arme seiner Onkel hofft. Sophie wird ihn nicht wiedersehen. Zudem wird bei Lissitzky eine eitrige Rippenfellentzündung festgestellt, die ihm einen viermonatigen Hospitalaufenthalt einbringt. Sophie setzt wieder alle seine Aufgaben als künstlerischer Leiter der "All-Sowjetischen Landwirtschaftsausstellung" um und organisiert gleichzeitig den Umzug und die Einrichtung eines neuen Hauses, entworfen von El Lissitzky als echt russische Isba. Wieder gibt es kein eigenes Bad, aber erstmals wieder ein Hausmädchen wie in Hannover.

Paul Klee "Sumpflegende" (1919 )
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Zuhause in Deutschland werden inzwischen von nationalsozialistischen Funktionären Sophies avantgardistische Gemälde  beschlagnahmt - Alexander Dorner ist zuvor in die Staaten emigriert - und 1937 in der Ausstellung "Entartete Kunst" gezeigt. Dabei trifft es besonders Sophies Lieblingsbild von Paul Klee, die "Sumpflegende:

Das Bild hängt neben Werken von Kurt Schwitters an der sogenannten Dada-Wand mit dem Hitler - Zitat: "Das Kunst- und Kulturgestotter von Kubisten, Futuristen und Dadaisten ist weder rassisch begründet noch völkisch erträglich."

In der Sowjetunion müssen Sophie und ihr Mann inzwischen auch ihren kosmopolitischen Traum vom Reisen zwischen den Ländern Europas und dem künstlerischen Austausch aufgeben. Brotarbeit ist angesagt, statt künstlerischer Freiheit: "Ich bin bereit mich zu Wurst verarbeiten zu lassen, wenn nur meine Frau ein Boudoir bekommt und meine Kinder satt werden", schreibt der desillusionierte Künstler. Das Schicksal befreundeter Künstler wie Eisenstein oder des Schriftstellers Sergeij Tretjakow bringt auch das Ehepaar nachts oft um seinen Schlaf.

CC BY-NC-SA
Auf seinen eigenen stetigen Verfall reagiert Lissitzky mit besonderer Arbeitswut. Ein letztes Ausstellungsprojekt 1941 für die internationale Ausstellung in Belgrad ist schon in Waggons verpackt, als deutsche Truppen Belgrad besetzen. In den Kriegswirren geht alles verloren.
Am 22. Juni 1941 marschieren Hitlers Truppen dann auch in der Sowjetunion ein. Am 30. Dezember 1941 erliegt der 51jährige Lissitzky seiner Tuberkulose. Lissitzkys letzter Plakatentwurf "Schafft mehr Panzer" ( Abb. links ) wird noch gedruckt und verbreitet.

Am Morgen vor seinem Tod hat sich noch sein Ziehsohn Hans von ihm verabschieden können, der als Abkömmling einer feindlichen Deutschen zum Arbeitsdienst weit hinter dem Ural einrücken muss. Im Hochsommer 1942 erfährt Sophie, dass sie auch ihren Sohn verloren hat, gestorben an einer Blutvergiftung.

Im Sommer darauf wird sie aufgefordert, sich für die Abreise in die Verbannung nach Kasachstan bereitzumachen. Ihre Freundin Jelena Stassowa kann es noch verhindern. Im Oktober 1944 kann Sophie aber niemand mehr helfen: Sie und ihr Sohn müssen als "Spezialumsiedler" nach Nowosibirsk zur "ewigen Verbannung". Das, was von Lissitzkys Archiv übrig geblieben ist, nachdem sie Kompromittierendes verbrannt hat, will dessen Bruder sichern. Das, was von ihren "Souvenirs" aus Hannover geblieben ist, packt sie sorgfältig ein.

Dreitausend Kilometer von Moskau entfernt muss sich die Tochter aus gutem Hause, der Mittelpunkt heiterer Gesellschaften in Hannover, die Gattin eines Avantgardekünstlers für die nächsten Lebensjahrzehnte einrichten. Den Lebensunterhalt für sich und ihren Sohn verdient sie zunächst, indem sie die Zimmer und Latrinen junger Fabrikarbeiterinnen putzt. Schließlich kann sie als Handarbeitslehrerin im örtlichen Kulturclub ihr Überleben sichern, indem sie ihre Schülerinnen Stricken lehrt und sie mit der Kunstgeschichte vertraut macht. 1948 erfährt sie über Pera Eisenstein, der Frau des Filmemachers, dass ihr Sohn Kurt den Nationalsozialismus überlebt habe. Pera hat ihn als Übersetzer in einem Buch entdeckt, Nachforschungen angestellt und erfahren, dass er in Dresden lebt. Sophie erhält auch einen Brief von Kurt, in dem er ihr offensichtlich vorschlägt, zurückzukehren.

Erst zwölf Jahre nach ihrer Verbannung bekommt Sophie eine Mitteilung, dass sie "von der Registrierung als Spezialverbannte befreit" sei. Ihr beschlagnahmtes Eigentum bleibt ihr nach wie vor verwehrt und sie lebt weiter in ihren ärmlichen Verhältnissen. Jelena Stassowa verhilft ihr aber zu einem Auslandspass, der ihr das Reisen ermöglichen soll.

