Donnerstag, 14. April 2022

Great Women #296: Margarete Junge

Wer Gertrud Kleinhempel sagt, muss auch Margarete Junge sagen, so mein Eindruck bei den Recherchen für mein Porträt der Erstgenannten. Und weil heute ihr 146. Geburtstag, habe ich mich an das Porträt der Zweitgenannten herangemacht.
Lauban, heute Lubań 

Margarete Junge kommt als Octavie Henriette Margaretha Junge am 14. April 1874 in Lauban im damaligen Schlesien ( nicht in Dresden, wie es immer heißt ) zur Welt. Ihr Vater ist der Uhrenhändler Johann Bernhard Junge, von der Mutter ist nur bekannt, dass sie eine Französin gewesen ist. Wann und warum die Familie - Margarete hat einen älteren wie einen jüngeren Bruder sowie eine jüngere Schwester - nach Dresden gezogen ist, ist nicht bekannt. Der Vater betreibt einen Uhrenhandel wie Reparaturbetrieb in der Dresdener Moritzstraße.

Dieser hat die Begabung seiner künstlerisch talentierten Tochter erkannt und das aufgeweckte Mädchen gefördert. Er hat Margarete privaten Mal- und Zeichenunterricht erteilen lassen durch einen jungen, nach Dresden gezogenen Künstler, wahrscheinlich dem später sehr gefragten Illustrator Wilhelm Claudius

Margarete besucht die Volksschule und steht nach Beendigung derselben mit 14 Jahren vor der Frage, wie es weitergehen soll, denn Ausbildung und Beruf geschweige denn Berufsausübung sind für eine Frau des Bürgertums zu Beginn des deutschen Kaiserreiches nach wie vor nicht vorgesehen. Neben den sozialen und pflegerischen Berufen sind mit gewissen Einschränkungen noch künstlerische und kunstgewerbliche Tätigkeiten tolerabel. Da für die selbstbewusste, als energisch beschriebene Margarete die übliche Versorgungsehe keine Option ist, sie sich aber für sich selbst einen künstlerischen Beruf vorstellen kann, bleibt die Frage, wo und wie sie zu einer solchen Ausbildung kommt. Auch Kunstakademien wie Kunstgewerbeschulen stehen neben den Universitäten nämlich Frauen zu diesem Zeitpunkt nicht offen.

Bleibt also nur die private Zeichenschule des Dresdener Frauenerwerbsvereins, wo sie die um ein Jahr jüngere Gertrud Kleinhempel kennenlernt. Zwei Jahre verbringt sie ab 1892 dort, dann zieht es sie nach München,  der damals führenden Kunststadt. Welchen Abschluss sie beim Dresdener Frauenerwerbsverein erworben hat, Zeichenlehrerin oder Musterzeichnerin, gibt die Quellenlage nicht her.

Dresden selbst ist zu diesem Zeitpunkt noch in einem kleinbürgerlichen Dornröschenschlaf gefangen und ruht sich auf den vom sächsischen Hof zusammengetragenen Schätzen früherer Tage aus. Der pompöse historische Geschmack eines reich gewordenen Bürgertums dominiert: So sind 1891 bei der internationalen Kunstausstellung in Berlin die akademischen Malereien der Dresdener Schule krachend durchgefallen, so dass man über Veränderungen nachdenkt und die Leitung der Akademie in reformfreudigere Hände übergibt.

Gertrude Kleinhempel: Margarete Junge
Dann also München: 

Zum 1. Oktober 1896 schreibt sich Margarete zur weiteren künstlerischen Ausbildung an der Damen - Akademie des Künstlerinnen-Vereins ein - ob das auf Empfehlung der Freundin Gertrud Kleinhempel geschehen ist, die schon ein Jahr dort studiert, bleibt spekulativ. Gesichert ist, dass die beiden sehr jungen Frauen eine Wohngemeinschaft in der Theresienstraße 110, ganz in der Nähe der Akademie eingehen. Die evangelische Margarete wird allerdings ein Jahr später in das katholische Marienstift  der Mathilde Jörres, Besitzerin einer Kunststickerei, in der Ottostraße umziehen und im Jahr darauf in die Residenzstraße 44. 

