Donnerstag, 11. Januar 2024

Great Women #363: Corita Kent

Über meine heutige Great Woman habe ich in einer Kunstzeitschrift gelesen, war verblüfft, aber gleichzeitig an die Tatsache erinnert, dass ich viel von dem kreativen Input in meiner Jugend ebenfalls einer Nonne ( vom Orden "Unserer lieben Frau" ) zu verdanken habe. Da habe ich angebissen und beschlossen, so schnell wie möglich über Corita Kent zu posten, zumal die Art ihrer Kunst mich in  jenen jungen Jahren selbst sehr angesprochen hat.


"Circus Alphabet"
(1968)

Das Leben ist eine Abfolge von Momenten.
Jeden einzelnen zu leben bedeutet,
erfolgreich zu sein.“

Corita Kent wird am 20. November 1918 als Frances Elizabeth Kent in Fort Dodge, Iowa, in eine katholische Familie hineingeboren. Sie ist das fünfte von insgesamt sechs Kindern der Edith Genevieve Sanders und ihres Mannes Robert Vincent Kent. Die Sanders-Familie - der Großvater ursprünglich aus den Niederlanden stammend - ist in Iowa ansässig. Deshalb die Geburt dort: Robert Kent arbeitet für seinen Schwiegervater, der einen Bauernhof, aber auch ein Geschäft besitzt. Die Kents, aus Irland stammend, wiederum leben in Minnesota.
Als Kind ( links )

Als das Mädchen achtzehn Monate alt ist, zieht die Familie nach Vancouver in Kanada, um dort im Gastronomiebetrieb des Bruders des Vaters mitzuarbeiten. 1923 kehren sie in die Vereinigten Staaten zurück, nachdem der mütterliche Großvater, ein sehr umtriebiger Mann, Immobilien in Hollywood/ Kalifornien erworben hat. In einer davon, in der 6616 De Longpre Avenue,  mitten im Herzen Hollywoods, wächst Corita auf.

In Coritas Kindheit ist Hollywood noch ein unscheinbarer Stadtteil von Los Angeles, aufstrebend, aber noch recht ruhig. Im Verlaufe ihres Aufwachsens wird sie eine mehr oder weniger drastische Veränderung zum Zentrum des Filmschaffens  erleben.

Das Mädchen entwirft schon früh Papierpuppen und Kleidung für diese, zeichnet, schneidet und skizziert immer wieder, schafft Plakate für die Schule. Die Eltern, vor allem der Vater, ermutigen sie dabei. Robert Kent wäre selbst lieber ein Dichter geworden, spielt Klavier und ist ein lustiger Kerl, so die Tochter später. Er sieht in dem Mädchen wohl die Chance, die er selbst nie bekommen hat. Robert Kent stirbt bereits mit sechsundfünfzig Jahren. Auch von der Mutter behält Corita den Eindruck zurück, die hätte wohl auch gerne ihr eigenes Ding gemacht. Aber sie ist katholisch, und strenggläubige Menschen haben zu dieser Zeit halt viele Kinder. Diese, ihre sechs Kinder, lassen ihr keine Chance für eine Art von Selbstverwirklichung.

Nach dem Besuch der katholischen Grundschule und der Mittelstufe der "Blessed Sacrament School", wechselt Corita nach neun Jahren auf die "Los Angeles Catholic Girls' High School", wo verschiedene Orden unterrichten, darunter auch welche des Ordens der "Sisters of the Immaculate Heart of Mary, Mother of Christ" - kurz: IHM. Die älteren Nonnen bevorzugen in ihrem Kunstunterricht das Kopieren alter  byzantinischer Meister, doch die jüngeren Lehrerinnen, darunter eine, die selbst Kurse an der UCLA belegt hat, erkennen Coritas echtes, kreatives Potenzial und bestärken sie später darin, eine künstlerische Ausbildung auch nach dem Abschluss der Highschool anzustreben. "Frances Kent, der Kunst ergeben" steht unter ihrem Foto im Highschool-Jahrbuch. Bei ihren Eltern zu Hause hängen viele ihrer Werke gerahmt an der Wand.

Corita belegt also Kurse am privaten "Otis College of Art and Design" und am "Chouinard Art Institute", wo auch Walt Disneys Animatoren ausgebildet werden.

