Donnerstag, 23. Juni 2016

Great Women # 65: Charlotte Perriand


Wie oft habe ich mit Freuden & ganz entspannt auf dieser Liege gelegen ( die übrigens meiner Schwester gehört und zu ihr zurückgekehrt ist, als sie eine größere Wohnung hatte ) oder in dem LC2 genannten Sessel bei ihr gelümmelt, immer in der festen Überzeugung, dass diese vom schweizerisch - französischen Stararchitekten Le Corbusier entworfen worden sind, schließlich trugen die Möbelstücke seinen Namen ( LC = Le Corbusier ).  Ich fiel aus allen Wolken, als ich anlässlich der Kölner Ausstellung zu Fernand Léger "Malerei im Raum" erfuhr, dass die Entwürfe für diese Möbel gar nicht vom legendären Neuerer des Wohnens stammten, sondern von einer Frau: Charlotte Perriand. ( Gewundert hat es mich dann allerdings nicht, dazu bin ich zu sehr in diesem Thema "unterwegs"... ) Eine der bedeutendsten Gestalterinnen des 20. Jahrhunderts stand also ganz lange im Schatten des großen Le Corbusier, dem alleine der Platz an der Sonne gebührte. Zeit, daran etwas zu ändern!


Charlotte Perriand kommt am 24. Oktober 1903 in Paris als Tochter eines Herrenschneiders und einer Haute - Couture Näherin zur Welt. Ihre Kindheit verbringt sie teilweise bei ihren Eltern in der schillernden Metropole, teilweise bei ihren Großeltern in der ursprünglichen Bergwelt Savoyens. Die sich daraus ergebenden - widersprüchlichen - Eindrücke sind in ihrer späteren Arbeit wiederzufinden.

Nach Abschluss der Schule studiert sie mit Unterstützung eines Stipendiums von 1920 bis 1925 an der École de l'Union Centrale des Arts Décoratifs. Da der Unterricht dort recht eingeschränkt ist, besucht Charlotte zusätzlich Kurse bei Maurice Dufrène, dem leitenden Designer des Pariser Warenhauses "Galeries Lafayette" und Paul Follot vom Warenhaus "Le Printemps". Dabei lernt sie, praktisch zu arbeiten und Dinge herzustellen, die im Kaufhaus für aktuelle Projekte benötigt werden. Dufrène wird neben Henri Rapin, dem künstlerischen Leiter der Kunstgewerbeschule, ein wichtiger Ratgeber für sie und Wegbereiter der Arbeit ihrer ersten Jahre als Gestalterin. Unter Rapin nimmt sie an ausgeschriebenen Wettbewerben teil. Dabei hat sie die Chance, dass ihre Siegerentwürfe in Form von Prototypen hergestellt oder gar gekauft werden, um in die Produktion durch Möbelhersteller zu gehen.

In ihrem letzten Studienjahr wird Charlotte ausgewählt, in der Pariser Weltausstellung von 1925 unter dem Namen der Schule Wandpaneele mit den neun Musen für ein Musikzimmer zu zeigen:

Beitrag über Charlotte Perriand in
"La femme au Salon des Artistes Décorateurs" 1926
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Nach Ende des Studiums bricht sie mit dem traditionellen Kunstgewerbe ihrer Zeit, das vom Art déco geprägt ist, und beginnt Möbel nach ihren Vorstellungen zu entwerfen. Ihre Arbeiten werden zuerst in der Société des Artistes Décorateurs gezeigt. Sie heiratet Percy Kilner Scholefield, einen englischen Textilimporteur,  und zieht mit ihm in eine kleine Wohnung an der Place Saint-Sulpice. 

"Nous n'avons pas de broder coussins ici. (Wir besticken hier keine Kissen)”, so wird kolportiert, soll Charles-Édouard Jeanneret, viel bekannter unter seinem Pseudonym Le Corbusier, gesagt haben, als die blutjunge Charlotte an seiner Ateliertür in einem ehemaligen Jesuitenkloster in der Rue de Sèvres 35 in Paris um einen Job nachsucht. Inspiriert von der Lektüre zweier seiner Schriften, ist sie voller Hoffnung, bei ihm an der richtigen Adresse zu sein. 

