Montag, 6. Mai 2019

Auf meinem Stehpult V { Buch des Monats }

"Es ist etwas ganz Großes darin: 
daß es uns über unser Elend lachen macht 
oder wenigstens lächeln. 
Ach, das ist wahrhaftig selten, daß man das findet: 
Lachen im Elend des Zugrundegehens."
Rudolf Olden, Journalist
über seine Kollegin Gabriele Tergit


Die beiden Bücher, die heute wieder auf meinem Stehpult liegen - das seid ihr, liebe Leserinnen und Leser ja inzwischen schon gewohnt, denke ich - berühren wieder Themen, die mich in diesem Monat beschäftigt haben:



Da ist zum einen ein Buch, auf das ich beim Abfassen des Porträts der Gabriele Tergit, Gerichtsreporterin im Berlin der Weimarer Zeit, welches ich letzten Donnerstag gepostet habe, aufmerksam geworden bin: "Käsebier erobert den Kurfürstendamm". Das Buch, zum ersten Mal 1931 erschienen, war damals ein großer Erfolg, und ist 2016 wieder - zum fünften Mal - in der Bundesrepublik neu veröffentlich worden, im März auch als Hörbuch.

Man könnte meinen, so Marc Reichwein, der Feuilletonist der "Welt", dass dieser Roman wie Sauerbier angeboten werden müsse. Aber er findet die These plausibler, "dass in 'Käsebier' zur späten Weimarer Republik mehr Geschlechtervielfalt steckt als in Erich Kästners 'Fabian' und weniger Milieumief als in Falladas 'Kleiner Mann, was nun' ". Auch der - oft gezogene - Vergleich mit Alfreds Döblins "Berlin Alexanderplatz" hinkt meines Erachtens, denn den schrieb dieser zehn Jahre später, als die kleinbürgerlichen braunen Dämonen schon voll in Aktion im Lande waren, die Tergit hingegen verfasste ihr Buch ganz synchron mit den Zeitläuften. Und doch wähnt man sich ab und an, selbst bei den ersten Zeilen, auch in unsere Tage versetzt, wenn die Tergit beginnt, Hunderte von Episoden aus Presse, Handel, Bauwesen, Kunst und Verwaltung in ihre erdachte Geschichte vom Aufstieg und Fall des schlichten ( "blond, dick, quibblig" ) Unterhaltungssängers namens Käsebier aus der Neuköllner Hasenheide hineinzuweben.



Der wird, ausgelöst durch einen wohlwollenden Artikel des Zeitungsreporters Gohlisch - eine Hommage an damalige Kollegen beim "Berliner Tageblatt" - zum Star, in dem er den Sänger in den höchsten Tönen lobt, so dass sich der nächste Journalist bemüßigt fühlt, auf den Zug aufzuspringen, schließlich will man am Puls der Zeit sein. Von heute auf morgen sind die Auftritte Käsebiers restlos ausverkauft, und Berlins bessere Gesellschaft strömt in Scharen in die Vorstellungen. Bald machen Spekulanten ihn zum Geschäftsartikel, vermarkten ihn...

Gabriele Tergit gelingt mit diesem Roman ein temporeiches Porträt der Gesellschaft jener Tage, die es sich selbst nicht leisten kann, still zu stehen. Der Titelheld spielt da eher eine Rolle als Vehikel, ihr Blick gilt viel mehr den Mechanismen der Medien, die sich keineswegs von denen unserer Tage unterscheiden ( man denke nur an all die "Superstars", die inzwischen unsere Medien "hypen", von denen kein einziger Beachtung verdient und auf Dauer bestehen kann ). All das beschreibt die Tergit witzig, unsentimental, ironisch distanziert und mit Verve, oft in flirrenden Dialogen, nicht immer ganz einfach zu lesen, aber authentischer als es die aktuell boomenden Berlin - Adaptionen je sein können.