Zur Überraschung ihrer besten Freundin tritt die 18jährige im September 1936 - wie schon ihre sieben Jahre ältere Schwester Ruth vor ihr - in die römisch-katholische Kongregation der IHM-Schwestern ein und nimmt den Namen Schwester Mary Corita an. Die Mitglieder des Ordens legen die Gelübde des Gehorsams, der Armut und der Keuschheit ab und gehen weltlichen Berufen nach, insbesondere in der Betreuung von Frauen, Kindern und Bedürftigen, in der Schulbildung, in der Pflege von Kranken und Alten und überall da, wo die Kirche sie am dringendsten benötigt. 

Corita hat sich nie vorgestellt, Grundschullehrerin zu werden, weil sie sich nicht für intelligent genug hält. Doch ihr Orden - obwohl sie noch in der "Lernphase" ist - schickt sie als Lehrerin nach British Columbia/Kanada, als dort eine Schwester in der neu gegründeten Schule in einem Indianerreservat ausfällt. Dreieinhalb Jahre unterrichtet sie dort. Obwohl sie die Versetzung zunächst "gehasst" hat, mag sie sich am Ende nicht trennen. Doch der Orden verlangt der jungen Frau einige Flexibilität ab.

"Immaculate Heart College"
1907

1941 legt sie ihren Bachelor of Arts an der "University of Southern California" (USC) ab, während sie gleichzeitig in Teilzeit am "Immaculate Heart College", einer privaten High School mit College in Los Angeles mit Kursangeboten in Kunst- & Religionspädagogik, unterrichtet. Die zehn Jahre ältere Schwester Magdalene Mary, eine ausgezeichneten Lehrerin & Leiterin in der Kunstabteilung des Colleges, wird ihre wichtigste Mentorin & Freundin.

Zehn Jahre später erwirbt sie noch einen Master of Arts in Kunstgeschichte an der USC und macht zur gleichen Zeit ihre ersten Erfahrungen mit dem Drucken im Siebdruckverfahren durch die Witwe eines mexikanischen Muralisten. Ihre Bilder sind in dieser Phase noch sehr beeinflusst von der byzantinischen und mittelalterlichen Kunst, die sie am College studiert hat, sie unterliegen aber auch - wie die sichtbaren Pinselstriche und Farbtropfen beweisen -  eindeutig den Inspirationen des Abstrakten Expressionismus, der zu dieser Zeit aktuellen Kunstströmung in den Staaten. Dem konservativen katholischen Geschmack der 1950er Jahre entsprechen solche Bilder keinesfalls.

1952, nur ein Jahr nach Abschluss ihres Studiums, gelingt Corita ein künstlerischer Durchbruch: 

"At cana of galilee" 
(1952)

Sie gewinnt den ersten Preis sowohl beim Druckwettbewerb des "Los Angeles County" als auch bei der "California State Fair" für "The Lord Is With Thee". In dem Jahr nimmt sie auch eine Vollzeit-Lehrstelle an der Kunstabteilung des Colleges an, als eine von zwei festen Mitarbeiterinnen. Ihr Ruf als Lehrerin und Künstlerin wächst schnell.

1954 beginnt sie, in ihre Drucke Text einzubauen. Die Kunsthistorikerin Donna Steele schreibt dazu: "Ihre Arbeit entwickelt sich von abstrakten, figurativen, religiösen Stücken bis zu einem Punkt, an dem sie vollständig zu typografischem Text wird. Das Wort wird zum Bild." 

Mitte der 1950er Jahre und während ihrer Experimente wird Coritas "Klassenzimmer" zu einem Anziehungspunkt für Avantgarde-Künstler wie u.a. dem Komponisten John Cage, der architektonischen Koryphäe Buckminster Fuller, die Regisseure Alfred HitchcockJosef von Sternberg, dem Typografen Saul Bass & dem Designer Charles Eames ( siehe auch dieser Post ), den Corita als einen ihrer größten Lehrer betrachtet. Sie erinnert sich: 

"From Eames or any of his works we learn to form outworn distinctions and separations and to see new relationships - to see that there is no line where art stops and life begins. He talked a lot about connections."

Für Corita geht es in der Kunst nicht um richtig oder falsch, das Warten auf die große Idee oder das richtige Motiv, sondern um das "einfach Machen". 