Bar sous le toit
Source
Der renommierte Architekt und Designer ändert seine Meinung über die junge Frau erst, als er zu einem "zweiten Blick" von seinem Cousin Pierre Jeanneret angeregt, sich die von Charlotte auf dem Pariser Herbstsalon ausgestellte “Bar sous le toit” angesehen hat. 

Ihre Konstruktion aus vernickeltem Kupfer, eloxiertem Aluminium & Glas im Stil der Moderne hatte bis dahin schon große Begeisterung bei den Besuchern des Salons hervorgerufen ( so erwirbt z.B. Marie-Laure de Noailles, die berühmte Kunstmäzenin der Avantgarde, sofort einen Klappkartentisch für ihre Villa in Hyères ). Mit der Bar hat Charlotte die perfekte Lösung für die kleinen Räume ihrer gemeinsamen Wohnung mit ihrem Ehemann gefunden und  selbst gebaut. 

Es ist also diese Darbietung, die Le Corbusier dazu bewegt, der jungen Frau eine Chance zur Zusammenarbeit zu geben ( die übrigens zehn Jahre währen wird ). Sie ist offenbar gnädig oder selbstbewusst genug, seine frühere Rüpelhaftigkeit zu verzeihen...

Mit Le Corbusier links & ihrem Ehemann
Percy Scholefield im Hintergrund (1927)
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Le Corbusier ist sicher kein feministischer Held. Trotzdem scheint sein Atelier ein Ort gewesen zu sein, wo Frauen als Designer arbeiten können ( neben Charlotte ist das Stanislava Nowicki vor dem 2. Weltkrieg und Edith Schreiber, Blanche Limco, Maria Fenyo in der Nachkriegszeit ). Er erkennt wohl auch, dass diese sehr junge Frau der kulturellen Avantgarde zuzurechnen ist, die ästhetische Werte grundlegend überdenkt und das tägliche Leben mit modernen Ansichten zu verändern sucht. 

In diesem Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts gibt es nämlich eine breite Bewegung für innere Reformen. Wissenschaftliche Planung und Funktionalismus bleiben nicht mehr männliche Domänen ( und dem weiblichem subjektiven Empfinden wird Dekoration, Überfluss und Fantasie überlassen ), sondern die Idee, dass Hausarbeit rationalisiert werden kann, indem man sie wissenschaftlich analysiert, findet bei den Reformerinnen der Zeit großen Zuspruch, weil diese hoffen, dass die moderne Technologie und die wissenschaftliche Planung die Frauen von der häuslichen Plackerei befreien könne, um ihnen zu ermöglichen ihre Zeit befriedigender zu nutzen, sei es als Mutter und Ehefrau oder in einer beruflichen Karriere.

Charlotte selbst erlebt das Atelier Le Corbusiers übrigens als ein Umfeld, in dem sie und ihre Kollegen, männlich und weiblich, professionell wachsen und sich entwickeln können und in dem Wärme, Kameradschaft und Respekt herrscht.

Sie ist eine Pionierin in der Konstruktion & betrachtet Innenarchitektur als Motor eines neuen Lebensstils ( noch heute ist die Innenarchitektur oftmals Mittelpunkt unserer zeitgenössischen Lebensart ). Im Grunde verdanken wir ihr die Entstehung der Modernität in der Geschichte des Einrichtungswesens des zwanzigsten Jahrhunderts. Die "Zeitlosigkeit" ihrer Ideen beweist dieses Einrichtungsfoto - es ist von 1928:

