Donnerstag, 15. August 2019

Great Women # 190: Anna Walentynowicz

So wie ich aufgrund familiärer Verquickungen dem Land der hier Porträtierten verbunden geblieben bin, hat der Herr K. die Geschehnisse in einem weiteren östlichen Nachbarland verfolgt, vor allem als die Danziger Lenin-Werft immer wieder von sich reden machte. Es war die Nachfolgeeinrichtung jener Werft, an der sein Großvater vor dem 2. Weltkrieg als Ingenieur gearbeitet und seine Mutter in den angrenzenden Wohngebäuden ihre Jugend- & Studentinnenzeit verbracht hat. Er selbst hat in der schönen alten Stadt das Licht der Welt erblickt. Trotz all unserer Aufmerksamkeit ist nie der Name einer Frau im Zusammenhang mit den umwälzenden Ereignissen in unserem Gedächtnis geblieben, obwohl sie doch mehr als eine wesentliche Rolle gespielt hat - Grund genug, der Erinnerung an Anna Walentynowicz wieder auf die Sprünge zu helfen! 


Anna Walentynowicz kommt heute vor 90 Jahren, am 15. August 1929, als Anna Lubczyk im Dorf Sienne ( heute Sadowe ) nahe bei Równe im damaligen Wolhynien/Ostpolen ( heute Ukraine) zur Welt. Ihre Eltern Nazar Lubczyków und Pryśka Paszkoweć sind streng gläubige Bauern und Eltern von fünf weiteren Kindern, darunter ein Junge, den die verwitwete Mutter in die Ehe gebracht hat. 

Zu sagen, dass ihr junges Leben sehr hart gewesen ist, wäre eine glatte Untertreibung: Mit der Eroberung Wolhyniens durch die Nazis im Sommer 1941 ist ihre Schulzeit zu Ende, und Anna muss auf einem Gut in Pustomyty ihr Brot selbst verdienen. Die Verwalterfamilie nimmt das 13-14jährige Mädchen 1942 oder 43 mit gen Westen, weil es heißt, die Eltern seien tot und die Brüder in die Sowjetunion deportiert - die Informationen sind da teilweise sehr widersprüchlich und lückenhaft. Der Historiker Timothy Snyder bezeichnet diese Weltgegend als "Bloodlands", weil dort die totalitären Regime unter Stalin und Hitler ihre Mord- und Vernichtungsfantasien in kürzester Zeit auf brutalste Art & Weise Wirklichkeit werden ließen, und von daher scheint mir ein solches Schicksal auch für Annas Familie sehr wahrscheinlich.

Zuerst kommen sie gemeinsam in Malcowiez ( heute Rudniki ) in Nordpolen unter, später ziehen sie zusammen in die Nähe von Danzig, wo sie einen Bauernhof zugewiesen bekommen. Gegen die ständigen Misshandlungen durch ihre Arbeitgeber beginnt Anna sich zu wehren und zeigt den Bauern an, der sie schlägt, zieht die Anzeige aber zurück, als er sie nach einem Selbstmordversuch endlich laufen lässt. Sie kommt als Kindermädchen in der Familie eines Armeearztes unter, die sie endlich menschlich behandelt, ihre unzureichende Bildung wett- und mit dem Gedanken von der Gleichheit aller Menschen in einer  neuen Volksrepublik vertraut macht. Anna setzt ab da all ihre Hoffnungen in diesen neuen Staat.

1952
Als der Arzt in eine andere Ecke Polens versetzt wird, verdingt Anna sich in einer Bäckerei, dann als Packerin in einer Margarinefabrik. Ihre Entscheidung, 1950 eine Arbeit in der Danziger Lenin-Werft aufzunehmen, begründet sie später so: 
"Mich beeindruckte die an der Mauer prangende Losung ‚Die Jugend baut Schiffe‘. Ich begann eine Schweißerausbildung, die ich begeistert absolvierte. Ich war der Volksrepublik Polen dankbar, dass sie es mir ermöglichte, zu arbeiten und zu leben.
Anna wird aufgrund ihrer zierlichen Figur und ihrer Geschicklichkeit an den schwierigsten Stellen eingesetzt, wo kein Mann hineingepasst hätte, ohne Schutzmaske gegen die beim Schweißen entstehende Strahlung, weil dafür kein Platz gewesen ist, und ist bald eine Vorzeigeaktivistin, die 270 Prozent der vorgegebenen Norm schafft ( das Foto links erscheint in den Zeitungen ). Die ehrgeizige, energiegeladene junge Frau wird eine angesehene "Heldin der Arbeit".