Das Ende der Epoche kennen wir und werden wir beim Lesen nicht ausblenden können: "Heute sah’s böse aus im Reichstag. Ich glaube die Regierung fällt, es kommen die Rechten. Passen Sie auf, die bewilligen dann alle Steuern, über die sie bei den Linken geschrien haben, andere als Parteifreunde kriegen keine Arbeit, Pogrome, Todesurteile und Bürgerkrieg ... wir können einpacken," heißt es schon auf Seite elf. So viel Scharfblick wünschte ich mir für die heutige Zeit...




Zum zweiten möchte ich noch auf ein Buch aufmerksam machen, dass in Polen für einen Aufruhr sondergleichen gesorgt hat. In Polen ist die Biologie nämlich so richtig subversiv und ruft die Schulaufsicht auf den Plan, die sich dann sogar zu der Aussage versteigt: "LGBT is an endorsement of pedophilia" ( "LGBT ist eine Bestätigung der Pädophilie" ). Und das, weil dieses Buch in der Bibliothek einer Grundschule in Olsztyn ( Ermland - Masuren ) zu finden war.

Das hat mich als Hobby- Conchologin von klein an, aber auch als ehemalige Lehrerin neugierig gemacht und ich habe mir das Buch "Wer ist die Schnecke Sam?" von Maria Pawlowska und Jakob Szamalek besorgt, denn ehrlich gesagt, hat mich das alles fassungslos gemacht....

Worum geht's in dem Buch?

Der erste Schultag, auf den sie sich sooo gefreute hatte, wird so nach und nach für die kleine Schnecke Sam so etwas wie eine Katastrophe, denn die Lehrerin will, dass sich die i-Dötzchen für ein Spiel in zwei Reihen aufstellen, und zwar in eine Jungen- und eine Mädchenreihe. Sam würde am liebsten im Boden versinken, denn Sam weiß einfach nicht, ob sie ein Junge oder ein Mädchen ist.

"Wenn du du gerne Fußball spielst, dann bist du ein Junge", meint der kleine Waschbär. "Wenn du Puppen magst, dann bist du ein Mädchen."- "Du hast kein Haargummi, also bist du ein Junge." - "Sie hat einen rosa Rucksack. Mädchen haben rosa Rucksäcke." Jeder in der Klasse hat dazu eine Meinung. Aber keiner hat Ahnung, was der Schnecke so zu schaffen macht. Am liebsten würde sie weinen ( doch das können Schnecken nicht ). So zieht sie sich vor Verzweiflung in ihr Schneckenhaus zurück, obwohl ihre Eltern gesagt haben, dass das unhöflich ist.



Zum Glück gibt es in der Schule jemand, der Sam helfen kann, ihr eine Liste von anderen Tieren im Wald aushändigt, die sie aufsuchen soll und über das Gewitter des Vortages befragen. So lernt Sam allerlei Tiere kennen, deren Arten zu leben sich von den angeblich normalen Lebensformen unterscheiden...

"Ob Sam ein Junge oder ein Mädchen sein möchte, ist ihre Sache, nicht unsere", äußert sich die Lehrerin am nächsten Schultag. Und das kommt dem schon sehr nahe, was ich bei all den Äußerungen über "Gender" bei einschlägigen blau-braunen Kommentatoren bei mir oder in anderen Foren denke. Erschüttert bin ich immer wieder darüber, dass im 21. Jahrhundert Tatsachen geleugnet werden, nämlich zum Beispiel die, dass Schnecken Hermaphroditen sind ( eine Erkenntnis, die ich schon als Achtjährige durch Beobachtung  gemacht habe ), weil es eben nicht in die eigene Ideologie der Ausgrenzung & Diffamierung passt. Und so wird selbst ein Kinderbuch Opfer einer bizarren Hasskampagne, weil man einfach nicht akzeptieren kann, dass Leben sich neben der traditionellen Vorstellung in vielfältigster Form manifestiert.

