"Vielleicht hat das Leben nur den Sinn,
dass man am Ende jemandem eine Geschichte erzählt."
Norbert Scheuer
"Männer sind uns gegenüber immer im Vorteil,
weil sie ihre Geschichten selbst erzählen können.
Sie sind in so viel höherem Maße gebildet,
die Feder liegt in ihren Händen."
Jane Austen in "Überredung"
Noch in den letzten Novembertagen, als ich ohne Lesen trotz großer Müdigkeit nicht einschlafen konnte, habe ich zum ersten Band von Stephen Frys Nacherzählungswerk der griechischen Sagen gegriffen, "Mythos" mit Titel. Die Götter- Mischpoke war mir ja noch recht geläufig aus meinen Jugendtagen. Aber dass es da so brutal zuging eher nicht. Oder hatte der gute alte Gustav Schwab in seinen "Schönsten Sagen des Klassischen Altertums" doch mehr bereinigt, damit das Werk auch als jugendfrei durch die Bundesprüfstelle ( heute: Bundeszentrale für Kinder- und Jugendmedienschutz ) ging? Nach eigener Aussage hatte er "alles Anstößige" und "alle diejenigen Sagen ausgeschlossen, in welchen unmenschliche Greuel erzählt werden". "... die Jugend [sollte] weder zum Ausspinnen unedler Bilder noch zum Grübeln der Neugier veranlasst" werden. Das ist ihm bei mir dann aber angesichts der Liebesirrungen & -wirrungen, vor allem des Göttervaters, nicht gelungen. Was ich im Buch nicht mitbekommen habe, hat die Kunstgeschichte mir dann zur Nachhilfe gereicht.
Was sicherlich für uns heute Relevanz hat sind die Mythen über homosexuelle Götter & Helden sowie die transsexuellen Hermaphroditen, was ja in meinen Jugendtagen ein absolutes Tabu gewesen ist. Fry verleiht der psychologischen Dimension der Mythen zweifellos etwas Lebendiges, Humorvolles und Intimes. Besonders gelungen scheint mir das in Bezug auf den Götterboten Hermes zu sein, in der Erzählung vom gerade neu geborenen Zeuskind, das seinem großen (Halb-)Bruder Apollon seine wertvollen weißen Rinder entführt und dabei lauter Tricks auf Lager hat, die den Großen ganz schön verwirren.
Gern gelesen habe ich auch, wie die kleine Artemis ihren Vater Zeus dazu bringt, ihr eine ganze Reihe von Geschenken zu versprechen: Pfeil & Bogen, eine kurze, praktische Tunika, Jagdhunde, Jungfrauenchöre, Schutz vor Männern und natürlich den Mond. Dies sind die in der künstlerischen Darstellung immer wieder zitierten göttlichen Attribute, die die Göttin der Jagd, der Jungfräulichkeit, des Waldes, der Geburt und des Mondes erkennbar machen. Die Geschichte von Eros & Psyche ( wer hat da nicht die Skulptur von Canova im Sinn! ), märchenhaft erzählt, kannte ich bisher nicht.
Eine kurzweilige, unterhaltsame Lektüre, die frau auch immer wieder gut unterbrechen kann.
Das nächste Buch habe ich mir antiquarisch besorgt ( obwohl von 2024 ), weil mich die Aussage der Autorin Katja Oskamp in einem Zwiegespräch mit Helene Bracht in der "Süddeutschen Zeitung" zum Unsichtbarwerden der Frauen in ihren Vierzigern neugierig gemacht hat. Selbst erlebt ( als positiv ), wollte ich ihre Position kennenlernen. "Die vorletzte Frau" ist aber eine recht herkömmliche, chronologische Darstellung mit der Anmut einer Anekdotensammlung einer Beziehung zwischen einer jungen Mutter von dreißig und einem neunzehn Jahre älteren Schriftsteller Schweizer Herkunft ( Thomas Hürlimann ). Die wurde für mich erst interessanter, als es ans Eingemachte ging, in diesem Falle der Erkrankung des Mannes an Prostatakrebs mit Mitte sechzig. Oskamp scheut sich nicht, das alles drastisch zu beschreiben, aber das ist lange noch nicht "grandios erzählt", wie Elke Heidenreich meint. Von der großen Liebe habe ich auch wenig mitspüren dürfen. Mich hat es einfach gelangweilt, und das Buch geht für wieder an Momox.