Die "Wirechairs" von Charles & Ray Eames - schon damals Design-Ikonen - finden sich auch auf ihrem religiösen Druck "At cana of galilee" ( Zum Vergrößern anklicken! ) 

Mit Studierenden
(1955)


Ende 1959 unternimmt Corita für drei Monate mit Schwester Magdalene Mary eine Reise in die "Alte Welt", um die Volkskunstsammlung des Colleges zu erweitern. Da Mary Magdalene eine geschickte Geschäftsfrau ist, können sie "LKW- Ladungen voll mit Dingen nach Hause bringen". Nachdem sie mehr von der Welt und verschiedenen künstlerischen Traditionen gesehen hat, erfährt ihre eigene Kunst eine Auffrischung. 

"Wonderbread"
(1962)

Einen schicksalhaften Tag erfährt sie im Jahr 1962: Sie besucht mit ihren Schülerinnen Andy Warhols bahnbrechende Ausstellung mit den Siebdrucken der "Campbell's Soup Can" in der Ferus Gallery in Los Angeles. Sie sagt zu dieser Inspiration: "Als du nach Hause kamst, hast du alles wie Andy Warhol gesehen." Sie sieht in dem zehn Jahre Jüngeren einen Seelenverwandten. Ihr künstlerisches Schaffen verändert sich schlagartig. Resultat dieses Impulses: Ihr erstes Werk der Pop-Art "Wonderbread".

"Wonderbread" besteht aus zwölf leicht unregelmäßigen ovalen Formen in überwiegend leuchtenden Primärfarben vor einem weißen Hintergrund. Vorbei sind die Farbschichten, die abstrakt-expressionistischen Tropfen und Pinselstriche. Das ist jetzt ein reiner Pop-Druck mit klaren Linien, kräftigen Farben und vereinfachten Formen. Nur der Titel gibt einen Hinweis darauf, was diese ovalen Formen sein könnten: Das wundersame Brot des katholischen Abendmahlsgottesdienstes, die Hostie, die den Leib Christi verkörpern soll.

"Solw"
81967)
Ebenso wundersam beginnen sich nun die Ideen im Werk der Corita Kent in Richtung alltägliches Bildmaterial zu verbreitern: Werbelogos, Verpackungsästhetik, Beatles-Texte, Zitate von Albert Camus und Samuel Beckett bis hin zu Bibelversen finden jetzt Eingang in ihr Druckwerk. So wie alles Kunst sein kann, kann aber auch alles religiös sein, so Sister Corita. Die Energie ihrer Bilder springt einen geradezu an! 

Sie beginnt auch, viel und billig zu drucken. Ihre Arbeit bringt nun die kommerzielle und spirituelle Welt miteinander in Einklang mit dem Ziel, eine Botschaft der Hoffnung und Freude zu vermitteln. Dem kranken Materialismus setzt sie christliche Werte gegenüber. Sie schätzt das Drucken als Technik auch deshalb, da es Bilder für ein breites Spektrum von Menschen zugänglich macht, und erklärt: "Kunst bereichert das Leben der Menschen und die Menschen müssen in der Lage sein, sie zu sehen und zu besitzen."

Die Nonne hat nun regelmäßigen Kontakt mit einflussreichen Persönlichkeiten aus L.A., darunter Filmemacher, Schriftsteller, Lehrer, Akademiker und Künstler. Sie besucht regelmäßig die Dinnerpartys  im Eames-Haushalt und begrüßt den visionären Architekten und Designer der geodätischen Kuppel Buckminster Fuller oftmals in ihrem Atelier. Buckminster Fuller beschreibt den Besuch ihres Klassenzimmers als "eine der grundlegendsten inspirierenden Erfahrungen meines Lebens."

Nun, mit Mitte vierzig, hat sich Corita zu einer absolut wichtigen und bahnbrechenden Künstlerin und Kunstvermittlerin gemausert. 1964 übernimmt sie auch die Leitung der Kunstabteilung des "Immaculate Heart College", nachdem Magdalene Mary eine Veränderung in ihrem Leben braucht und nach England geht.

1964 gestaltet Corita auch ein Wandgemälde für den Pavillon des Vatikans auf der New Yorker Weltausstellung.

Ihr Einfluss betrifft aber nicht nur die Kunstabteilung des Colleges, sondern den gesamten Konvent. Corita übernimmt nun auch die Planung der jährlichen Marientagsfeier der Institution. In den Vorjahren ist die Zeremonie immer dieselbe gewesen: Die Frauen haben weiße Gewänder getragen und sind in einer Prozession zur Messe geschritten. "Es war eine sehr dustere Angelegenheit", so Corita. 