Empfohlen wird das Buch ab fünf, ich selbst würde es eher mit Schulkindern lesen und das Gespräch suchen. Das Thema - so meine Erfahrung über vier Jahrzehnte mit Kindern - liegt ganz und gar im Focus der Kinder: In all den Jahren stand immer auf den - anonymen - Zetteln mit den Themenwünschen der Kinder für den Sexualkundeunterricht: "Was ist ein Zwitter?". Wenn da Propagandisten behaupten, das wäre ein Thema, das Kindern übergestülpt würde von der Schule, dann haben sie sich nie eingehend mit Kindern unterhalten & beschäftigt.

Die Erde ist eben eine Scheibe...


Zum Schluss noch diese unsägliche Werbekennzeichnung :

Beide Bücher habe ich mir wieder aus eigenem Antrieb und Interesse gekauft und selbst bezahlt. Weil ich sie gut finde, lege ich sie wie in vordigitalen Zeiten Freundinnen & Freunden und nun eben auch Bloggerfreundinnen ans Herz. Wenn man sich die Reichweite meines Blogs ansieht, dürfte klar sein, dass aus dieser Veröffentlichung kein materieller Nutzen zu generieren ist.





Verlinkt mit Andrea Karminrots Lesezimmer

NACHTRAG: Alle Buchfreundinnen, ach was, alle Menschen, die ihren Grips noch gebrauchen, möchte ich auf den heutigen Post von Susanne mamimade hinweisen "The Cover is not the Book", denn in diesem ach so harmlos klingenden Songtitel steckt eine Botschaft an uns...

10 Kommentare:

  1. danke für die anregungen! es wurde aber auch zeit, dass ein solches buch für kinder geschrieben wurde! nur durch information kann auch verständnis und akzeptanz geschaffen werden. den herrn käsebier hatte ich mir schon notiert.
    lieben montagsgruß von mano

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  2. Vielen Dank für den Anstoss, mal wieder in den Buchladen zu schauen.Ich glaube, ich wäre bei dir auch gerne eine Schülerin gewesen. Beste Grüße von Rela

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    1. Dann hättest du im 3. Schuljahr im Mai Schnecken als "Mitschüler" gehabt und durch angeleitete Beobachtung ( Schnecken nicht einfach am Häuschen in die Luft reißen! ) viel über dies Tiere erfahren. Die Schnecken habe ich vorher meinem Garten entnommen und nach der Unterrichtseinheit haben die Kinder sie wieder in der Natur ausgesetzt. Ich habe gerne Unterricht gemacht, wie es Rachel Carson empfohlen hat, nicht nur mit dem Buch...
      LG

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  3. Danke Astrid, für die beiden Buchbesprechungen. Beim interessierten Lesen Deines Artikels kamen mehrere "Déjà vu"-Momente auf, halt so wie Du auch schreibst, dass Vieles was im Buch von Gabriele Tergit steht auch heute noch (oder wieder) aktuell ist, eine Feststellung, die ich leider immer wieder traurig machen muss. Das Kinderbuch zum Thema Gendervielfalt (und Vielfalt im Allgemeinen) ist sehr interessant und sicher eine gute Geschenkidee. Unsere Teenager-Kinder (ok, für die ist das Buch nix mehr)sind immer wieder sehr am Thema interessiert und noch neulich haben wir im Kontext von den Schnecken, die Zwitter sind (was ich auch noch aus meiner Schulzeit wusste, die beiden jedoch nicht)gesprochen.
    Herzliche Grüsse,
    Claudine

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    1. Der Unterricht scheint inzwischen sehr naturabgewandt zu sein. Habe kürzlich im Radio eine Sendung gehört, in der es ums die völlig geschwundene Kenntnis der Kinder über Sing- Vögel ging. Was ich nicht kenne, kann ich auch nicht vermissen, von wegen Artenvielfalt.
      Schön, von dir zu lesen!
      LG

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  4. Gerade hab ich die Maibücher frei geschaltet. Du hast sogar schon kommentiert....
    Lieben Gruss
    Andrea