"Dining Room" mit Perriands ausziehbaren Tisch &
dem Drehstuhl B302 (LC7), den sie für ihre Wohnung entworfen hat,
beim Salon des Artistes Decorateurs
Source
Es ist nicht nur das Atelier, in dem sie Arbeit gefunden hat, noch ist es Le Corbusier, der für die Weiterentwicklung Charlottes maßgeblich ist. Sie betont später, es sei Le Corbusier und Pierre Jeanneret, sein Cousin, gewesen. "Corbu war das Symbol, das eine Idee hatte, agierte als Katalysator - aber Pierre Jeanneret verbrachte seine ganze Zeit am Zeichenbrett, von morgens bis abends. Er zeichnete alles sehr genau, sehr detailliert... Es gab zwei von ihnen; sie waren komplementär. Corbu war der Publizist, natürlich, aber Jeanneret war sein ( praktisch veranlagter - Ergänzung durch die Verf. ) Kontrapunkt." ( Quelle hier )

Ihre Rolle im Atelier Le Corbusier ist, da vertraut mit der aktuellen Technologie und der nötigen Kenntnis über die Verwendung einzelner Materialien, die Ideen des Meisters praktisch umzusetzen.  "Le Corbusier hatte keine Zeit für das, was er das "bla bla bla" nannte; er verabscheute es. Also als ich ankam, forderte er mich sofort auf, an Schränken, Metallstühlen und Tischen zu arbeiten - Ideen, die er in seinen Büchern veröffentlicht hatte, in der Zeitschrift "L'Esprit Nouveau" und die er gezeigt hatte in seinem "L 'Esprit Nouveau Pavillon" auf der Pariser Ausstellung von 1925."

Von 1927 bis 1937 ist Charlotte also verantwortlich für alles "l'Equipement" (Möbel und Ausstattung) der architektonischen Objekte Le Corbusiers, für die Organisation der Ausstellungen, die Überwachung der Montage der Inneneinrichtung in Le Corbusiers Bauten und die Überwachung der Produktion - viel Verantwortung für eine Frau von 24 - 34 Jahren in einem von Männern dominierten Metier! ( Ich denke da immer an die Erfahrungen, die meine Architektenschwägerin in unserer Zeit machen musste... )

Corbusiers Beitrag zur legendären Chaiselongue B 306 ( heute LC4 ) von 1928 sind bloß Skizzen, die eine Person mit den Füßen in der Luft liegend zeigen, als ob diese gegen den Stamm eines Baumes gelehnt seien, oder in anderen entspannten Haltungen. Charlottes Job ist es, den Prototypen zu entwickeln, zu konstruieren, zu bauen. Da das Atelier kein Geld für den Pariser Herbstsalon 1929 hat, versucht sie einen "editeur" für ihren Entwurf zu finden. Das gelingt ihr mit der Firma Thonet, die die Ausstellungskosten übernimmt & nach der Ausstellung die Chaiselongue in kleinem Maßstab herstellt, denn für die Massenproduktion ist er etwas zu teuer. ( Den Vorschlag, die Chaiselongue in Bugholz zu machen, was den Produktionsmethoden von Thonet eigentlich entspricht, lehnt die Firma ab. )

Charlotte auf der Chaiselongue B 306 (1928)
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Zur Entstehung des berühmten Fotos sagt Charlotte später, dass sie es selbst inszeniert & Pierre Jeanneret aufgenommen habe, und dass sie selbst darauf bestanden habe, ihren Kopf zur Wand zu drehen, um das Möbel und nicht die Person in den Mittelpunkt zu rücken. Le Corbusier habe keine Rolle bei der Konzeption gespielt und das Bild nur in seiner Fotomontage der Modellwohnung benutzt. Ihr sei die individuelle Anerkennung als Designer weniger wichtig gewesen, als dass der Stuhl als Teil einer kollektiven Vision des modernen Lebens wahrgenommen werde. 

