Freitag, 29. November 2019

Und wieder einmal das Thema "Meinungsfreiheit"


"Alle sind für Meinungsfreiheit. 
Es vergeht kein Tag, 
an dem sie nicht gepriesen wird. 
Die Vorstellung einiger Leute jedoch ist, 
dass sie frei sagen können, was sie wollen, 
aber sobald jemand ihnen widerspricht, 
ist das eine Ungeheuerlichkeit." 
Winston Churchill

Zwei Anlässe gab es in dieser Woche für diesen Post. Der eine war eine Begegnung mit einem Menschen bei meinem Medizinischen Gerätetraining: Letzten Montag musste ich das nämlich ganz ohne Betreuung durchführen, weil die ganze Praxisbelegschaft in einer Besprechung war. Außer mir war nur noch ein älteres Ehepaar da, das schon lange mit mir die Trainingszeit teilt: ein agiler kleiner Mann, eine große, stille, stark bewegungsbeeinträchtigte Frau. Er stellt ihr immer alles ein, versorgt sie mit Wasser, reinigt die Geräte usw. und sie trainiert ( immer an viel mehr Geräten als ich ). Bisher hatten wir uns immer nur zugenickt, jetzt kamen wir ins Gespräch. Ich erfuhr bald, dass die Beiden kurdische Aleviten sind und seit 47 Jahren in der Bundesrepublik leben. Und irgendwann fiel der Satz, dass es bei uns lebenswert sei, weil man hier seine Meinung sagen könne und nicht dafür ins Gefängnis geworfen würde...

Wie das? Hatte ich doch grade noch mal gelesen, dass 63 Prozent meiner Landsleute bei einer Allensbach - Studie im späten Frühjahr der Ansicht waren, dass man bei uns seine Meinung nicht mehr frei äußern könne und es immer mehr Tabus gäbe. Und die "Bild" trompetete - gut sichtbar für alle am Zeitungsautomaten am Haupt-Übergang unserer Einkaufsstraße-: "Deutsche trauen sich nicht, offen ihre Meinung zu sagen!" Die Shell- Jugendstudie vermeldete dann sogar 68 Prozent, die sich in ihrer Meinungsfreiheit eingeschränkt fühlen.

Schizophren, oder?



Der zweite Anlass für diesen Post war dann auch ein Artikel in der "Süddeutschen Zeitung" in dieser Woche, u.a. über ein Gespräch mit dem emeritierten HU-Professor Herfried Münkler, Politikwissenschaftler, der findet, dass es genau diese Schizophrenie ist, die sich, von der rechtspopulistischen Ecke ausgehend, inzwischen mittenmang in unserer Gesellschaft breit gemacht hat:
"Es steht außer Frage, dass heute so viel gesagt wird wie nie zuvor. Und vor allem von so vielen. Niemand muss mehr darauf hoffen, dass sein Leserbrief abgedruckt wird, um sich öffentlich mitzuteilen. Jeder, der ein Handy besitzt, kann sich jederzeit zu allem zu Wort melden. 'Und gleichzeitig kommen die Leute auf die Idee, ihre Meinungsfreiheit sei eingeschränkt', sagt Münkler: ' Das ist eine klassisch schizophrene Situation.'"
"Selbsthysterisierung einer Gesellschaft" nennt er das auch: Da wird eine Sache dermaßen hochgejazzt, und plötzlich meinen viele, in diesen Chor auch einstimmen zu müssen. Münkler erzählt dazu eine nette Episode von der Frankfurter Buchmesse:
"Da habe ihm jemand gesagt, man dürfe hier gar nichts mehr sagen. Er habe entgegnet: 'Wieso? Sagen Sie doch mal, was Sie sagen wollen.' Antwort: 'Na ja, ich meine ja nur.' Für Münkler steht fest: 'Das ist ein reiner Gestus, der sich da in Teilen der Bevölkerung verbreitet hat.'"Wenn das jetzt alle sagen, muss also was dran sein."
Alles nur Attitude, Wichtigmacherei und nichts anderes als Anpassung an den - gerade aus der rechten Ecke verketzerten - "Mainstream". Wer von den "Gutmenschen" hat denn den einschlägigen Protagonisten den Mund zugehalten, als es um den "Vogelschiss", um das "Denkmal der Schande" ging oder von "alimentierten Messermännern und sonstigen Taugenichtsen" die Rede war? Bitte! Durfte man nicht sagen??? ( Beispielhaft hier im Video anzuschauen. )