Doch unter ihrer Führung & nach einem Brainstorming mit den Schülerinnen ähnelt das Fest eher einem Hippie-Happening mit leuchtenden Sommerkleidern, Blumen, Tamburinen und Gitarren. Es passiert so ziemlich gleichzeitig mit den Be-Ins und ähnlichen Events auf studentischer Ebene. Vorausgegangen ist diesem Fest übrigens schon eine "Frühlingsorgie" ( O-Ton Corita Kent ). Kritik bleibt da nicht aus.

"Marys Day"
(1964)

1964 entsteht auch das Werk, dass den Zorn des ortsansässigen Bischofs und konservativer Katholiken heraufbeschwört: 

Sie verwendet den Schriftzug für Del Monte-Tomaten ( Slogan der Marke: "Die saftigsten Tomaten von allen" ) als Grundlage für einen Siebdruck. Das Wort "Tomate" ist in fetter, supermarktähnlicher Schrift, die an eine Plakatwerbung oder ein Logo erinnert, gedruckt. In die Komposition hinein setzt sie sogenannte Fußnoten in kleinerer, kursiver Schrift, u.a. den Satz: "Mutter Maria ist die saftigste Tomate von allen." Das hat eine sexuelle Konnotation und geht für viele zu weit. Für Corita ist das Alltagswelt, die das Spirituelle durchscheinen lässt. Mit dem ihr eigenen Humor knüpft sie damit auch an das Ziel des Zweiten Vatikanischen Konzils an - Bekämpfung des Hungers in der Welt - und verwendet die kapitalistischen Werbestrategie, um dieses Ziel auf ihre Art zu fördern. Darüberhinaus verdeutlicht der Satz die Großzügigkeit, Freundlichkeit und Fülle der Mutter Maria und ihres Sohnes. 

Übrigens wird ihre Schrift, mit der sie ihre "Fußnoten" schreibt, aufgegriffen und in einen allgemein zugänglichen Font überführt- so weit der Einfluss der Nonne!

Der Erzbischof von Los Angeles, Kardinal James Francis McIntyre, "is not amused", betrachtet Coritas Bild als frivol, ja gar blasphemisch, und schreibt an die Generalmutter des Klosters, klagend, dass er "viele negative Kommentare und Kritik an dieser Art künstlerischer Darstellung erhalten" habe. Er stellt auch klar, wer das Sagen hat: "Was die Liturgie und die sakrale Kunst betrifft, fällt in meinen Zuständigkeitsbereich. Wir fordern hiermit erneut, dass die Aktivitäten von Schwester Corita auf ihren Klassenraum beschränkt werden."

"Let The Sunshine In"
(1968)

McIntyre - sonst ein bewundernswerter Organisator des wachsenden Bedarfs an Schulen für die Stadt - betrachtet die Beschlüsse des Zweiten Vatikanischen Konzils allerdings als Angriff auf die ewigen Wahrheiten der katholischen Kirche, während die Ordensfrauen unter dem Einfluss dieses Konzils & seines Dekrets über die zeitgemäße Erneuerung des Ordenslebens nachzudenken beginnen, was das für ihre Lebensweise heißen könnte. Sie wollen Selbstbestimmung in kleinen Dingen, etwa selbst über ihre Lektüre, Schlafenszeiten oder Gebetszeiten entscheiden, ja sogar über ihren Habit ( kurz, lang oder sogar gar keinen ). Corita Kent hatder Kardinal besonders auf dem Kieker, die bei einem Gespräch mit ihm darüber, wie sie sich in Zukunft im Unterricht kleiden wolle, keine zufriedenstellende Antwort gibt. Wandel liegt in jenen Jahren in der Luft, der auch mich in meiner Nonnenschule damals erreicht und uns "aufmüpfig" werden lässt...

Trotz der Unterschiede in ihrer Arbeit, ist der Popkünstler Andy Warhol von Coritas Arbeit fasziniert, vielleicht aufgrund seiner eigenen komplizierten Beziehung zum Katholizismus. Im Jahr 1965 schreibt eine Mitschwester  über die jährliche Winterausstellung von Schwester Corita: "Die Eröffnung ist voller Fans. Andy Warhol ist da. Er ist fasziniert von der Idee einer Künstlernonne, insbesondere einer, die die Wonderbread-Verpackung als Symbol für die Eucharistie verwendet."