Das offizielle Dokument, welches die Patentierung eines Entwurfs für einen Liegestuhl ( Chaiselongue basculante ) bescheinigt, nennt denn auch als Erste Charlotte Perriand, dann Le Corbusier und seinen Cousin & Partner Pierre Jeanneret als Urheber. Wie es dazu gekommen ist, dass dieses legendäre Möbelstück ( und auch die anderen ) heute weltweit unter dem Namen "Le Corbusier" firmiert, erklärt Charlotte so:
"Es ist einfach - Madame Weber kannte Le Corbusier, sie ist eine große Bewunderin seiner Malerei und seiner Skulpturen und sie hat das Corbusier - Museum in der Schweiz gegründet. Sie wollte eine neue Ausgabe der Stühle von 1929 produzieren und sie war es, die die neue Ausgabe durch Cassina veranlasst hat. Aus kommerzieller Sicht hat der Name "Le Corbusier" mehr Klang - drei Namen haben nicht die gleiche Resonanz - aber die Etiketten auf den Cassina Editionen sagen 'Creation 1929 Le Corbusier - Jeanneret-Perriand'."
Mit ihrer legendären Kette
aus Industriekugellager - Perlen (1929)
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1928 gestaltet sie aber nicht nur die Chaiselongue: Es entsteht  auch der Sessel Grand Confort (LC2) und der Sessel Basculant B301 (LC1)  ( B301 ) für die Architekturprojekte des Ateliers, die 1929 dann in der Modellwohnung im Herbstsalon ausgestellt werden. Der Beitrag erhält eine Menge Publicity. In Interviews betont Charlotte die Vorteile von Metall, Marmor und Glas gegenüber dem traditionellen Material der Möbel, dem Holz.

1929 ist auch das Jahr, in dem sie die "Union des Artistes Modernes"( UAM)  mitbegründet. 

1930
Source
1930 trennt sich von ihrem Mann, zieht nach Montparnasse & unternimmt eine Reise nach Moskau zu einem internationalen Architekturkongress (CIAM). Sie ist eine Frau mit Charakter und Energie, ein Freigeist, immer aktiv - Skifahren, Klettern, Rafting, Kanu fahren gehören zu ihren Freizeitbeschäftigungen. Ihre Liebe zu den Bergen dokumentiert sie in diesem spektakulären Foto von 1930.

Schlafraum der Heilsarmee

1933 reist sie wieder nach Moskau, wo sie mit Zeitgenossen wie El Lissitzky und László Moholy-Nagy zusammen trifft und unternimmt mit vielen Kollegen eine Schiffsreise nach Athen zur dortigen CIAM.

Von 1932 - 33 arbeitet sie mit Le Corbusier und Pierre Jeanneret als Architekten an der Realisation eines Gebäudes - "La Cité du Refuge de l'Armée du Salut" - für den allgemeinen Dienst der Heilsarmee als Schutz für 500 Menschen in Not, mit, für das sie u.a. einen Schlafsaal konzipiert. 1934 entwirft sie die Möbel und betreibt den Innenausbau für Le Corbusiers neue Wohnung in der Rue Nungesser-et-Coli.

Nach dem Aufrichten eines Biwak 
am Mont Joly, Französische Alpen (1937)
Zum beruflichen Bruch mit dem Meister kommt es 1937 aufgrund politischer Differenzen: Beeinflusst von den politischen und ökonomischen Krisen in den 1930er Jahren hat sich Charlotte immer stärker engagiert. Ihre Interessen passen nun nicht mehr zu ihren früheren Entwürfen voller Glanz, Geschmack und Eleganz.

Sie formuliert für sich als neues Ziel eine Demokratisierung des Designs & den Entwurf preisgünstiger Möbel. Sie macht konkrete Vorschläge, wie ein menschenwürdigeres Leben für unterprivilegierte Zeitgenossen günstig realisierbar sei. Dafür verwendet sie zunehmend andere Materialien, vor allem Holz.

1935 lässt sie z.B. für die Brüsseler Weltausstellung einen einfachen handwerklichen Stuhl aus Pinienholz von Gefängnisinsassen herstellen. ( Einen solchen Sessel aus Holz und Binsen bevorzugt dann auch Fernand Léger, als er einen bequemen Sessel bei der Freundin sucht. )

Um aktiv auf städtische Armut in Frankreich aufmerksam zu machen, nutzt sie 1936 auf dem „Salon des arts ménagers“, einer Messe für Möbelneuheiten, die Möglichkeit, inmitten ihrer Möbel eine eigene Fotocollage mit dem Titel „Das Elend von Paris“ zu installieren. Die beweist außerdem, dass Charlotte eine großartige Fotografin mit Blick für das Wesentliche ist und dass sie ihre Fotos als eine Art Skizzenbuch benutzt für die Formfindung bei ihren Möbelentwürfen. ( Viele Fotos sind hier zu finden. )