Bei welchen Lehrern Margarete die drei Semester in München studiert hat, bleibt im Dunkeln. Sie vollzieht auch nicht den Schritt der Freundin und wird nicht Mitglied im Künstlerinnen-Verein München, auf dessen Grundlage die Kleinhempel ihr jahrzehntelang anhaltendes Netzwerk aufbauen wird. 

Die Damen -Akademie befindet sich in jenen Tagen in einer Umbruchphase, und es ist anzunehmen, dass Margarete die weitgehende Ausgrenzung des Kunstgewerbes zugunsten der freien Kunst als Schwerpunkt des Unterrichts gestört hat. Noch im Jahr 1898 kehrt die nunmehr 24jährige nach Dresden zurück, wo sich inzwischen Einiges verändert hat.

Margarete wendet sich nach ihrer Rückkehr der modernen angewandten Kunst zu, einem der - wie schon gesagt - wenigen Bereiche, die Frauen eine berufliche Tätigkeit eröffnet haben. In Dresden wird, anders als in den meisten deutschen Städten, diesem Metier ein gleichwertiger Platz neben den freien Künsten, also Malerei und Plastik, zugewiesen und moderne Stilmöbel auf entsprechenden Ausstellungen gezeigt.  Mit Margaretes Rückkehr fällt auch die Gründung der "Dresdener Werkstätten für Handwerkskunst" zusammen, die das Konzept einer Beteiligung von Künstlern und Entwerfern am Gewinn praktiziert. Die Kooperation mit diesem Unternehmen ist also für entsprechende Gestalter*innen attraktiv.

Als Entwerferin tritt Margarete auf der zweiten Internationalen Kunstausstellung in Dresden 1901 mit Schmuck und Reformkleidung ( zusammen mit Gertrud Kleinhempel ) erstmals öffentlich in Erscheinung. Im Jahr zuvor hat sie einen zweiten Preis bei einem Wettbewerb der "Dresdener Werkstätten für Handwerkskunst" gewonnen. 1903 ist sie mit einem Fächer und einem Ring im Katalog der Sächsischen Kunstausstellung verzeichnet. Von der Berliner Kaufhausausstellung 1904/05 ist dann erstmals eine Abbildung ihrer Arbeiten erhalten. Im Preisbuch der "Werkstätten für Deutschen Hausrat Theophil Müller" gibt es "Schmucksachen nach Entwürfen von Dresdener Künstlern, in gediegener Handarbeit" zu sehen - ob etwas von Margarete dabei ist, muss wiederum offen bleiben.

Margarete hat Karl Schmitt, den Begründer der "Dresdener Werkstätten" ( später "Deutsche Werkstätte Hellerau" ) wohl schon um die Jahrhundertwende auf einer Ausstellung kennengelernt und gehört seit ihrer Teilnahme am Preisausschreiben der Firma zu den ständigen Mitarbeitern des Handwerksbetriebes. Zusammen mit Gertrud Kleinhempel und der später dazugekommenen Marie von Geldern-Egmont entwirft Margarete in der sonst von Männern dominierten Werkstätte Möbel und Einrichtungsgegenstände, die in einschlägigen Zeitschriften Anerkennung & Lob einheimsen. 

Der heute sehr viel berühmtere und elf Jahre ältere Kollege, der gebürtige Belgier Henry van de Velde äußert sich über Arbeiten der Frauen weniger anerkennend als gönnerhaft herablassend: 

"Und wenn ich Gertrud Kleinhempel und Margarethe Junge lobe, so thue ich es aus dem Grunde, weil mehr als Naivität in ihren meisten Werken liegt (...). Die Einfachheit, die bei der einfachen Frau leicht ein wenig derb wird, tritt in den Werken Frl. Kleinhempels und Frl. Junges zuweilen mit Größe, immer mit Würde hervor."