Ihr Wirken als Lehrerin beschreibt Corita selbst als "Not macht erfinderisch". Langweilige Kurse fürchtet sie, weil sie selbst so viele langweilige Kurse gehabt hat. 

"Und so versuchte ich, Dinge zu tun, die anregend und aufregend waren. [... ] Deshalb habe ich viel Zeit damit verbracht, mich auf den Unterricht vorzubereiten und Materialien zu sammeln, bei denen es sich nicht unbedingt um Kunstzeitschriften oder Kunstbücher handelte, sondern einfach ... Ich glaube, ich bin von Natur aus intuitiv und Ideen kommen einfach." 

Beim Sammeln von Ideen & Anschauungsmaterial bedient sie sich auch der Fotografie von Alltagssituationen - quasi die ganze Fülle des Lebens als Inspirationsquelle! Ihre Anleitungen zur Kreativität sind so unorthodox wie ihre Kunst. Berühmt sind wohl bis heute ihre zehn Regeln, die sie für sich & ihre Studierenden aufgestellt hat ( hier nachzulesen ).

Neben dem Unterricht mit all seinen Belangen bewältigt Corita ein umfangreiches Programm aus Vortragsreisen, Ausstellungen und Druckarbeiten durch. 

1966 ernennt sie die "Los Angeles Times" zu einer der neun einflussreichsten Frauen des Jahres. Im Jahr 1967 wird sie von der "Newsweek" als "The Nun:Going Modern" auf den Weihnachtstitel gehoben. Innerhalb der katholischen Kirche häufen sich die Beschwerden über sie. Für Corita ist & bleibt die Kunst ein wichtiges Instrument zur Modernisierung und zum "Wachrütteln" in der Kirche, aber auch zur Präsentation christlicher Werte auf zeitgemäße Art & Weise. 

1968 tritt die Erschöpfung ein: Der volle Terminkalender und der ständige Druck der Kirchenoberen veranlassen sie zu einem Sabbatjahr auf Cape Cod. Dort beschließt sie, eine Befreiung von ihren Gelübden zu beantragen, und sie verlässt ihren Orden im Jahr darauf endgültig. 

Im Februar 1970 bricht gar der gesamte Orden auseinander: Die sogenannten No-nos, also eine kleine konservative, aber lautstarke Gruppe, bleibt und führt das College in Los Angeles weiter ( heute berühmteste Schülerin ist übrigens Meghan Markle, die dort ihren Abschluss gemacht hat ). Von den "Go-gos", also dem progressiven Flügel, lassen 150 Frauen das Ordensleben hinter sich. Rund 300 Schwestern gründen eine Laiengemeinschaft, die "Immaculate Heart Community". Die Gemeinschaft sieht sich als ein "Teil des Kampfes der Frauen für Gleichberechtigung". Diese dramatischen Ereignisse werden bei uns in Europa wohl nicht in dem Maße wahrgenommen.

"American Sampler"
(1969)

Corita Kent ist mittlerweile fünfzig Jahre alt und steht zum ersten Mal in ihrem Leben auf eigenen Füßen. Sie muss sich nun selbst um ihren Alltag kümmern & ihre Rechnungen bezahlen. Sie kann weder Auto fahren noch kochen, als sie an die Ostküste zieht, nach Boston, wo ihre Freundin Celia Hubard lebt, Leiterin der Botolph Group, eines katholischen, sozialen Clubs mit vielen Künstlermitgliedern. 1970 mietet sie eine eigene Wohnung. Der Traum von einer Beziehung erfüllt sich für sie nicht. Schlaflosigkeit und Depressionen sind der Preis für ihre Unabhängigkeit von einer community.

Mit dieser dramatischen Lebensveränderung wird nun auch ihre Arbeit zunächst radikaler. Von der Zensur der Kirche befreit, kann sie in den turbulenten späten 1960er Jahren ihre politischen Ansichten energischer zum Ausdruck bringen. Sie sagt: 

"Ich bewundere Menschen, die marschieren. Ich bewundere Menschen, die ins Gefängnis gehen. Ich habe nicht den Mut dazu. Also tue ich, was ich kann." 

Was sie tun kann, ist, durch ihre Drucke die Aufmerksamkeit auf Themen wie Hunger, Rasse, Bürgerrechte, Armut und die Gewalt der amerikanischen Militäraggression in Vietnam zu lenken.