1937 arbeitet sie mit dem Künstler Fernand Léger gemeinsam an einem Pavillon für eine Ausstellung des franz. Landwirtschaftsministeriums ( von dem Teile in der derzeitigen Kölner Ausstellung zu sehen sind ):

Modell des Pavillons für die Ausstellung des Ministeriums für Landwirtschaft von 1937
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Im Atelier von Le Corbusier hatte Charlotte Junzo Sakakura kennengelernt, einen japanischen Architekten, der 1937 den japanischen Pavillon für die Weltausstellung in Paris baut. Obwohl er der kaiserlichen Villa in Kyoto nachempfunden ist, nutzt er die Materialien der Moderne - dünne Platten aus Stahl & Glas -  um eine kulturübergreifende Idee der Transparenz und Einfachheit zu erreichen. Das gefällt Charlotte sehr und sie fühlt sich vom japanischen Konzept des "yo no bi" ("Schönheit & Funktion") angezogen.

In den Bergen (1939)
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Sakakura gelingt es, ihr eine Einladung der japanischen Industrie- und Handelskammer zu beschaffen. Sie soll als deren Designberaterin neue Produkte für den Export in westliche Länder entwickeln und traditionelle handwerkliche Techniken der Japaner ins 20. Jahrhundert übertragen.

Man kann sich fragen, warum Charlotte die Heimat verlässt und um die halbe Welt in ein fremdes Land reist - doch als sie sich 1940 von Marseille aus mit dem Schiff nach Tokio aufmacht, sind gerade deutsche Soldaten in Paris eingefallen...

Während  ihrer Zeit in Tokio lebt sie im von Frank Lloyd Wright im Jahre 1922 entworfenen "Imperial Hotel". Die Beschäftigung mit der minimalistischen Ästhetik Japans und ihrer Betonung von Leere & Klarheit sowie ihre Erfahrungen mit dem traditionellen Kunsthandwerk schlagen sich in ihren neuesten Entwürfen nieder. Ihre Ergebnisse einer siebenmonatigen Recherche in der japanischen Provinz wird im Tokioer Kaufhaus „Takashimaya“ in einer Ausstellung gezeigt. Neben den für den Export geeigneten japanischen Alltagsgegenständen gibt es auch ihre eigenen, von der japanischen Kultur beeinflusste Entwürfe zu sehen.

 Tisch für eine Wohnung in Tokio (1941)
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Ihre Entwürfe verkörpern die Harmonie, die vom Zusammenhalt zwischen Innen- und Außenräumen kommt, dem ästhetische Ideal der japanischen Architektur. Ironie des Schicksals: Ihr stapelbarer Ombra Tokyo Stuhl wird oft für einen japanischen Entwurf gehalten...

1942 muss sie das Land als "unerwünschte Ausländerin" verlassen, ist aber durch die Seeblockade gefangen und verbringt den Rest des Krieges in Indochina/Vietnam, wo sie den Franzosen Jacques Martin heiratet und 1944 die Tochter Pernette zur Welt bringt.

Dort entsteht auch der Indochine Stuhl, eine in traditioneller handwerklicher Technik und Materialien für ihren persönlichen Gebrauch hergestellte Version des Drehstuhls B302 von 1927. Schon in Tokio ist eine Version der Chaiselongue B 306 aus Bambus hergestellt worden. ( Auch der Drehstuhl ist von Cassina später neu aufgelegt worden - siehe Abbildung. )















1946 kehrt Charlotte mit ihrer Familie nach Frankreich zurück und nimmt ihre Karriere als unabhängige Designerin sowie eine Zusammenarbeit mit Jean ProuvéFernand Léger und - im Jahr 1950 - mit Le Corbusier wieder auf, als sie eine Küche für dessen "Wohnmaschine" in Marseille entwirft.