Margaretes Entwürfe sind zunächst noch deutlich vom ornamentalen Jugendstil geprägt. So tragen streng geschlossene, kastenförmige Möbelstücke an der Vorderfront noch vielgliedrige Ornamente wie abgerundete Außenkanten, Türblätter mit leichtem Abschlussbogen und filigran geschwungene Metallbeschläge. Auch geschnitzte Blumenkränze, teilweise farbig abgesetzt sind noch an ihren Möbeln zu finden. Besonders gut verkaufen lässt sich eine zweiteilige Kredenz (rechts) nach Margaretes Entwurf, die immerhin neun Jahre im Preisbuch "Handgearbeitete Möbel" der Werkstätte aufgeführt und angeboten wird.Vergleicht man Margaretes Kastenmöbel über die Jahre, so erkennt man, dass die Designerin "stets dem gleichen architektonischen Prinzip" folgt. 

Auch Stühle entwirft Margarete und ab 1908  Textildessins. Aber in der Tat ist es auf diesem Gebiet ebenfalls schwer, unter den Bezügen für Stühle und Sofas, den Tisch- & Tagesdecken ihr bestimmte Entwürfe zuzuordnen. Sie hat Interesse, so viel weiß man, an vielfältigen textilen Techniken und das dafür notwendige technische Verständnis, so dass anzunehmen ist, dass sie sich solche Details in der Werkstätte nicht hat aus der Hand nehmen lassen. Ihre vollständigen Zimmereinrichtungen finden sich in den Firmenkatalogen bis 1912/13.

Als Karl Schmitt 1907 mit den "Münchner Werkstätten für Wohnungseinrichtung Karl Bertsch" fusioniert, wird Margarete Junge unter den führenden, d.h. namentlich genannten Designern der neuen "Deutschen Werkstätten Hellerau und München" aufgelistet. 

Zwischenzeitlich hat der Sohn eines Teilhabers der Werkstätte - Theophil Müller - seine "Werkstätten für deutschen Hausrat Theophil Müller" begründet. Margarete wird für ihn bis Ende der 1920er Jahre arbeiten. Besonders hervorzuheben ist ihre gemeinsam mit Gertrude Kleinhempel entworfene Einrichtung für ein Sanatorium in Trebschen/Trzebiechów. Van de Velde, der sich an die "feinnervigen" Arbeiten der beiden jungen Kolleginnen erinnert hat, beauftragt 1903 die beiden Gestalterinnen mit den Entwürfen der Inneneinrichtung der Patientenzimmer im von Prinzessin Marie Alexandrine Reuß zu Köstritz initiierten Prestigebau. Die Möbel werden von der jungen Firma Theophil Müllers aus mahagonifarben gebeiztem Kiefernholz gefertigt. Auch andere Sanatorien greifen später auf die Jungschen Möbel zurück, weil sie in ihrer Sachlichkeit auch einen Eindruck von Hygienebewusstsein vermitteln.

CC BY-NC-SA

Die bekannteste Arbeit Margaretes für Theophil Müllers Werkstätte ist allerdings das Empfangszimmer Nr. 428, heute komplett erhalten im Leipziger Grassimuseum zu bewundern. 1905 hat sie es entworfen, bestehend aus Sofa, einem Sessel, zwei gepolsterten Stühlen, einem Tisch sowie einem schmalen, hohen Aufsatzschrank, gefertigt aus Mahagoniholz, massiv und furniert, mattpoliert,  innen aus Eiche. 

Dort im Museum befindet sich auch mein Lieblingsstück von Margarete Junge, der Damenschreibtisch Modell Nr. 48, der so leicht und heiter daherkommt auf seinen geschwungenen, verjüngten Beinen, dass er fast zu schweben scheint. Das erfolgreichste Modell der jungen Designerin ist allerdings ein weiß lackierter runder Blumentisch ( Modell Nr. 42 ) von 1902.