Nach einer Flut politischer Arbeiten von 1969 bis Anfang der 1970er Jahre wird ihr Werk dann aber wieder deutlich konzilianter. Wie viele Aktivisten dieser Zeit wird sie irgendwann auch des Kämpfens  müde und meint, dass "die Zeit, Dinge physisch niederzureißen, vorbei ist."

Dass der Kunstmarkt schlecht bezahlt, spürt sie jetzt. Sie muss also Aufträge von Firmen annehmen, um über die Runden zu kommen. 1971 entsteht deshalb auch das riesige "Rainbow Swash"- Kunstwerk für die Benzintanks der Boston Gas Company. ( Als die Company 1992 den ursprünglichen Tank abreißen will, gibt es so viel Aufsehen, dass sie das Design sofort auf einem neuen Tank reproduzieren. ) 

1974 wird bei ihr erstmals Krebs diagnostiziert. Sie reagiert darauf auf ihre Art: Sie konzentriert sich auf die persönliche Selbstbeobachtung, artikuliert aber immer noch weltweite Botschaften des Friedens und der Liebe ( "Love is a hard work" z.B. ) in ihren Arbeiten, widmet sich also zunehmend einer Philosophie des Lebens und ihren persönlichen Kämpfen.  

1977 tritt der Krebs nochmals auf, sie arbeitet jedoch weiter in einem ihr nun gemäßen Tempo. Ihre Arbeit wird noch introspektiver, voller spiritueller Botschaften und von einem breiteren Spektrum an künstlerischen Techniken & Traditionen beeinflusst. Reisen zurück nach Los Angeles unternimmt sie nur, um die Galerie zu besuchen, die ihre Schwester für sie in North Hollywood, ihrer früheren Gemeinde, betreibt.

In den späten 1970er und frühen 1980er Jahren ist ihr künstlerisches Schaffen hauptsächlich eine Mischung aus Siebdrucken in sanften Farbtönen und kleinen, pastellfarbenen Aquarellen, weist aber auch großformatigen öffentlichen Arbeiten auf, die dem täglichen Leben eine positive Note verleihen sollen. Sie  arbeitet nun nur noch ausschließlich mit den Hambly Studios in Santa Clara, Kalifornien, als Druckerei und korrespondiert mit diesen per Post. 

1985 entwirft sie die mittlerweile berühmte Briefmarke "Love" für die US-Postbehörde, die 700 Millionen mal verkauft wird.

Um ihren Lebensunterhalt zu verdienen, entwirft sie auch Visitenkarten und Briefbögen für lokale Immobilienmakler als auch Anzeigen für nationale Kampagnen sozial aktiver Organisationen wie Hands Across America, Amnesty International, die American Civil Liberties Union und Physicians for Social Responsibility.

1970er Jahre

Obwohl es immer wieder Phasen der Remission gibt, erliegt Corita 1986 schließlich einem erneuten Auftreten des Krebses. Sie stirbt am 18. September im Haus einer Freundin in Boston im Alter von 67 Jahren. 

Eine Trauerfeier hat sie nicht gewollt, wenn, dann höchstens eine Party. Ihre Asche wird im Vorgarten des Hauses ihrer Schwester verstreut, die ihre Galerie in L.A. betreut hat.

Ihre Urheberrechte und unverkauften Kunstwerke überlässt sie der "Immaculate Heart College Community", die daraufhin 1997 das "Corita Art Center" gründet.

Seit den frühen 2000er Jahren erfreut sich ihr Werk wieder zunehmender Anerkennung auch außerhalb der kleinen Künstlerkreise von Los Angeles und Boston. Die Ausstellungen ihrer Arbeiten nehmen von Jahr zu Jahr in den Vereinigten Staaten und in jüngerer Zeit auch im Vereinigten Königreich, in Australien, Portugal, der Schweiz, Deutschland und Frankreich zu. 

Im letzten Jahrzehnt hat sie eine Wertschätzung erfahren als eine der originellsten und bedeutendsten Pop-Künstlerinnen ihrer Zeit. Donna Steele, Kuratorin ihres Werks, meint sogar, es sei 

"so wichtig wie das von Warhol […] Es steht auf Augenhöhe mit den Werken der Pop-Art-Größen – Menschen wie Robert Rauschenberg, Jasper Johns, Richard Hamilton und Peter Blake. Es ist groß und mutig und es ist aktuell."