In den Folgejahren arbeitet sie an vielen nationalen und internationalen Projekten mit. Als ihr Mann 1962 Direktor von Air France für Lateinamerika wird, richtet sie in Rio de Janeiro seine offizielle Wohnung ein.

Mit Tochter 1947, in Japan 1954, mit Ehemann bei Albertville in späteren Jahren






Ab 1962 arbeitet sie zusammen mit Jean Prouvé an einer langandauernden Projektreihe in den Savoyer Skigebieten. Ihr wohl größtes Projekt: Die autofreie Ski- und Hotelanlage Les Arcs. Zwischen 1967 und 1985 entwerfen die beiden Designer zusammen mit einem Team einfache und komfortable Unterbringungsmöglichkeiten für Gäste mit kleinerem Geldbeutel ( Teile der Einrichtungskollektion sind hier zu sehen ). Wie in ihrer privaten Berghütte in Méribel-les-Allues sollen die Räumlichkeiten eine Einheit bilden zwischen Mensch und Natur, Kunst und Funktion:





"Was ist das entscheidende Element an Wohnungseinrichtungen? Ohne zu zögern können wir antworten: der Stauraum. Ohne gut geplante Ablagemöglichkeiten, ist es unmöglich, Platz in der eigenen Wohnung zu finden", lautet ein Statement von Charlotte Perriand. Und seit ihren ersten Stunden im Atelier von Corbusier ist sie mit dieser Thematik befasst. Deshalb möchte ich an dieser Stelle noch ein paar ihrer Entwürfe zeigen, die nie den Bekanntheitsgrad der Sitzmöbel erreicht haben, aber nicht minder bemerkenswert sind:

Charlotte Perriands "Bibliothèque" in der Wohnung ihres Mannes in  Rio de Janeiro (1962)
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Die Firma Cassina hat inzwischen in Zusammenarbeit mit Charlottes Tochter & Nachlassverwalterin einige Regale & Schränke der Serie "Nuage" neu aufgelegt, bei denen lange umstritten war, ob sie nun von Prouvé oder Perriand entworfen worden sind. Die Möbelhändler haben die Originalexemplare immer als Prouvé - Möbel verkauft, weil damit mehr Geld zu machen war und auch den Museen entsprechende Expertisen vorgelegt. Doch es gibt Dokumente, dass diese Möbel höchstens zu 20 Prozent Prouvé sind...

Das Regalsystem ist übrigens schon 1957 für die Bibliothek des Air France-Büro in London eingesetzt worden:

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1991
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1985 - Charlotte ist nunmehr 82 Jahre alt -  veranstaltet das "Musée des Arts Décoratifs" in Paris eine Retrospektive ihrer Arbeiten. Immer mehr fokussiert sich die Kunstgeschichtsschreibung auf die Problematik des Copyrights oder auf den Aspekt, dass Künstlerinnen von einem berühmten Mann instrumentalisiert werden. Die seit Jahren unsichtbare Frau hinter den Möbelentwürfen unter dem Namen Le Corbusier wird erst spät - und scheinbar halbherzig -  sichtbar, die Anerkennung ihrer Kreativität und ihres Beitrages zur Geschichte der Inneneinrichtung wird ihr erst im Alter bzw. nach ihrem Tod zuteil.

Noch mit neunzig Jahren folgt sie einer Einladung, ihre Vision des japanischen Teehaus auf dem Platz der UNESCO in Paris zu realisieren: Ein riesiges blumenförmiges Segel aus Polyesterfolie wird von einem Bambuskonstrukt gehalten über einem kleinen Holzhaus, das über dem Boden schwebt - sehr poetisch! ( Hier mehr dazu )

Die Veröffentlichung ihrer Autobiografie "Une Vie de Création" 1998 sowie eine erneute Retrospektive im "Design Museum" in London tragen weiter dazu bei, das Charlotte noch mehr aus dem Schatten Le Corbusiers heraustreten kann.

Am 27. Oktober 1999 stirbt die facettenreiche, überaus produktive Designerin in Paris im Alter von 96 Jahren und hinterlässt ein umfangreiches Werk von stupender Modernität.