1951 tritt sie in den "Polnischen Jugendverband ( Związek Młodzieży Polskiej )" ein und fährt mit diesem zu den Weltfestspielen der Jugend und Studenten nach Ost-Berlin. "Damals begegnete mir zum ersten Mal die Lüge. Erstmals sollte ich im Namen meiner Organisation andere anlügen." Da verlässt sie den Verband wieder und schließt sich der "Frauenliga ( Liga Kobiet)" an, weil sie anderen helfen will, aber auch, weil von ihr verlangt wird, sich weiterhin gesellschaftlich zu engagieren. 

Mitglied in der "Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (Polska Zjednoczona Partia Robotnicza /PZPR )" zu sein, lehnt sie ab: "Nein, ich habe doch nicht für die Partei gearbeitet. Ich wusste nur, wenn ich bei der Schweißnaht nicht sorgfältig arbeite, dann geht das Schiff im Sturm womöglich unter, es gibt viele Tote und ich bin verantwortlich." Ihre Weltsicht ist nach wie vor eher durch ihren ihre religiösen Anschauungen geprägt.

1952 bringt sie ihren Sohn Janusz zur Welt, den sie alleine, in einem Arbeiterwohnheim lebend, groß zieht, weil der Vater des Jungen untreu ist. Ihre wahre Familie ist aber ihre Arbeit und die Werft, wo sie sich voller Elan einbringt.

Obwohl eine gewissenhafte, ausgezeichnete Schweißerin soll sie sich aber damit abfinden, dass Männer bei Planübererfüllung besser bezahlt werden als Frauen. Männer und Frauen gelten zwar als gleichberechtigt, machen auch die gleiche harte Arbeit, werden aber ungleich bezahlt. Die Begründung der Werksleitung: "Frauen gehören in die Küche. Frauen können nur mit Blumen arbeiten. Und deshalb war der Lohn niedriger." Sie beschwert sich darüber und wird 1953 zum ersten Mal verhaftet und acht Stunden lang verhört.

Janusz, Anna und Kazimierz Walentynowicz
Anna will ihren Sohn nicht auf Dauer allein aufziehen und nimmt deshalb den Heiratsantrag des des Kollegen Kazimierz Walentynowicz, Werftschlosser & Trompeter 1964 an, obwohl sie ihn nicht liebt. Doch "diese Ehe der Vernunft, wandelt sich in eine große Liebe", und Anna erlebt wohl die glücklichste Zeit ihres Lebens. 

Als sie nicht schwanger wird, lässt sie sich untersuchen. Die Diagnose: Krebs! Und die Ärzte geben ihr nur noch fünf Jahre Lebenszeit! Im Sommer 1966 wird sie umgesetzt aufgrund der Entscheidung einer Ärzte-Sozialkommission und erhält einen Arbeitsplatz als Kranführerin.

Der erste Versuch, Anna zu entlassen, erfolgt 1968, nachdem diese versucht hat, einen Fall von Veruntreuung von Geldern aufzuklären. Der Vorwurf: Sie störe die Arbeit des Kollektivs. Die Kollegen in ihrer Werksabteilung protestieren und erreichen so, dass die geschätzte Kollegin lediglich in eine andere Abteilung  strafversetzt wird, wo sie weiter als Kranführerin arbeiten kann. 