Erst im Sommer 1958 kann Sophie Lissitzky-Küppers endlich in den Westen, nach Wien, um gesundheitliche Probleme anzugehen, ihre Familie zu sehen und nach ihren Kunstwerken zu suchen - die beiden Letztgenannten führen nicht gerade zu einem befriedigenden Ergebnis:

Ihre Brüder, besonders Julius, geben sich eher feindselig, lassen es wie einen Gnadenakt wirken, dass sie die Reise der Schwester aus deren Anteil aus dem mütterlichen Erbe bezahlt haben usw. Und vom damaligen Direktor des Landesmuseum in Hannover, Ferdinand Stuttmann, wird sie mit der Auskunft abgefertigt, dass ihre Bilder wie alles, was sich an moderner Kunst 1937 im Museum befunden habe, spurlos verloren gegangen sei. Nur so viel: Stuttmann ist in der Nazizeit Gutachter für beschlagnahmte Werke gewesen. Er hätte wissen können und müssen, was damals mit "verfemter Kunst" passiert ist.

Die inzwischen 67jährige reist zurück nach Nowosibirsk, verärgert über die Brüder, abgestoßen von der Kälte der Menschen allgemein, niedergeschmettert von der Information des Museums über den Verbleib ihrer Bilder.  Zuvor hat sie  allerdings noch - der einzige von ihr autorisierte Verkauf eines Kunstwerkes aus ihrem Besitz - in Klagenfurt ein kleines Ölbild von Paul Klee ( "Kubischer Aufbau", heute MOMA ) veräußern können.

1962 taucht Sophies "Sumpflegende" von Paul Klee im Kölner Auktionshaus Lempertz auf. Das Niedersächsische Landesmuseum Hannover zeigt sich interessiert, nimmt aber "aus rechtlichen Gründen" Abstand von dem Kauf, weiß man dort doch zu gut, dass auf seiner Rückseite der Name Küppers steht.

Eine letzte große Herausforderung für Sophie ist die Arbeit an der Monografie und Zusammenstellung eines Werkverzeichnisses ihres verstorbenen Mannes, zusammen mit Erhard Frommhold, dem Lektor des Dresdner Verlags der Kunst. 1968 kommt es zur Veröffentlichung.

1976 gibt es eine sehr erfolgreiche Ausstellung von Werken Lissitzkys, die Sophie der Kölner Galerie Gmurzynska überlassen hat, und die den Künstler wieder in Erinnerung bringt.

Sophie Lissitzky-Küppers gegen ihr Lebensende hin in ihrer letzten "Kommunalka" in Nowosibirsk
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Obwohl Sophie Küppers-Lissitzky sieben Auseiseanträge gestellt hat, wird jeder abgelehnt. Der von ihrem Sohn eingeschaltete Kanzler Helmut Schmidt, lässt über die Botschaft in Moskau mitteilen, dass nur Ausreisen im Rahmen der Familienzusammenführung erfolgen können, für die Genehmigung sowjetische Behörden zuständig seien und der Bruder den Antrag stellen müsse. Doch den interessiert das alles nicht.

So stirbt Sophie am 10. Dezember 1978 in ihrem bescheidenen Zuhause in Nowosibirsk an Lungenentzündung. Zwei Monate später erst taucht die Nachricht von ihrem Tod erstmals jenseits des damaligen "Eisernen Vorhangs" im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung auf:
"Die Kunsthistorikerin Lissitzky-Küppers war eine große Förderin der Avantgarde, insbesondere hat sie die Rezeption ihres Mannes durch die Herausgabe eines Werkverzeichnisses maßgeblich geprägt und ermöglicht. Sie hatte El Lissitzky in den 1920er Jahren in Hannover kennengelernt und war ihm nach Moskau gefolgt. Nach dem Tod dieses Malers, Architekten, Grafikers und Fotografen, wurde Sophie Lissitzky-Küppers zu Beginn der 1940er Jahre nach Nowosibirsk verbannt. Sie liegt auf dem Zaeltsovsky-Friedhof von Nowosibirsk, wo sie bis zu ihrem Lebensende blieb, begraben." ( Quelle hier )
Die Geschichte der Sophie Küppers - Lissitzky könnte an dieser Stelle über ihren Tod hinaus weiter erzählt werden, denn der Umgang mit ihren von den Nazis enteigneten Kunstwerken in der Bundesrepublik, in die eine ganze Reihe Museen involviert gewesen sind und um die Sophies Sohn seit der Öffnung der Sowjetunion gekämpft hat, ist nicht frei von skandalösen Vorkommnissen. Doch das ist heute nicht mein Anliegen. Inzwischen hat Jen Lissitzky den privaten Nachlass seiner Eltern dem Sprengel Museum Hannover überlassen. In der Stadt befindet sich heute im Museum August Kestner auch der Nachbau des eleganten Küpperschen Salons, der in den 1990er Jahren erworben werden konnte. Dort könnte man dieser bemerkenswerten Frau und ihrer Begeisterung für die Avantgarde nachspüren.