Neben den edleren Teilen mit Mahagonifurnier gehen auf Margarete auch preiswertere Einrichtungsgegenstände zurück wie ein Schlafzimmer ( Nr. 1226 ) in gebeizter und lasierter amerikanischer Kiefer oder Lärche. Mit den Preisbüchern von 1910/11 wendet sich die Werkstätte bzw. auch Margarete Junge mit aufwändiger gearbeiteten Einrichtungen einem besser gestellten Kundenkreis zu. Perlmuttverzierungen und große, gepolsterte, mit Seide bezogene Sitzgarnituren, Teppiche, Seidentapeten bestimmen den Raumeindruck wie bei diesem Empfangszimmer ( Nr. 715 ), 1906 auf der dritten deutschen Kunstgewerbeausstellung in Dresden gezeigt:



"Was es für Margarete Junge bedeutet haben muss, zur damaligen Zeit als Frau mit dem Entwurf von Möbeln und Innenarchitektur in eine absolute Männerdomäne einzudringen, ist von heute aus gesehen nur noch schwer nachvollziehbar, Die tradierten Vorstellungen vom Möbelbau als einem fest im Tischlerhandwerk verwurzelten, rein männlichen Gewerbe, verbunden mit Unverständnis und Vorurteil, machten es den Frauen alles andere als leicht, sich in diesem Beruf zu behaupten", schreibt Thomas Andersch in diesem Buch.

Doch die vielseitige Margarete hat sich auch auf anderen Gebieten betätigt und zum Beispiel kindgerechtes Spielzeug entworfen, sich mit Keramik beschäftigt ( und später ab 1936 bis zum Kriegsende Steingutgefäße für Villeroy und Boch Dresden bemalt ). Sie hat Lampen geschaffen, die sich bereits kurz nach der Jahrhundertwende für die industrielle Herstellung geeignet haben und Textilien und Reformkleider entworfen. Ihre reduzierten, funktionalen und betont konstruktivistischen Werke haben die Produktpalette der Dresdener Firmen vor dem 1. Weltkrieg eindeutig geprägt.

Auf dem deutschen Markt für moderne angewandte Kunst hat sich die junge Frau also gut positioniert, als sie 1907 als Lehrerin an der Kunstgewerbeschule Dresden für "Entwerfen und Ausführen künstlerischer weiblicher Handarbeiten und von Kleidungsstücken, sowie Entwerfen im architektonischen Kunstgewerbe" eingestellt wird. In dem Jahr hat die Schule erstmals ihre Pforten für Schülerinnen geöffnet und zehn Lehrräume und Ateliers nur für Frauen installiert ( 32 stehen für die männliche Schülerschaft offen ) und vier Lehrkräfte dafür neu eingestellt. Margaretes Stelle ist ursprünglich für Gertrud Kleinhempel vorgesehen gewesen, die sich aber für Bielefeld entschieden hat.

Zwischen 1913 und 1920 - das genaue Datum verschwindet in den Nebeln der Zeit und den Trümmern des Krieges - wird Margarete Junge als eine der, wenn nicht die erste Professorin, an einer Kunstgewerbeschule in Preußen zur Professorin für "Musterzeichnen, Entwerfen künstlerischer weiblicher Handarbeiten und Kleidungsstücken sowie Entwerfen im architektonischen Kunstgewerbe" berufen, was einer offiziellen Anerkennung als etablierte Künstlerin gleichkommt. Für die inzwischen 41jährige, die durch ihre Arbeiten für die Werkstätten finanziell recht gut gestellt gewesen ist, bedeutet das einen weiteren sozialen Aufstieg inklusive Verbesserung ihrer materiellen Situation, wobei ihre Besoldung wesentlich geringer ausfällt als die ihrer männlichen Kollegen ( 3800 Mark pro Jahr, die Männer durchschnittlich 4800 Mark ). Mit diesem Gehalt unterstützt Margarete die invalide Schwester und den jüngeren Bruder, nach der Inflation dann auch den Vater.

Am öffentlichen Ausstellungswesen nimmt sie ab dem Zeitpunkt ihrer Lehrtätigkeit sehr viel weniger teil, obwohl private Entwurfstätigkeiten in begrenztem Maße erlaubt sind. Sie unterrichtet ab Januar 1907 "die gesamte Bandbreite des Designs von der kompletten Zimmereinrichtung über Porzellan, Textilien, Tapeten bis hin zu Leuchtern, Besteck und Holzspielzeug." Dazu kommt die Kostümkunde bzw. das Zeichnen historischer wie aktueller Mode. Die Schülerinnen müssen nicht nur das Entwerfen "meistern", sondern auch die eigenhändige Ausführung. Arbeitsläufe und technische Realisierung sollen bekannt sein, doch stellt man den Frauen nur beschränkte Materialbereiche zur Verfügung: die Stein-, Holz- und Metallbearbeitung wird ihnen kaum ermöglicht.