Demonstranten tragen den erschossenen Zbyszek Godlewski
in Gdynia (Danzig) am 17. Dezember 1970
Als im Dezember 1970 ein Streik auf der Leninwerft ausbricht, ausgelöst durch plötzliche drastische Preiserhöhungen für Lebensmittel und Gegenstände des täglichen Bedarfs, und die hungernden Werftarbeiter die Scheiben des Parteibüros einwerfen, setzt die Partei zur Niederschlagung der Unruhen Militär ein und mindestens neunundvierzig Arbeiter sterben. Als einer der Rädelsführer wird der Werftelektriker Lech Wałęsa einige Tage lang eingesperrt. 

Anna begleitet diese Proteste,  indem sie die Streikenden mit Essen und Tee versorgt - ihre Unterstützung hat auch immer einen mütterlichen Aspekt - und wird schließlich in eine Delegation gewählt, die im Januar darauf zu einem Gespräch mit Edward Gierek, dem neuen Ersten Sekretär des Zentralkomitees der PZPR, aufbricht, um mit ihm über die Missstände zu diskutieren. Władysław Gomułka, bis dahin Parteichef, ist als Folge der Unruhen entmachtet worden.

1971 ist die Zeit um, die die Ärzte ihr gegeben haben. Doch es ist nicht Anna, die stirbt, sondern Kazimierz, völlig überraschend an Krebs im Oktober des Jahres. Bei ihr selbst werden keine Tumore mehr festgestellt. Sein Tod trifft sie schwer. Sie ist jetzt 42 Jahre alt und weiß nicht, wie es weitergehen soll. Doch irgendwann sieht sie es als eine Fügung Gottes an, dass ihr Leben aus einem bestimmten Grund verschont geblieben ist, "um etwas zu tun, das sich lohnt". Und unerschrocken geht sie das nach der Überwindung ihrer Trauer an: 

Das Haus in der aleja Grunwaldzka in Wrzeszcz (Langfuhr),
in dem Anna Zeit ihres Lebens gewohnt hat
Im Mai 1978 schließt sie sich der "Freien Gewerkschaften der Küste ( Wolne Związki Zawodowe Wybrzeża )" an, wirkt in der Redaktion von deren Zeitschrift "Robotnik Wybrzeża" mit, beteiligt sich an der Weiterverbreitung illegaler Schriften und Flugblätter und organisiert eine Gedenkveranstaltung zum Jahrestag der Ereignisse des Dezembers 1970.

Ihre Wohnung wird eine wichtige Anlaufstelle für Dissidenten und Versammlungsort der Mitglieder der Freien Gewerkschaften. Im Juli unterzeichnet sie die "Charta der Arbeiterrechte ( Karta Praw Robotniczych )", ein programmatisches Manifest der unabhängigen polnischen Gewerkschaftsbewegung. Zu der Gruppe gehört auch Lech Wałęsa, der nach dem blutigen Streik von 1970 eingesperrt gewesen ist und seit 1976 keine Arbeit mehr bekommt. Anna wird Patin seines fünften Kindes. 

Auch für Anna hat ihre Untergrundarbeit Folgen: Ihre Wohnung in der al. Grunewaldzka wird  observiert. Immer wieder wird sie für 48 Stunden in Polizeigewahrsam genommen, schikaniert und ihr angedroht, dass sie ihren Sohn nie wieder zu sehen bekommt. Man untersagt ihr, während der Arbeitspausen ihren Kran zu verlassen, sperrt sie im Umkleideraum ein, unterzieht sie Leibesvisitationen, spricht Verwarnungen und Verweise aus. Zuerst hat sie Angst. Aber Andrzej Gwiazda, Mitbegründer der "Freien Gewerkschaften der Küste", weiß diese zu zerstreuen, indem er ihr klar macht, dass man in Wahrheit vor ihr Angst hat. Ihre Haltung ändert sich daraufhin: "In Polen mag es arme Menschen geben, es darf aber keine eingeschüchterten Menschen geben."

Mit dem Sohn in den Bergen
Im Dezember 1978 wird sie für vier Monate in ein anderes Werk strafversetzt, das mit der Danziger Werft kooperiert. Am 31. Januar 1980 – nach einem weiteren Versuch, sie zu entlassen – treten ihre Kollegen in der der Danziger Werft in einen dreiwöchigen Streik, daraufhin versetzt man Anna in das Lager der Werft. Sie zieht vor Gericht und erreicht ein für sie günstiges Urteil.