Ich hatte dann genug von saturiertem Alltag im ( noch ) friedlichen Mitteleuropa und habe mich mal literarisch an den Rand des Kontinents begeben, in das Grenzgebiet zwischen Ungarn, Rumänien und der Ukraine, am Rand der Zivilisation. Dort, inmitten von Nebelschwaden, schweflig-faul riechenden Warmwasserquellen und den unförmigen Abräumhalden aufgelassener Bergwerke liegt der Ort Verhovina, von dem der Roman "Die Vögel von Verhovina" ( Untertitel: "Variationen über die letzten Tage"; erschienen 2011, deutsch 2022 ) des ungarischsprachigen rumänischen Autors Ádám Bodors erzählt.
Das Reale in diesem Werk ist Transkarpatien, die Städte Lemberg, Bistritz und Czernowitz, jene für mich schon fast sagenumwobene Stadt der Lyriker*innen Rose Ausländer, Selma Merrbaum-Eisinger & Paul Celan, des Schriftstellers Gregor von Rezzori oder von Shantel, dem Musiker, der den Bucovina-Club erfunden hat. Erstere & die letzte liegen heute in der Ukraine, Bistritz im siebenbürgischen Rumänien und der Ort Verhovina im oben erwähnten Dreiländereck. Das des Romans liegt irgendwo daneben. Und da kommt dann das Fiktive ins Spiel, die Verquickung von beidem eine Leidenschaft von Bodor. In meinem Kopf entstand eine Landschaft wie ein Scherenschnitt, bar jeglicher Farbe, da im Dämmerlicht des Niedergangs, und doch so bild- bis märchenhaft, wie es nur für den verlassensten Winkel Europas vorstellbar ist.
Und die Figuren? Fast wie aus Filmen von Emir Kusturica von vor 1990, so grotesk überzeichnet in der genauen Beschreibung Bodors. Man erfährt nicht, welche Sprache sie sprechen, sie zeigen Einflüsse verschiedener Kulturräume und leben in Absurditäten bis Horrorszenarien, wie sie nur totalitäre Systeme hervorbringen. Menschen sterben auf bizarre Weise, dubiose Gestalten mit zweifelhafter Agenda suchen die Stadt heim und der normale Lauf der Natur ist schwerst gestört: So gibt es eine ganzjährig eingefrorene Mühle und keinen einzigen Vogel mehr, seitdem Maskierte alle Nester mit Feuer angegriffen haben. Dies verlockt den Autor zu surreal abgründigen Scherzen oder bitterer Ironie, hinter denen sich die Traumata befinden, bei denen man ahnt, dass sie den wirklichen Lebenserfahrungen des Autors ziemlich nahe kommen.
Ádám Bodor, 1936 geboren, ab seinem 17. Lebensjahr zwei Jahre lang in den Händen der rumänischen Securitate, studierter kalvinistischer Theologe, seit 1982 in Ungarn lebend, bezeichnet man gerne als den "stillen Katastrophisten der ungarischen Literatur". Er hat einen atmosphärischen, detailverliebten & absurden Roman geschaffen, der mich mit seiner Poesie trotz mancher Unverständlichkeit sehr fasziniert hat.
Ich bin dann literarisch noch weiter gen Osten "gereist", indem ich mir den Roman "Der Wal" des Südkoreaners Cheon Myeong-Kwan auf den Reader geladen habe. So ähnlich bizarr die Szenerien, so kurios die Personen, fehlt diesem Roman die sprachliche Qualität eines Ádám Bodor. Wie unterschiedlich man grausame Geschehnisse schildern kann!