Unter den ersten Schülerinnen Margaretes finden sich später so bekanntere wie Grete Kühn und Grete Wendt, die 1915 die in Grünhainichen ansässige Firma Wendt & Kühn begründen werden, die bemalte Holzfiguren und Spieldosen in der Tradition des Erzgebirges herstellt. Für diese Firma entwirft Margarete das Logo, welches bis heute in modifizierter Form gültig ist. Auch Olly Sommer studiert bei Margarete Junge, die 1920 auf Anraten ihrer Lehrerin sich als Gestalterin bei Wendt & Kühn bewirbt, später den Wendt-Bruder Johannes heiraten und das Erscheinungsbild der Firma & ihrer Produkte bis zur Umwandlung in einen VEB bestimmen wird. 

Weitere bekannte Schüler*innen sind Elfriede Lohse - Wächtler ( siehe dieser Post ), die allerdings nach einem Jahr zur Fachklasse Angewandte Grafik wechselt, die Zeichnerinnnen bzw. Malerinnen Alice Sommer und Paula Lauenstein und der Maler Fritz Tröger, von dem dieses bemerkenswerte Bild seiner Lehrerin stammt.

1915 ist die Geschlechtertrennung an der Hochschule obsolet. Ohnehin steigt die Zahl der weiblichen Studierenden kriegsbedingt, 1917/18 gibt es dann mehr Frauen als Männer. 1919 wird der Schulaufbau umstrukturiert, und Margarete Junge darf nur noch die Fachklasse Mode & weibliche Handarbeiten führen, die Zuständigkeit für Inneneinrichtung fällt jemand anderem zu. Die vielseitig fähige Dozentin wird somit auf vorgeblich weibliche Fähigkeiten reduziert.

Auffallend ist, dass Margarete Junge ein ausgesprochen freundschaftliches Verhältnis zu ihren Schülerinnen pflegt und sie in ihren Freundschafts- & Künstlerinnenkreis einführt. Auch bleibt der Kontakt oft nach dem Abschluss erhalten.

Als Lehrerin wird sie als durchsetzungsstark, streng & fordernd, aber humorvoll & schlagfertig von ihren Schülerinnen empfunden. Dass sie für Gleichberechtigung ist, macht sie vielfach deutlich und wehrt sich im Kollegium gegen das Vorhaben, strengere Maßstäbe an die Schülerinnen anzulegen. Auch gegenüber antisemitischen Vorurteilen nimmt sie eine konsequente Haltung ein und reagiert einmal auf das verschreckte und bedrückte Auftreten ihrer jüdischen Schülerinnen mit "Was steht ihr so herum, seid stolz, ihr habt die ältere Kultur!" Solche Äußerungen missfallen und die erstbeste Gelegenheit, sie gegen sie zu verwenden kommt dann auch mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten. 1934 wird Margarete "in Folge von Sparmaßnahmen" aus ihrem Professorenamt entlassen. Da ist sie sechzig Jahre alt. Die Verbindung zu ihren ehemaligen Schüler*innen wird durch die Zurücksetzung noch tiefer, bewahrt sie sich doch ihre unabhängige Größe als Mensch wie als Künstlerin.

Margarete zieht sich nun mit ihrer Lebensgefährtin Grete Lindner, einer Russischlehrerin, nach Hellerau, Am Grünen Zipfel 6, zurück. Dort bewohnen sie eine kleine Wohnung. Für sie ist diese Gartenstadt wohl etwas, das zu ihren frühen Visionen gehört, fällt doch die Gründung und der Aufbau in die Zeit, in der sie als Designerin die Richtung mitbestimmt hat.