Als Anna Walentynowicz wieder einmal eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen auf der Lenin-Werft fordert, wird sie am 7. August 1980 fristlos entlassen – nach fast dreißig Jahren Betriebszugehörigkeit. Diese Entlassung ist der berühmte Tropfen auf den heißen Stein, denn es gärt nach Preiserhöhungen im Sommer wieder einmal an der Küste. Auch die Normen in den Betrieben sind gerade erhöht worden, weil dem Land mal wieder die Zahlungsunfähigkeit droht.

Dass diese Entlassung aber wie beim Dominoeffekt eine Folge von weiteren gleichartigen oder ähnlichen Ereignissen auslöst, als da sind Streikbewegungen in ganz Polen und in Folge im  gesamten Ostblock, die ihn ins Wanken bringen und die Mauer in Berlin fallen lassen - das kann man sich zu diesem Zeitpunkt gar nicht ausmalen. Privates verschränkt sich hier mit der Weltpolitik...

Am Morgen des 14. August werden die ersten Flugblätter auf der Werft verteilt, die eine Wiedereinstellung von Anna sowie tausend Zloty mehr Lohn fordern. Bald schon bewegen sich 500 Arbeiter zum Tor, dann 2000. 17.000 werden es am Ende sein. Die Werft wird geschlossen, die Forderungen an die Leitung übermittelt, und Lech Wałęsa klettert über die Mauer und macht sich zum Wortführer der Protestierenden.

Die Werftsleitung lenkt tatsächlich schnell ein, schickt das Auto des Direktors zu Annas Wohnung, und bald kommt sie im Triumph auf die Werft zurück und spricht zu den Versammelten. Alle bekommen eine Gehaltserhöhung und auch die Sicherheit am Arbeitsplatz wird verbessert. Wałęsa erklärt den Streik für beendet. Aber dann verriegelt Anna das Streiktor erneut, denn sie meint: Nichts sei vorbei, jetzt gehe es erst los. Freie Gewerkschaften müssen her, damit so etwas nie wieder passieren kann. Wir wollen nicht nur drei unserer Forderungen erfüllt sehen, sondern alle 21. 

Anna Walentynowicz spricht zu ihren Kollegen, hinter ihr Lech Wałęsa-
westliche Medien wie der "Spiegel"untertiteln das Foto mit  "Arbeiterin antwortet Werkdirektor Gniech"
und unterschlagen ihren wesentlichen Beitrag zum Streik sowie ihren Namen

Man sagt, das sei das typisch Polnische an ihr, dass sie Träume höher einschätzt als die sogenannte Realität.

Mit ihrem Eingriff verstößt sie gegen die vom Streikkomitee mit der Werftleitung ausgehandelte Vereinbarung, unterstützt aber damit die Kollegen anderer bestreikter Betriebe an der Ostseeküste.  Ein Konflikt mit Lech Wałęsa ist unausweichlich. 

31. August 1980
Später ist sie überzeugt, ihre Genossen haben sie damals verraten, um die "guten Posten" unter sich aufzuteilen. "Sie haben sich nur um ihre eigenen Interessen gekümmert."

In der Nacht zum 17. August gründet sie damals aber noch mit Lech Wałęsa und Vertretern verschiedener Berufe das "Überbetriebliche Streikkomitee", das die Liste mit den 21 Forderungen an die Parteileitung überstellt. 

Nachdem sich der Arbeitskampf auf ganz Polen ausgedehnt hat, akzeptiert die Regierung in Warschau am 31. August 1980 die Forderungen der Streikenden. Das ist die Geburtsstunde der "Unabhängigen Selbstverwalteten Gewerkschaft Solidarität (Solidarność)", die zu einem Sammelbecken der Opposition wird.