Auch nach ihrem Tod werden immer wieder bisher nicht verwirklichte Projekte Charlotte Perriands umgesetzt, so z.B. anlässlich der Mailänder Design Messe 2012, als Cassina die futuristische Kapsel-Version einer Zufluchtshütte von 1938 aufbauen ließ ( hier zu sehen ). Oder ihr "La Maison au bord de l'eau" von 1934, das die Firma Louis Vuitton im Rahmen der "Art Basel Miami Beach"  im Dezember 2014 dort verwirklicht hat:



Charlottes Entwurf eines erschwinglichen, aus natürlichen Ressourcen gefertigten Ferienhauses für ein breites Publikum errang bei einem Designwettbewerb, der seinerzeit von der Fachzeitschrift „L’Architecture d’Aujourd’hui“ ausgerichtet worden war, den zweiten Platz.

Man wird ja mal träumen dürfen...







... und zu Frauke schicke ich den SW - Blick.

18 Kommentare:

  1. Einen wunderschönen guten Morgen.
    Ich mag diese Reihe und muss sagen das ich auch schon oft so etwas vorhatte. Es gibt Frauen die man wirklich erwähnen muss. Sie werden viel zu schnell vergessen.

    Lieben Gruß und einen schönen Tag.

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  2. wenn mir nicht schon ihre entwürfe so gut gefallen würden und ihr sympathisches gesicht - ihre bergliebe hätte auf jedenfall mein herz erobert! frauen die die berge lieben (ohne das mitschleppsl von männern zu sein) - und solch coole fotos von sich machen - sind was ganz besonderes! <3
    danke für den post!!! xxxxx

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  3. Liebe Astrid,
    ja diese Liege, ich habe eine Kollegin, sie wohnt nicht unweit von mir in der Rommelmühle und sie hat eine große Wohnung und 2 dieer Liegen. Hat sie allerdings gebraucht gekauft aber auch da nicht soooo billig.

    Ein schöner Beitrag, schön, dass die sie erwähnt hast. Aber
    einiges hat Le Corbusier auch alleine gemacht, z.B. sein Haus.
    Er war "eisenbahnverrückt" und hat sein Haus in Stuttgart so funktionell eingerichtet, manchmal wie ein Eisenbahnwaggon. Sehenswert auf jeden Fall schon alleine die Schranke, die man umbauen kann. Alles natürlich spartanisch. Ich muß mal wieder hin. Und oben auf dem Dach eine Terrasse da kann man nur staunen.

    Sie liebe gegrüßt von Eva

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  4. Was für erstaunliche Frauen es doch gibt! Und leider so viele davon im Schatten von Männern ...
    LG, Ingrid

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  5. Wieder ein sehr schönes Stücke Frauengeschichte.So vielseitig und in jeder Lebensphase aktiv und kreativ! Ich bin immer beeindruckt wie komplex teilweise vorausgedacht wurde von Freigeistern dieser Zeit.
    Danke!VG Karen

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  6. Liebe Astrid,

    was für eine Frau.
    Wenn mal wieder Geld vom Himmel fällt würde ich gerne von ihr designete Sitzmöbel haben wollen, die sehen so zeitgemäß bzw. zeitlos aus oder aber in einem Haus das ihrem Ferienhausentwurf gleicht wohnen wollen. Die Photos von ihr sind spektakulär. Das Bergphoto reizt mich zum Nachstellen, meine Reha wird in den Bergen stattfinden.
    Immer wieder ein Genuß Deine Great-Women-Reihe. Ich bewundere Deine Arbeit.
    herzlich Margot

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  7. Was gäbe ich - wenn ich's denn hätte - für das Chaiselongue B 306. Die Moderne ist zwar nicht so meins, aber dieses Teil würde ich jederzeit nehmen. Würde mir ein Zimmer darum bauen, auch, ein ganzes Haus...
    Lieben Gruß
    Katala

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  8. Und wieder habe ich durch Deine Reihe eine spannende, interessante Frau kennen gelernt. Gewiss wird mir ihr Name demnächst ins Auge fallen, oder ich werde bei einem modernen Möbelstück dieser Zeit gleich an sie denken.
    Liebe Grüße
    Andrea

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  9. Wie wäre es mal mit einem Sammelband...über deine Frauen....? So viel kompaktes Wissen, so viel Einblick in geballter Form findet man meist selten. Also ich würde es kaufen...das Buch von Frau Kitchi. LG Lotta.