"Der Wal" erzählt von zwei Frauen: Kūmbok, einst ein ehrgeiziges Mädchen vom Lande, das sich zur erfolgreichen Unternehmerin, Besitzerin einer Ziegelfabrik und Kinobetreiberin mausert, während sie mit ihrem geheimnisvollen Duft die Männer betört. Und ihre Tochter Ch'unhūi, stumm, von furchteinflößender großer Gestalt, aber vom Wesen her ursprünglich sanftmütig & mit einem dicken Fell gegen die Ablehnung durch die Mutter ausgestattet. Obwohl Jahre nach seinem Tod geboren, scheint das Mädchen eine Reinkarnation des außergewöhnlich starken, später verunglückten Schauermanns zu sein, mit dem ihre Mutter einst liiert & der ihre große Liebe gewesen ist.
Die Tochter wird ohne Absicht einen verheerenden Brand verursachen, der den Untergang einer ganzen Stadt P’yŏngdae nach sich zieht. Dafür wird sie mit Gefängnis bestraft und kehrt anschließend mit 26 Jahren wieder zum Ort ihrer Kindheit, der nun verfallenen Ziegelfabrik, zurück, wo sie jahrelang bleiben wird.
Und der Wal? Der taucht nur dreimal kurz auf, zweimal beim Luftholen, als die noch ganz junge Kŭmbok zum ersten Mal am Meer ist, und dann als die Fischer den mächtigen Blauwal am Pier schlachten. Kŭmbok ist berührt, weiß aber nicht warum, und später inspiriert er sie zum Bau eines monumentalen Kinosaales.
Ansonsten spielen in schachtelartig verschränkten Geschichten viele Nebenfiguren mit, die allesamt dem fantastischen Kino entsprungen sein könnten. Das ist die Stärke des Autors, der auch Drehbücher schreibt und das Kino offensichtlich liebt: Mit bildkräftigen Szenarien wie in der Totalen beim Film, die beeindrucken, ja geradezu unvergesslich werden, hat er mich dann schließlich doch faszinieren können, zumal ich auch Einblicke in die sozialen Abgründe einer mir fremden Gesellschaft damit gewinnen konnte. Beispielsweise erklärt es mir, warum so viele Frauen im heutigen Südkorea genug von den Männern haben. Auch im Roman sind die Frauen immer wieder von Gewalt & Vergewaltigung bedroht.
Letztendlich hat der Autor aber zu viele Ideen, will zu viele Geschichten unterbringen, dass es auch mir zu viel wurde und ich ein paar Tage eine Lesepause eingelegt habe, um alles sacken zu lassen. Ich konnte anschließend nicht mehr richtig "einsteigen" und habe eher aus Pflichtgefühl das irgendwie merkwürdige Ende erlesen. Bücher sollten einfach nur zwei- bis dreihundert Seiten haben...
Dann ging es wieder zurück in den Westen, um dort Bekanntschaft mit der aserbaidschanischen Community in Russland zu schließen. Jegana Dschabbarowa ist die Autorin, "Die Hände der Frauen in meiner Familie waren nicht zum Schreiben bestimmt" heißt ihr Roman. Ich gebe es zu: Die Gestaltung des Buch-Covers, entdeckt in der U-Bahn - Werbung, hat mich diesmal zugreifen lassen. Ich habe es nicht bereut!
Die Autorin beschreibt in ihrem Buch sehr eindrücklich den Körper der Frau als Austragungsort der sozialen Unterdrückung in patriarchalischen Strukturen - in ihrem Fall sind es die in der aserbeidschanischen Minderheit, die im russischen Jekaterinburg lebt. In elf Kapiteln, immer einem Körperteil gewidmet, angefangen von den Augenbrauen bis zum Bauch ganz am Schluss, erzählt sie von sich, ihren Cousinen, ihrer Mutter, ihren Großmüttern, und welchen Repressalien durch die Männer sie ausgesetzt waren und sind. Ihre Körper gehören dem Mann und der Familie. Und eine Tochter hat immer nur eins zu erfüllen: zu heiraten.