Der Konflikt mit Lech Wałęsa setzt sich aber weiter fort, weil Anna eher Andrzej Gwiazda unterstützt und die "diktatorischen Züge" des Vorsitzenden kritisiert. Im Frühjahr 1981 versucht man sie aus dem Präsidium des "Überbetrieblichen Streikkomitees" zu verdrängen. Auch als eine Kommission die gegen sie erhobenen Vorwürfe widerlegt, entzieht die Solidarność-Delegiertenversammlung der Werft Anna in einer Abstimmung ihr Mandat für den Ersten Landeskongress der Gewerkschaft. Besonders Frauen werden im Laufe der Zeit zunehmend in den zweiten Rang der "Solidarność" geschoben.

Während eines Treffens mit Arbeitern in Radom versuchen 1981 zwei Beamte des Geheimdienstes Anna mit Furosemid zu vergiften, was durch eine Verkettung von Zufällen misslingt ( Anna bekommt erst später durch Einsicht in ihre Akte davon Kenntnis ).

Nach Ausrufung des Kriegsrechts in Polen am 13. Dezember 1981 ist sie natürlich wieder bei einer Protestaktion dabei. Fünf Tage später wird sie verhaftet und bis zum 24. Juli 1982 festgehalten. Nach ihrer Freilassung erhält sie zwar ihr Gehalt weiter, ohne dafür arbeiten zu müssen, nur damit sie von der Werft fernbleibt. Doch schon Ende August des Jahres kommt sie wieder in Haft, nachdem sie einen Hungerstreik in Tschenstochau, der später in ihre Danziger Wohnung verlegt wird, organisiert hat. Auch ihr Sohn Janusz wird interniert.

Während ihres Prozesses im März 1983
Es ist bestürzend, wie das polnische Regime diese zierliche, unbeugsame Frau kleinzukriegen versucht:

Sie wird psychiatrischen Untersuchungen unterzogen und medial von Vizepremier Mieczysław Rakowski verunglimpft,  im März 1983 vor Gericht gestellt und zu einem Jahr und drei Monaten Haft, ausgesetzt zu drei Jahren Bewährung, und 16.000 Złoty Geldstrafe verurteilt. Im Dezember 1983 kommt sie erneut ins Gefängnis, wird aber aus Gesundheitsgründen vier Monate später entlassen. Nun findet sie ihre Wohnung komplett ausgeräumt vor, ihre Rente ist gestrichen, Arbeit auf der Werft verwehrt. Und immer wieder Festnahmen für  48 Stunden – das  einzig gesetzlich erlaubte Unterdrückungsmittel gegen Oppositionelle nach der Unterzeichnung des KSZE -Vertrages von Helsinki

Doch Anna bleibt ungebrochen - und außerhalb Polens so gut wie unbekannt, während Wałęsa am 5. Oktober 1983 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wird...

Auch in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre bleibt sie aktiv und sympathisiert nun mit der radikalen "Kämpfenden Solidarność (Solidarność Walcząca)". Den "Runden Tisch" in Warschau lehnt sie ab, der vom 6. Februar bis 5. April 1989 mit der Umwandlung des politischen Systems in Polen beginnt.

Nach dem Sturz des Regimes bleibt sie also weiterhin Dissidentin. Früher hat sie sich gegen Kompromisse mit dem Staat ausgesprochen, jetzt widerspricht sie der Regierungsübernahme von "Solidarnosc" und distanziert sich von ihren ehemaligen Mitstreitern, insbesondere Lech Wałęsa, der im Dezember 1990 polnischer Präsident wird. Ihre Ansicht: Die Gewerkschaft sei gegründet worden, um die Arbeiter zu verteidigen, nicht um das Land regieren. Im März 1991 organisiert sie noch einen letzten Streik, dann geht sie quasi in die Rente und kümmert sich um eher private Dinge: So bekommt sie 1996 Kontakt zu den Überlebenden ihrer Familie in der Ukraine und besucht sie immer wieder.