Ein Recht auf Null Widerspruch  - das habe ich hier schon öfter geschrieben - beinhaltet der Artikel 19 der "Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte" bzw. Artikel 5 des Grundgesetzes hingegen nicht. Und wer völlig "frei" und ungefiltert sagt, was ihm gerade durchs Hirn schießt, darf sich über Widerspruch nicht wundern, vor allem wenn sich seine Äußerungen als völlig ahnungslos, unsachlich, respektlos erweisen.  

Schön, dass jemand mit einem Blick eher vom Rand unserer Gesellschaft einen darauf aufmerksam macht, wie der Begriff "Meinungsfreiheit" gekidnappt worden ist von denen, die am wenigsten mit dem Konzept anfangen können, und in welche Richtung mit dieser Propagandaformel da gerade bei uns schon sehr, sehr erfolgreich manipuliert worden ist.

Wie las ich gerade heute beim Frühstück in meiner Tageszeitung im Interview mit Navid Kermani? "Die Bedrohung von Leib und Leben zerstört die Meinungsfreiheit." Dessen sollte man sich,  besonders in einer Stadt, in der die Bürgermeisterkandidatin eine Messerattacke durch einen braunen Wiedergänger überlebt hat, eigentlich bewusst sein.





6 Kommentare:

  1. Viele verwechseln Meinungsfreiheit mit "keiner widerspricht mir". Und haben dabei keine Ahnung, was echte Unterdrückung ist.
    Das Narrativ der Rechten beruht auf Unzufriedenheit streuen und Zwietracht säen.

    Dem kann nur die gesammelte offene Intelligenz entgegengehalten werden.
    In den USA läuft das alles ja gerade ab ....

    Man darf sich nicht ins Eck reden und denken lassen. Es geht uns gut. Sehr gut sogar.

    AntwortenLöschen
  2. Liebe Astrid,
    ja, die Propaganda funktioniert. Das ist auch im kleinen Ösiland zu spüren. In Wirklichkeit wird heute im tatsächlichen wie auch im übertragenen Sinn mehr Müll abgesondert als ich je erlebt habe...
    Was auf uns zukäme, würden die, die jetzt den "Mangel an Meinungsfreiheit" ausrufen, wieder an der Macht sein, sollte uns eigentlich aus der Geschichte klar sein. Wir hatten übrigens vorgestern am Wiener Naschmarkt ein Gespräch mit einer aramäischen "Standlerin", die ursprünglich im Irak gelebt hat. Sie meinte: "Aber zum Glück sind jetzt alle in Sicherheit." (Soll heißen, sie leben jetzt in Österreich und den USA. Ich dachte bei mir "Hoffentlich sind sie das wirklich...")
    Alles Liebe nochmla, Traude

    AntwortenLöschen
  3. Ist das nicht vielleicht ein Ausdruck dafür, dass unsere Debattenkultur verkümmert ist? Einerseits, wer hat es schon gern, auf Widerspruch zu treffen, wenn er sich mit einer Meinung aus dem Fenster gelegt hat? Andererseits ist es nicht mal der Widerspruch, sondern doch sehr häufig die Vehemenz in der dieser Widerspruch erfolgt. Wenn man dann hinzurechnet, wie Ex-AfD Chef Lucke in der Uni Hamburg behandelt wurde. Christian Lindner durfte erst gar nicht reden. Dann gabs noch den Fall des Leiters der hessischen Filmförderung. Er wurde aufgrund eines Mittagessens mit Meuthen entlassen. Das war nicht ok. Aber es wird in den sozialen Medien anders bewertet. So entstehen die Bilder, die nur in intellektuellen Kreiseln halbwegs abgeklärt beurteilt werden (Münkler). In der Lebensrealität normaler Menschen wird es bedrohlich wirken, von solchen Beispielen zu lesen. Das man die Gefühle, die das auslöst, vortrefflich propagandistisch benutzen kann, ist im Grunde wohl unvermeidlich. Wir sind verdammt empfindlich geworden und viele schätzen es überhaupt nicht, mit abweichenden Ansichten konfrontiert zu werden. Das gilt für die eine, wie für die andere Seite.