Die Frauen, die Jegana um sich herum erlebt, haben weder zu Schreiben, noch zu Sprechen oder überhaupt eine eigene Meinung zu haben. Das Highlight im Leben dieser Frauen ist allein die Hochzeit. Überdeutlich wird auch der Beitrag der Frauen an der Aufrechterhaltung dieser Ordnung, indem sie sie nicht nur annehmen, sondern auch immer wieder weitergeben. Es gibt nur ganz kurze Momente, in denen sie die Wahrheit vor sich selbst zulassen:
"Wenn etwas passiert - der Mann schlägt oder betrügt-, wird es rasch zusammengeknüllt und in den Korb mit der Schmutzwäsche geworfen. gewaschen, gebügelt und in seiner besten Form wieder angezogen."Als roter Faden zieht sich durch die Kapitel - zunächst kaum wahrnehmbar - wie sich die Krankheit der Protagonistin - eine Dystonie, eine schwere und seltene Muskelkrankheit, - entwickelt und zur Chance für die junge, gebildete Frau wird, diesem über Generationen weitergegebene Kreislauf von unhinterfragten Traditionen, den Erwartungen an eine gute Tochter zu entgehen - wer will schon eine dysfunktionale, kranke Ehefrau? - und ein Leben nach ihren eigenen Vorstellungen zu führen. Jegana fragt sich in Anbetracht der heftigen Schmerzen, die sie aushalten muss: "Vielleicht war es der Schmerz aller Frauen meiner Familie?"
Erschütternd fand ich, dass hinter dem Ausbruch dieser Erkrankung ein Sauerstoffmangel unter der Geburt steckt. Und diese wurde zu früh ausgelöst durch einen Tritt gegen den Bauch der Mutter durch ihren notorisch eifersüchtigen & alkoholabhängigen Ehemann. "Wenn man über einen langen Zeitraum hinweg Gewalt erlebt, neigt man dazu, das als normal anzusehen", so ihre Erfahrung, die sie sicher mit unzähligen Frauen teilt.
Spannend fand ich, dass mit diesem Roman die westliche Denkungsart, das alles, was mit dem Körper zu tun hat, nicht so wertvoll ist wie das, was mit der Seele zu tun hat, umgekrempelt wird. Ein Impuls für mich...
Jegana Dschabberowa, schrieb diesen autofiktionalen Roman 2022, als sie in Taipeh in Taiwan an der Universität unterrichtet. 2024 musste sie Russland über Nacht verlassen, ohne sich von irgendwem verabschieden zu können, weil sie aus rassistischen, sexistischen & politischen Gründen mit tödlicher Gewalt bedroht worden ist.
Nach so viel weiter Welt, war mir wieder nach "heiler Welt", nach Eifel, obwohl das ja auch ein Trugschluss ist. Deshalb las ich mich anschließend - in rückwärts gewandter Reihenfolge - weiter durch das Werk von Norbert Scheuer: "Peehs Liebe" von 2012 stand jetzt an. Dieser Roman besticht nach Meinung des Kritikers der "Zeit", Markus Clauer, "insbesondere durch seinen wagemutigen Grenzgang zwischen Verrücktheit und Kitsch". So habe ich es bei der Lektüre auch empfunden. Und damit hat der Roman auf mich gewirkt wie japanische Literatur nach dem Prinzip des japanischen iyashi, immer auch tröstend & heilend mit ganz "bodenständigen Glückvisionen".
Scheuer verfolgt zwei Erzählstränge: den des Rosarius Delamont, nun im Altersheim und auf sein Leben zurückschauend, und den der Annie, einer dreißigjährigen Nachtschwester in eben diesem Heim. Eine wichtige Rolle, neben etlichen alten Bekannten aus Scheuers anderen Romanen, spielt die Poesie Friedrich Hölderlins.