Sie hätte eine Berühmtheit im neuen Polen sein können, denn sie spielt in verschiedenen Filmen eine Rolle ( schon 1981auf dem Höhepunkt der Bewegung in "Man of Iron" von Andrzej Wajda, als sie sich selbst spielt ): 2001 dreht Sylke Rene Meyer eine Dokumentation "Wer ist Anna Walentynowicz?" ( das Video ist hier zu sehen ), 2005 der deutsche Regisseur Volker Schlöndorff einen Spielfilm über ihr Leben mit dem Titel "Strike" ( ursprünglich "Die vergessene Heldin" ). Sie mochte es einfach nicht ( und legte sich auch mit Schlöndorff an )!

2000 lehnt sie die Ehrenbürgerwürde der Stadt Gdańsk ab, unterstützt aber die Beschäftigten der Werft 2001 erneut, als sie  streiken. 2003 wiederum weist sie eine Ehrenpension zurück, die ihr der damalige polnische Ministerpräsident Marek Belka anbietet, eine Entschädigung für die Verfolgung in den 1980er Jahren hingegen klagt sie ein (  70.000 Złoty werden ihr zuerkannt ). 

Den Feierlichkeiten zum 25-jährigen Jubiläum der "Solidarność" 2005 bleibt Anna fern, doch den Orden des Weißen Adlers, die höchste Auszeichnung der Republik Polen, nimmt sie 2006 aus der Hand von Staatspräsident Lech Kaczyński entgegen - sie ist nun ganz und gar zur Symbolfigur für das konservative, katholische Polen geworden.

Eigentlich will sie auch gar nicht mitfliegen, weil sie sich nicht gut fühlt:

Doch der Vorschlag kommt von Präsident Lech Kaczyński, dem Anna großen Respekt entgegenbringt, seit er  als  junge Rechtsprofessor Anwalt für die "Solidarność" gewesen war. Sie solle dabei sein unter den verschiedenen Würdenträgern, um des Massakers von Katyn zu gedenken, bei dem im Jahr 1940 auf Befehl von Stalins Handlanger Lawrentiy Beria bis zu 20.000 polnische Offiziere und Intellektuelle ermordet worden sind. 

Und so kommt es, dass Anna Walentynowicz so stirbt, wie sie gelebt hat: in Nebel und Feuer. 

Beim Anflug auf den Militärflugplatz Smolensk-Nord am 10. April 2010 stürzt die Maschine ab, die ganze Delegation kommt ums Leben. Auf der offiziellen Liste der Toten dieses Absturzes steht sie auf Platz 79. Achtzig Jahre ist sie geworden.

Am 21. April 2010 wird sie auf dem Srebrzysko-Friedhof in Gdansk-Wrzeszcz beerdigt. 2012 wird der Leichnam exhumiert, weil die sterblichen Überreste von Anna Walentynowicz und Teresa Walewska-Przyjałkowska vertauscht worden sind.
"Von Anna Walentynowicz können wir lernen, was ein Einzelner doch alles ausrichten kann. Unsereins denkt oft kompliziert, Menschen mit einfachen, klaren Überzeugungen belehren uns da eines Besseren. Die Geschichte geht merkwürdige Wege, manchmal mag etwas noch so unrealistisch erscheinen, aber man muss es versuchen. Die Wirkung kann weltbewegend sein. Es gibt keinen Grund, die Segel zu streichen", schreibt Volker Schlöndorff hier in seinem Nachruf.
Seit April dieses Jahres gibt es auch ein Denkmal ganz in der Nähe ihrer Wohnung, das an "Anna Solidarność" erinnert. Sie steht dort auch für die fünf Millionen polnischer Frauen, die sich in den 1980er Jahren in der polnischen Gewerkschaft "Solidarność" engagierten und damit zur politischen Wende 1989 beigetragen haben. Im kulturellen Gedächtnis Europas ist der Beitrag dieser Aktivistinnen nahezu ausradiert und hat die ganze Geschichte dieser Bewegung auf männliche Akteure verkürzt. Ich hoffe, mein kleiner Beitrag hilft, der Realität wieder gerecht zu werden.