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  5. Das Schneckenbuch ist so toll! Das bestelle ich gleich mal für die drei Lockenkinder in den Staaten. (Die großen Schwestern schütteln beständig den Kopf über Leute, die es schlimm finden, dass ihr kleines Brüderchen immer mal wieder eine rote Hose der Schwestern o.ä. auftragen "muss". Und die Beobachtung der Natur ist eh genau ihres...)
    Liebe Grüße und danke für die Tipps
    Andrea

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  6. Liebe Astrid,
    ich bin auch gerade fassungslos, dass das Schneckenbuch auf einer schwarzen Liste gelandet ist. Meine Tochter war übrigens mit drei oder vier schon am Thema "gleichgeschlechtliche Liebe" interessiert (im Sinne von neugierig, was es da alles gibt und ob z.B. Frauen Frauen heiraten dürfen), was vielleicht an meinem Freundeskreis liegt. Ich denke, sobald ein Kind Fragen über ein Thema stellt, ist es auch reif für altersgerechte Erklärungen, das kann im Vorschulalter oder auch später sein, aber je mehr erklärt wird, desto gut und wichtig.
    Was den Scharfbick von Frau Tergit betrifft - den hätten heute wohl auch noch einige, aber genau wie damals und wie zu Kassandras Zeiten hilft die Seherfähigkeit nicht viel, weil's keiner hören will...
    Alles Liebe, Traude

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  7. Das Schneckenbuch finde ich ja genial.
    Ja, man macht es sich halt gern leicht und teilt ein in richtig und falsch und das ist das, was man kennt. Alles andere ist komisch und auch irgendwie angsteinflössend...und ein Tabu.
    Da kommt Sam gerade recht.
    Schön, dass er/sie auf Deinem Stehpult liegt.
    Liebe Grüße von Sieglinde

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  8. wieder zwei interessante Bücher
    vieles scheint sich zu wiederholen

    diese ganze Hysyterie die aber im Moment zu herrschen scheint wegen Gender ect. geht mir auf den Geist
    es gibt nun mal biologisch weibliche und männliche Keimzellen
    und es gibt Menschen Tiere und Pflanzen die beide tragen
    das ist so alt wie die Welt
    man sollte es schlicht akzeptieren ..
    das Menschen sich in einem falschen Körper fühlen auch wenn sie einddeutig ein Geschlecht tragen ist ihre private Sache und sollte ebenfalls einfach anerkannt werden
    gleichgeschlechtliche Liebe ist wieder eine andere Sache
    ebenfalls kein Grund "Hexenjagden" zu veranstalten
    heute versucht man irgendwie die Frauen zu Männern zu machen und umgekehrt
    das finde ich nicht so gut
    es gibt nun einmal biologische Unterschiede..
    Unterschiede im Denken und Handeln (das hat auch nichts mit Erziehung zu tun )
    man sollte die Menschen doch so lassen und nehmen wie sie sind
    in all ihren Verschiedenheiten
    wäre doch sehr langweilig wenn alle gleich wären ..
    meine Enkelin spielte nie mit Puppen sondern mit Autos .. na und?
    Sie trug nie rosa sondern blau .. es gefiel ihr einfach besser
    und das Mädchen heute Hosen tragen stört keinen mehr
    wir durften das früher z.B. in der Schule nicht
    in meiner Jugend kannte ich einen Russen der Frauenkleider ganz offen trug ..ich kann mir vorstellen dass er es nicht einfach hatte
    aber ich machte mir damals gar keine Gedanken darüber.. es war halt so .. er ging mit uns wandern (war in irgend einem Verein ;) )
    ich hatte da noch nie Berührungsängste ..ist ja nicht ansteckend :D
    sorry.. bissel lang geworden

    liebe Grüße
    Rosi

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Danke, dass du dir für ein paar liebe Worte Zeit nimmst!

Ich wünsche mir allerdings nach wie vor, dass ein Name am Ende des Kommentars steht.
Da die anonymen namenlosen Kommentare zuletzt wieder zugenommen haben, hier der ausdrückliche Hinweis:

Ich werde sie ab jetzt wieder konsequent NICHT freischalten.

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