"It certainly is time for a female artist of her caliber to be recognized with a facility of note." 

Dem ist nichts hinzuzufügen.


 



7 Kommentare:

  1. Liebe Astrid, ganz herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag wünsche ich dir von Herzen. Glück, Gesundheit und Lebensfreude mögen deine Begleiter sein. So viele Momente deines Lebens haben dich geprägt und zu einem wunderbaren Menschen gemacht, das kann man in deinen Posts herauslesen.
    Immer wenn ich irgendwo am warten bin, lese ich gerne deine Frauenporträts die immer sehr ausführlich und interessant geschrieben sind. Mach dir einen schönen Tag mit vielen Glücksmomenten.
    L G Pia

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    1. Ach, dies ist eine sehr gute Idee, sich so wartend die Zeit zu vertreiben. Die werde ich übernehmen. Dass ich da nicht selbst darauf gekommen bin.
      Auch von mir nochmal von Herzen alles Liebe und Gute zum Geburtstag, liebe Astrid!
      Liebe Grüße
      Ingrid

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  2. Heute bin ich ein klein wenig erschüttert, denn ich kannte diese ungewöhnliche Frau und Künstlerin gar nicht! Dabei ist sie wirklich so bemerkenswert! Nicht nur die Synthese von Nonne und Kunst und dann auch noch Nicht-mehr-Nonne und Kunst, finde ich so beeindruckend, sondern ihre Kunst ganz allgemein.
    Auch der Ansatz, dass Kunst für alle erschwinglich sein muss, da es eine Seelennahrung ist. Ganz meine Meinung.
    So schön, dass Du uns heute Corita vorgestellt hast. Danke!
    Dir persönlich wünsche ich zum heutigen Geburtstag auch ganz viel Seelennahrung durch liebe Menschen, Kunst und einfach durch das Leben... Happy birthday, liebe Astrid! <3<3<3
    Herzlichst, Sieglinde

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  3. Hallo liebe Astrid, alles Liebe und Gute zu deinem Geburtstag. Du schreibst immer wunderbar über ungewöhnliche Frauen, finde ich bemerkenswert. In einer ruhigen Stunde muss ich mal einiges bei dir lesen.
    Liebe Grüße und einen schönen Tag.
    Tilla

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  4. Warum kannte ich bisher ihren Namen nicht? Was für eine außergewöhnliche Frau! Bewundernswert, wie sie sich innerhalb der Kirche durchsetzte und am Ende noch einmal ganz neu durchstartete.
    Happy Birthday!
    Liebe Grüße
    Andrea

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  5. Liebe Astrid,

    ich schließe mich gern meinen Vorschreiberinnen an und gratuliere dir unbekannterweise recht herzlich zu deinem Geburtstag.
    Mögen dir viele sonnige Stunden beschert werden, die du mit deiner Familie, deinen Freunden und Blogleserinnen :-) oder auch allein verbringen kannst.

    Corita Kent war mir komplett unbekannt. Umso lesenswerter finde ich deinen Beitrag. Eine interessante Frau, die ihren Weg ging, als viele Frauen das vielleicht nicht mal zu träumen wagten.

    Eine kleine Gemeinsamkeit habe ich sogar mit ihr ;-) ich war auch schon einmal auf Cape Cod, wunderbar. Dort würde ich sehr gern noch mal hin.

    Herzliche Geburtstagsgrüße
    sendet dir
    Claudia

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  6. Liebe Astrid, auch hier nochmal alles Liebe zum Geburtstag und auf ein inspirierendes buntes Lebensjahr. Eine bemerkenswerte Künstlerin, die eine Gratwanderung zwischen ihrer Berufung und der Kunst leben musste. Ihre Einstellung, allen ihre Kunst und ihre Botschaften näher zu bringen, finde ich fantastisch. Danke für dieses schöne Porträt an deinem Ehrentag.
    Genieße den Abend - lieben Gruß von Marita

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Danke, dass du dir für ein paar liebe Worte Zeit nimmst!

Ich wünsche mir allerdings nach wie vor, dass ein Name am Ende des Kommentars steht.
Da die anonymen namenlosen Kommentare zuletzt wieder zugenommen haben, hier der ausdrückliche Hinweis:

Ich werde sie ab jetzt wieder konsequent NICHT freischalten.

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