7 Kommentare:

  1. Liebe Astrid,
    wieder ein sehr tolles Portrait. Ich bin sehr beeindruckt vom Leben dieser Frau. Und sie ist wieder ein gutes Beispiel dafür, wie wichtig und gut Deine Portraits, zumindest für mich, sind. Denn von dieser Frau hatte ich noch nie gehört. Diese Streiks und die Solidarność bringe ich immer nur mit Lech Wałęsa in Verbindung. Das war die Person, die damals dauernd in den Nachrichten war, alle anderen hat es, soweit ich mich erinnern kann, einfach nur als große Masse gegeben.
    Gut, dass Du etwas mehr Licht in diese Zeit gebracht hast und eine sehr beeindruckende Frau, dem Vergessen oder der Nichtbeachtung (wahrscheinlich beides) entrissen hast.
    Ich wünsche Dir noch eine wundervolle Restwoche.

    Viele liebe Grüße
    Wolfgang

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  2. Wow, was für eine streitbare und sicher nicht einfache Frau und was für ein Leben und Sterben!
    Kein Wunder, dass sich Filmemacher für sie interessierten.
    Dass sich die Medien (selbst der Spiegel ist da nicht die Ausnahme) und Historiker*innen nicht so sehr für sie interessierten, ist hingegen leider mal wieder typisch. Lech Wałęsa allenthalben und wo sind die Frauen? Und das in Polen, wo sie alle im Arbeitsprozess steckten und damit auch im Streik. Unfassbar für mich, dass die Geschichte einfach darüber hinweg ging.
    Danke für dieses starke Portrait,
    sagt Sieglinde

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  3. Danke, das war wieder eine faszinierende Geschichte von einer Frau die ich gar nicht kannte.
    Lieben Gruß!

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  4. Danke, dass Du uns mit der tapferen Anna Walentynowicz bekannt gemacht hast. Leider ist es wieder mal gelaufen wie immer. Lech Wałęsas Name ist allen geläufig, Annas Name ist nur in Polen bekannt.
    Liebe Grüße
    Andrea

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  5. von Helga:

    Liebe Astrid,

    die gute kämpferische Anna passt so gerade zu meiner über alles geliebten Mama.
    Frauen hatten es noch nie leicht, sie mußten immer kämpfen. Mama Jahrgang 1905
    gerät hier fast zur Parallele. Besuch der höheren Mädchenschule, später Sekretärin bei Telefonbau und Normalzeit, 1942 Kriegerwitwe, zwei Kinder. Beim Aufbau von Deutschland und den Anschaffungen die man sich nun gönnen konnte, fehlte halt auch das Geld und so nahm Mama eine Stelle bei Grundig an und lernte mit Mitte 50 noch löten. Der Meister wollte sie zur Vorarbeiterin machen so begeistert war er von ihren Lötkünsten. Auch zur späteren Aufbesserung der Rente sollte es dienen.
    Dein Post ist wieder hervorragend recherchiert und unglaublich interessant. Lech Walesa war mir nur der Name geläufig, sonst interessierte man sich lieber für Keilabsätze und Betty Barcley Kleider in diesem Jahrzehnt.

    Danke und liebe Grüße von der Helga

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  6. erstaunlich wie du diese Frauen immer wieder "aufstöberst"
    wieder eine die in die zweite Reihe gedrängt wurde nur weil sie eine Frau war..
    was sie wohl heute zu den Verhältnissen sagen würde?
    Auch sie war mir unbekannt
    danke für das Portrait

    liebe Grüße und einen schönen Sonntag

    Rosi

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  7. Wie gut, dass ich jetzt auf Umwegen über die Kommentare in deinem Wochenpost heute noch hierhergefunden und gelesen habe, danke, denn sie war mir ganz entfallen... Liebe Grüße Ghislana

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Danke, dass du dir für ein paar liebe Worte Zeit nimmst!

Ich wünsche mir allerdings nach wie vor, dass ein Name am Ende des Kommentars steht.
Da die anonymen namenlosen Kommentare zuletzt wieder zugenommen haben, hier der ausdrückliche Hinweis:

Ich werde sie ab jetzt wieder konsequent NICHT freischalten.

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