Rosarius ist kleinwüchsig und entwicklungsverzögert und bis zum 23. Lebensjahr stumm, eine extreme Figur, die einerseits leicht als "Dorfdepp" erfahren werden könnte. Doch er hat seinen Platz im Kaller Kosmos. Seine "Mutter" Kathy fabuliert von einem Vater, der als Archäologe die Straßen der Römer im Nahen Osten sucht ( und ihm werden auch ein paar Kapitel "überlassen" ), und Rosarius entwickelt eine Manie für Straßennamen, ist auch ständig on the road mit dem Steinlaster- Fahrer Karl Höger ( aus dem "Steinsammler") zwischen Zementwerk und Kalksteinbruch oder mit dem dem ehemaligen Nazi Vincentini ( schon seit "Kall, Eifel" zum Scheuerschen Mikrokosmos gehörig ), der auf den Fahrten durch die Eifel den Leuten ein Massagegerät, den sogenannten Perseus, anzudrehen versucht und einsame Frauen "beglückt". Unterwegs zitiert er aus dem "Hyperion" und beschreibt die Gräueltaten in Polen ( und ist damit so typisch für die Naziperversion zwischen bildungsbürgerlicher Schöngeisterei & Auschwitz ist ). Trotzdem ist Rosarius in der Realität unfähig, sich unterwegs, außerhalb Kalls, zu orientieren.
Die im Romantitel vorkommende Peeh ist ein Mädchen, mit der Rosarius als Dreizehnjähriger Kontakt gehabt hat, und seitdem seine Liebe: "Sie war das, was mir immer gefehlt hatte, um all die verwirrenden Dinge auf der Welt besser zu ertragen". Damit kommt sie fast der Diotima im "Hyperion" gleich. Nun, im Altersheim findet er in Annie seine Peeh vermeintlich wieder. Annie gibt in gewisser Weise dem alten Mann mehr als seine Würde zurück: die Liebe. Sie sammelt auch alles auf, was Rosarius murmelnd oder kritzelnd von sich erzählt und will seine Geschichte, sein bescheidenes & brüchiges Leben zusammenhalten, ganz in Norbert Scheuers Verständnis, dass wir doch alle am Ende unsere Biografie rekonstruieren.
Es ist wieder die Sprache, die mir so wohltut, so poetisch, so intensiv erzählt. Empfindsamkeit kann man als eine Begabung betrachten, die das Leben zugleich erschwert und bereichert. Meines auf jeden Fall auch durch diesen Roman.
Vor 250 Jahren, am 16. Dezember ( den Tag hat sie mit Norbert Scheuer gemeinsam ) 1775, ist sie geboren: Jane Austen. Und dieses Ereignis hat mich mit einem kleinen Schock gewahr werden lassen, dass ich noch nie etwas von ihr gelesen habe. Klar kenne ich die Titel ihrer sechs Romane, aber...
Also an den Regalen unserer Hausbibliothek vorbeigegangen und "Emma" gefunden, in einer Ausgabe von 1961. Der Herr K. hat sich in seiner Berliner Zeit als Student eine Bibliothek der Weltliteratur zugelegt, von der ich nach über sechzig Jahren noch profitiere. Ja, Jane Austen schrieb Weltliteratur – aber möglichst so, dass es niemand bemerkte, schreibt in Kathleen Hildebrand ihrem lesenswerten Beitrag in der "Süddeutschen Zeitung".
So landete "Emma" auf meinem Nachtisch, jene Protagonistin, die zu sehr von sich selbst überzeugt ist bis zur Anmaßung und die eigentlich nicht heiraten muss, denn sie ist reich genug, aber eine Beschäftigung braucht. Musik, Malerei, Literatur - hat sie alles probiert, doch ihr fehlt die Ausdauer. Nun denn als Hobby: Ehen stiften, weil ihr das einmal in Bezug auf ihre Gouvernante gelungen ist. Das ist eine Art Lebensersatz für die junge Frau, eine Möglichkeit, Leben zu beeinflussen, ohne selbst aktiv Entscheidungen treffen zu müssen.
Jedes Mal ist Emma von ihrer Genialität und der Richtigkeit ihrer Annahmen überzeugt, liegt aber gerne falsch, was nicht nur zu einigen Verwirrungen, sondern auch zu einigen Enttäuschungen führt. Dass sie sich ihre Fehleinschätzungen hinterher eingesteht, macht sie mir allerdings sympathischer und hat mich am Ball gehalten, obwohl mir der sehr dialoglastige Stil nicht gerade liegt und über weite Strecken des Romans so gut wie nichts passiert ( allerdings hat das dann doch bei mir das Dranbleiben gefördert, denn ich wollte wissen, ob überhaupt noch was passiert ).