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Da trifft der alte Spruch vom Ton, der die Musik macht, wohl zu. Ich bin oft erschüttert, welche Sprache & welche Vokabeln schon beim geringsten Anlass im öffentlichen Raum einem an den Kopf gerotzt werden, Vehemenz ist da der richtige Ausdruck. Hauen und Stechen und sich Durchsetzen um jeden Preis, so kommt es mir oft vor. Da frage ich mich oft, wie schlecht es den Menschen wohl geht, wenn sie so verbal um sich schlagen müssen. Ich weiß übrigens nicht, ob die Debattenkultur früher besser war ( wir haben das und den Umgang miteinander in der Schule immer viel geübt ), vielleicht war man auch weniger individualistisch und hat stillschweigend einen Gesellschaftsvertrag akzeptiert?
      LG

      Löschen
  4. es gibt den schönen Spruch:Es ist schon alles gesagt.. nur noch nicht von jedem ..
    auch da ist das Net nicht gerade hilfreich.. man stellt irgend etwas in den Raum und da steht es und wirkt es un vergiftet vielleit und reizt zu Widerspruch
    wobe der der es ausgelöst hat sich vielleicht gar nicht mehr drum kümmert..
    früher waren die Bebatten visuell
    man stand .. saß.. sich gegenüber sprach dem anderen ins Gesicht und bekam postwendent die Antwort
    da konnte man sich nicht herausreden.. oder den Löschknopf drücken
    auch kam es nur bei dem an für den es gemeint war und nicht bei 1000en die es eigentlichgar nichts an geht
    da musst man schon überlegen was man sagt.. oder das Echo aushalten können ;)
    mit dem Kopf geschüttelt habe ich mal wieder über die bestimmte Partei die Journalisten aufgefordert hat wieder "richtigen" Journalismus zu betreiben und keine Fake News zu verbreiten(nur die rechten ;) ) ..sie sollten sich da auf einer bestimmten Seite melden .. die Seite wurde inzwischen entfernt .. (ist aber wohl nur umgezogen ) Mainstream Aussteiger .. trau dich -steig aus
    wenn das nicht ein Angriff auf die Meinungsfreiheit ist ..

    liebe Grüße
    Rosi

    AntwortenLöschen
  5. Ja, darüber denke ich auch viel nach... Debattenkultur, habe solche lange nicht mehr erlebt. Bin aber auch nur noch wenig in solchen Kreisen, wo man sie pflegte. Schön deine Begegnung beim Training. Ich liebe solche Begegnungen. Sie zählen doppelt und dreifach gegen all den abgesonderten Mist... Lieben Gruß Ghislana

    AntwortenLöschen

Danke, dass du dir für ein paar liebe Worte Zeit nimmst!

Ich wünsche mir allerdings nach wie vor, dass ein Name am Ende des Kommentars steht.
Da die anonymen namenlosen Kommentare zuletzt wieder zugenommen haben, hier der ausdrückliche Hinweis:

Ich werde sie ab jetzt wieder konsequent NICHT freischalten.

Mit dem Abschicken deines Kommentars akzeptierst du, dass dieser und die personenbezogenen Daten, die mit ihm verbunden sind (z.B. User- oder Klarname, verknüpftes Profil auf Google/ Wordpress) an Google-Server übermittelt werden. Mehr Informationen dazu erhältst du in meiner Datenschutzerklärung und in der Datenschutzerklärung von Google.