11 Kommentare:

  1. Wieder eine sehr sensible informative Biografie. 👏
    Lieben Gruß von Susa

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  2. Wieder ein großes Danke für den Bericht. Ich staune, mit welchem Herzblut du die Recherche betreibst und darüber schreibst. Grüße von Rela

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  3. Was für eine Lebensgeschichte wieder!
    Du müsstest ein Buch mit allen Biographien machen.
    So viele interessante Frauen hast du schon beschrieben.
    Liebe Grüße von Urte

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  4. Danke für das bewegende Portrait. Erschreckend die Härte und Kälte der eigenen Familie und das Bild der Nachkriegszeit.
    Liebe Grüße
    Andrea

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  5. Wieder einmal ein Frauenschicksal, von dem man sagen könnte:
    "Nicht zu fassen!".
    Welche Volten und Ausschläge ihr Leben genommen hat! Sie war eine Frau, die ein freies und selbstbestimmtes Leben führen wollte und ihre Entscheidungen getroffen hat. Dann aber kamen die Entscheidungen gegen sie im familiären und großpolitischen Bereich hinzu... Das Selbstbestimmte war vorbei. Auch für ihre Kinder.
    Wie traurig, solch grausame Entwicklungen hinnehmen zu müssen.

    Ich kannte sie bisher nicht und es ist wirklich eine Bereicherung diese Great Woman bei Dir kennengelernt zu haben.
    Danke sagt Sieglinde

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  6. ein weitergeleiteter Kommentar von meiner Mama:

    Liebe Astrid,

    ein ganz ein langer, interessanter Beitrag zu dieser starken Frau. Ich habe diesen Post meinem Sohn übermittelt, er hat ja Kunst studiert hier an unserer Akademie in Nürnberg. Inzwischen befördert durch sein Lehramt zum Oberstudiendirektor. Bin mal gespannt ob er diese Frau kennt und ob er dazu etwas weiß. Ich bzw. wir als Eltern, sind ja eher Kunstbanausen, aber ungeachtet dessen, ist es immer bewundernswert was Frauen alles geleistet haben. Dank den weiblichen Genen gelingt ihnen stets alles eine Nuance besser. Sorry. 😍 Danke für diesen ausführlichen Lebenslauf einer bemerkenswerten Frau. Mit lieben Grüßen, die Helga

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  7. Ein sehr aufrührender Bericht, mit wieviel Engagement und Enthusiasmus sie gelebt hat, als Reisen und Grenzen überschreiten noch viel komplizierter war, als heute. Wie Leute in der Verbannung gelebt haben ,kann man sich kaum vorstellen.
    Das Verschwinden und Auftauchen von Kunstwerken aus dieser Zeit wird wahrscheinlich für immer viele schwarze Löcher bereithalten und je mehr Zeit vergeht, umso komplizierter die Rückverfolgung des Geschehenen.
    viele Grüße, Karen

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  8. Das tat mir jetzt gut zum Abend nach getaner Arbeit in diese Lebensgeschichte einzutauchen, manches Bekannte, viel Nichtgewusstes zu lesen... Was für ein Leben mit solchen Wendungen. Als M. in Hannover studierte, war ich öfter im Sprengel- und im Kestner-Museum... Dort habe ich erstmals Paul-Klee-Originale gesehen... Wir hatten ja dank der Kunstbibliothek der Eltern Vieles in Büchern, aber dann Originale zu sehen, war noch mal etwas Anderes. Liebe Grüße Ghislana

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  9. Was Menschen so alles aushalten müssen, wenn sie eigene, andere Wege, als von ihnen erwartet. Privat, wie auch gesellschaftlich. Danke für das Portrait. lg Maren

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  10. Der Verbleib vieler Kunstwerke ist wirklich keine Ruhmesgeschichte. Eine faszinierende Frau!
    Magdalena

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  11. deinen bericht habe ich mal wieder fast atemlos in einem rutsch gelesen und bin einerseits völlig fasziniert, andererseits sehr betroffen, dass ich von ihr nichts wusste, obwohl ich schon ziemlich oft ausstellungen in der kestner-gesellschaft (kunstverein) gesehen habe. auch eine große el lissitzky-ausstellung im sprengel-museum habe ich in den 1990-jahren gesehen, erinnere mich aber nicht an ihren namen. den nachbau im museum august kestner kenne ich (bisher) noch nicht, aber beim nächsten hannover besuch wird sich das ändern. dann werde ich mir auch das "kabinett der abstrakten" anschauen, das ja 2017 im sprengel-museum nue rekonstruiert wurde. bis zum 31.12. habe ich noch zeit! danke für deine aufwändige recherche!!
    liebe grüße
    mano

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Danke, dass du dir für ein paar liebe Worte Zeit nimmst!

Ich wünsche mir allerdings nach wie vor, dass ein Name am Ende des Kommentars steht.
Da die anonymen namenlosen Kommentare zuletzt wieder zugenommen haben, hier der ausdrückliche Hinweis:

Ich werde sie ab jetzt wieder konsequent NICHT freischalten.

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