Dort pflegt sie die Nachbarschaft wie ihre Freundschaften aus ihrer Zeit als Lehrerin, schreibt viele Briefe und empfängt Besuche. Sie ist auch Patentante von Hermann Lohrisch, dem Sohn von Grete Kühn, und hält Kontakte zu den Kindern der ehemaligen Schülerinnen, besonders zu den beiden jugendlichen Kindern von Olly Sommer, nachdem deren Vater von den Sowjets gefangen genommen und nicht wieder heimgekehrt ist. Ihre Briefe schlagen besonders liebe- & verantwortungsvolle Töne an. In den nächsten Jahrzehnten nach der Entlassung wird es auch viele Aufenthalte in Grünhainichen geben, und Grete Junge wird noch im hohen Alter betonen, wie sehr ihr die Nachkommen ihrer Schüler*innen am Herzen liegen.

Bekannt ist Margarete in ihrer Nachbarschaft wegen ihrer Rosenaquarelle. Außerdem fertigt sie tolle Modebilder an, die im Kunsthandel auch immer wieder bis heute auftauchen. 1964 übergibt die 90jährige ihrem Patensohn ein Konvolut mit mehr als hundert Zeichnungen. Am Ende ihres langen Lebens wird Margarete Junge von der Familie Braune in ihrem Haus und einer weiteren Nachbarin betreut. Frau Braune erbt sozusagen einen Teil des Jungschen Nachlasses, nachdem Margarete Junge im Alter von 92 Jahren am 19. April 1966 in Dresden gestorben ist. Ihre sterbliche Überreste werden im Krematorium in Dresden-Tolkewitz verbrannt und die Urne auf dem Alten Friedhof Klotzsche beigesetzt. Die Trauerrede hält ihr Schüler Fritz Tröger.

Ein Teil der ererbten Zeichnungen übergibt Frau Braune dem Dresdener Kupferstichkabinett als Schenkung. 1981 werden im Rahmen einer Ausstellung in der Galerie "Kunst der Zeit" Modebilder und Blumenzeichnungen gezeigt. 2002 überlässt Hermann Lohrisch dann sein Konvolut mit Zeichnungen Margarete Junges der Dresdener Hochschule für Bildende Künste, die im Jahr darauf in einer Ausstellung an der Brühlschen Terrasse gezeigt werden. Ab 2012 präsentiert das Grassi Museum das von ihr entworfene Empfangszimmer im Rahmen seiner ständigen Ausstellung "Vom Jugendstil zur Gegenwart". 2015 wird in einer Ausstellung zum 100jährigen Firmenjubiläum von Wendt & Kühn die wichtige Rolle der Designerin für die beiden Firmengründerinnen und ihre Produkte deutlich.

2018/19 erfolgt dann die Ausstellung "Gegen die Unsichtbarkeit: Designerinnen der Deutschen Werkstätte Hellerau, 1898-1938" im Kunstgewerbemuseum, die besonders die Frage aufwirft: Wie konnten diese Frauen, darunter Margarete Junge, unsichtbar werden? Inzwischen wird die einflussreiche Rolle, die diese und ihre anderen Design-Kolleginnen, zwischen Jugendstil und Bauhaus im Rahmen der Reformbewegung gespielt haben, gesehen und gewürdigt. Schade, dass die bisherige Quellenlage aber noch so ist, dass ein Porträt der heutigen Protagonistin etwas blutleer bleiben muss, mehr, als es sonst bei meinen Porträts der Fall ist.

8 Kommentare:

  1. Ein tolles Portrait, liebe Astrid. Ich kannte sie überhaupt nicht und bin sehr beeindruckt, wie sie ihre Ambitionen durchsetzen konnte zu Zeiten, wo das eigentlich gar nicht ging. Und wie schade es ist, dass sie so vergessen wurde und auch im Bauhaus-Hype nicht an die Vorläuferinnen gedacht wurde.
    Dass die Frauen am Bauhaus es auch nicht einfach hatten, ist ja nun bekannt. Aber dass es überhaupt schon vorher Frauen in diesen Männerdomänen gab, war mir nicht so klar.
    Margarete Junge merk ich mir und wenn ich mal wieder nach Leipzig komme, geh ich ins Grassi Museum, das habe ich nämlich noch nicht besucht.
    Herzlichst, Sieglinde