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  10. Liebe Astrid,
    sehr interessant! Und obendrein hast du mich dazu gebracht, mich durch die Möbelstile der Jahrzehnte zu googlen. Ich finde es toll, dass du immer wieder zum Nachdenken über Themen anregst, die ich sonst wohl gar nicht so in Betracht gezogen hätte.
    Lieben Gruß
    Gabi

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  11. Was für ein Leben, was für ein Schaffen.
    Und dann noch so ein schöner Name.
    Liebe Grüße
    Jutta

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  12. Es ist immer wieder beeindruckend, wie Frauen so selbstverständlich in die 2. Reihe geschoben wurden und auch noch werden. Der Kampf ist noch lange nicht zu Ende. Was die Ideen betrifft: was wirklich ästhetisch gelungen ist, bleibt schön. Ein toller Bericht.
    LG
    Magdalena

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  13. Charlotte Perriand, eine tolle Frau. Ich habe die Küche in der "Wohnmaschine" ja schon einmal bewundern dürfen ;).
    Wie schön, dass Du Ihre Werke aus dem Schatten der damaligen Männerdomäne rückst.
    Liebe Grüße
    Cora

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  14. Unglaublich, das Leben dieser Frau. Ihre Ideen, ihre Entwürfe, ihr Visionen! Und deine Recherche. Toll, danke! Mit wie wenig Anerkennung sie sich zufrieden gegeben hat und wieviel Lebensfreude sie auch im Alter noch ausstrahlt, Chapeau!
    Hab noch einen schönen (und hoffentlich nicht zu sorgenreichen) Tag!
    Liebe Grüße ... Frauke

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  15. selbst anfang der 1990er jahre wurde bei meinem innenarchitekturstudium im fach designgeschichte immer nur das dreiergestirn als designer genannt, mit dem augenmerk auf le corbusier. und auch die anerkennung als architektin in der männerdomäne bau muss man sich heute noch schwer erkämpfen, wie ich aus langjähriger erfahrung weiss. mit einer frau als möbeldesignerin kann man(n) sich heutzutage allerdings besser abfinden als direkt am bau, bauhaus lässt grüßen. nichtsdestotrotz steht der lc2-sessel seit vielen vielen jahren auf meiner wunschliste :) vielen dank für einen weiteren tollen great women post
    lg heike

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  16. Wow. Was für eine starke Frau und was für ein interessantes Profil. Mir bis dato gänzlich unbekannt. Interessantes Leben. Welch ein Freigeist und so frei und ungebunden.

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  17. Astrid, da hast du wieder eine sehr interessante Frau aufgetan. Ich mag solche Möbel, die schlicht und hilfreich sind, sehr. Und solch eine "Wohnmaschine" gibt es ja auch bei uns in Berlin am Olympiastadion. Es würde mich nicht wundern wenn Charlotte Perriand, dort auch ihre Finger, oder besser Ideen mit eingebracht hat.
    Tolle Frau, toller Bericht,
    Andrea

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  18. Wusste ich doch, dass mir noch eine deiner Frauen fehlte... Warten auf den Gefährten macht's möglich, Zeit zu lesen, zu staunen, mich in Sessel zu verlieben und in dieses Ferienhaus... Dass sie in Japan war, habe ich nun ganz besonders aufgesaugt... Dankeschön für spannende, erhellende Lektüre. Liebe Grüße Ghislana

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Danke, dass du dir für ein paar liebe Worte Zeit nimmst!

Ich wünsche mir allerdings nach wie vor, dass ein Name am Ende des Kommentars steht.
Da die anonymen namenlosen Kommentare zuletzt wieder zugenommen haben, hier der ausdrückliche Hinweis:

Ich werde sie ab jetzt wieder konsequent NICHT freischalten.

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