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  2. Wieder eines deiner wunderbaren Portraits, liebe Astrid! Mir sagte der Name erst einmal nichts, aber zusammen mit Kleinhempel dann schon. Ja, solche Frauen würden eigentlich in das neue Bauhausmuseum Weimar oder Dessau gehören, aber....Ich kenne die Probleme, die meine Mutter 1939 als Architektur- und Kunststudentin in einer männerdominierten Welt in Berlin hatte. Da wundert mich das Verschwinden solcher Namen und des Schaffens ins breiter Darstellung nicht. Danke dir für die ausführliche Recherche! Herzlich, Sunni

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  3. Wow, liebe Astid, wunderbar wie Du recherchiert hast und so einen interessanten Beitrag mit viel Arbeit und Initiative eingestellt hast. Überhaupt auch unbekanntere Frauen bei Dir in den Mittelpunkt rücken. Hier immer nachlesbar. Das möchte ich anerkennen, aber auch sagen, solche guten Beiträge lese ich in einer stillen Stunde, so nebenbei geht das nicht. Danke für Deine Arbeit und Dir wunderbare, friedliche Ostertage, herzlichst Klärchen

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  4. wieder sehr interessant was du trotz wohl eher dürftigen Unterlagen
    zusammen getragen hast
    diese Frau war mir auch gänzlich unbekannt
    aber wieder eine die sich zu ihrer Zeit doch durchsetzen konnte
    schade dass auch sie später vergessen wurde
    danke für das Portait

    liebe Grüße
    Rosi

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  5. Bei Lauban und dem Familiennamen Junge werde ich sofort hellhörig, kommt doch die Familie meiner Mutter aus dieser Ecke und meine Großmutter ist eine geborene Junge. Nein, keine Verwandtschaft, jedenfalls nicht in einer mir nachvollziehbaren Linie.
    Danke für diese Frauengeschichte, die mich nachdenklich machte.
    Wie gerne würde ich jetzt meine Oma, meine Tante und meine Mutter fragen können!
    Viele liebe Grüße,
    Karin

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  6. Ich frage mich wirklich, wie viele Männer von der Kreativität der Frauen profitiert haben!
    Ich glaube die Großeltern hatten ein Schlafzimmer von Margarete Junge. Ein Cousin meines Vaters war ganz erpicht darauf, es zu übernehmen.
    Wieder ein tolles Portrait. Wieviel Arbeit darin steckt weiß ich sehr wohl zu schätzen.
    Liebe Grüße
    Andrea

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  7. Ein Porträt, das mich wieder sehr interessiert hat, was ich voller Empathie für die Künstlerin, für deren Werke gelesen habe.

    Danke Dir, liebe Astrid, einmal mehr für Deine detaillierte Recherche. Wenn so manch' andere Künstlerin aus dieser Epoche bekannt ist, war mir Margarete Junge fremd. Woran mag das liegen?

    Liebe Grüße von Heidrun

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  8. Die Ausstellung damals war so toll! Ich fand es aber schon erstaunlich, dass zu der Zeit in den Verkaufprospekten der Name der Verursacher stand. Das war bei Gebrauchsgegenständen wie Möbel, Geschirr etc. berhaupt nicht üplich, es war der Vorrang der Bildenden Künste. Der Hellerauer Kopf war sich schon bewußt, was man an den Frauen hatte.
    Die weiblichen Gestalter hatten soviele mehr in ihrem Leben zu bewältigen, dass sich sie mit Äußerungen zu anderen gar nicht erst abgegeben haben. Ich krieg einen Hals, wenn ich da so etwas wie von v.d.Velde lese. Ist leider auch kein Einzelzitat.
    Sehr schade, dass die Gestaltung-und Kunstgewerbesschule nach dem Krieg aufgebenen worden ist.
    Das Zimmer im Grassi ein ein total schönes zeitloses Stück. Ich liebe es.
    Viele Grüße, karen

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Danke, dass du dir für ein paar liebe Worte Zeit nimmst!

Ich wünsche mir allerdings nach wie vor, dass ein Name am Ende des Kommentars steht.
Da die anonymen namenlosen Kommentare zuletzt wieder zugenommen haben, hier der ausdrückliche Hinweis:

Ich werde sie ab jetzt wieder konsequent NICHT freischalten.

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