Jane Austen: Auch wenn ihre Art zu schreiben für die Zeit revolutionär gewesen sein mag, weil Frauen darin so eine große Rollen spielen - in ihrem Blick auf die Familie und das Sozialwesen bleibt sie letztendlich in gewisser Weise konservativ. So sehr die Autorin am Anfang des modernen englischen Romans steht, sie lebt in einer Zeit, in der Frauenrechtlerinnen wie Mary Wollstonecraft Shelley bereits ihr gesamtes Werk veröffentlicht hat und die französische Revolution schon wieder Geschichte ist. Die 44 Jahre jüngere George Eliot hat mich mit ihren Charakteren in "Middlemarch" doch etwas mehr überzeugt, vor allem auch, was Ironie & Witz anbelangt. Dennoch habe ich mir "Stolz und Vorurteil" antiquarisch besorgt. Und dann noch die "Emma"-Verfilmung von Autumn de Wilde von 2020 angeschaut, die ich sehr schön finde.
Da ich ja alle literarischen "Highlights" des letzten Jahrzehnts verpasst habe, hole ich immer wieder mal nach ( ich bin ein Fan moderner Antiquariate ). Elena Ferrante ist so jemand, den ich links liegen lassen musste. In der letzten Vorweihnachtswoche habe ich immer wieder in "Meine geniale Freundin" gelesen ( wollte ich doch auch meine Quote an Schriftstellerinnen erhöhen ).
Mir wurde bewusst, dass ich wohl eine Schwäche für italienische Autorinnen habe, deren Darstellung des gewöhnlichen Lebens in verschiedensten historischen Zeiten unter den teilweise widrigsten Umständen mich zu faszinieren vermag. "Weibliche Nahgeschichte" nennt das Iris Radisch. Dacia Maraini, Elsa Morante, Natalia Ginzburg, Giulia Caminito haben mich immer angesprochen und jetzt eben Elena Ferrante. Die liest sich leicht mit ihren kurzen Sätzen ohne blumige Umschweife und hat allerlei Reminiszenzen an meine Kindheit & Jugend zu neuem Leben erweckt. Ich hatte auch nen Hang zu frechen, mutigen "Schmuddelkindern", pflegte nicht wirklich unkomplizierte Mädchenfreundschaften - ja diese ständige Konkurrenz kenne ich weiß Gott zur Genüge aus jenen jungen Jahren! -, dafür Kontakte zum anderen Geschlecht ( auch nicht unkompliziert ). Auch das Einlassen auf Bildungsmöglichkeiten, so fernab von denen bisher in der Familie üblichen, mit allen Konsequenzen, ist mir aus meiner eigenen Geschichte geläufig. Dieser persönliche Bezug & die pralle Handlung hat sicher dazu beigetragen, dass ich schon nach zwei Tagen das Buch gelesen hatte. Da brauchte es offensichtlich dann für mich in der Tat keine erzählerischen Experimente, keine unkonventionellen Geschichten - es reichte das Zeitpanorama & die weibliche Erlebniswelt.
Was neben den universellen Themen Freundschaft, Erwachsenwerden, Geschlechterverhältnisse seinen Reiz für mich hatte, ist auch die Politik gewesen, die Thema ist, die Brutalität der Menschen, die Widerständigkeit gegen die Art der Männer, Bildung als Zugang zu mehr Selbstbestimmung, aber auch das Wirtschaftswunder, als dessen Folge auch Mafia & Camorra auftreten, und die wirtschaftliche Ungleichheit, die dennoch weiterhin bestehen bleibt.
Ein ungeschönter Blick in den Spiegel war das, habe ich doch auch mein "Milieu" aufgrund meines Bildungsstreben hinter mir gelassen, was auch der Protagonistin ganz am Ende des Buches aufstößt. Und diese bittere Erinnerung musste für mich wohl auch mal sein. Fortsetzung folgt, auch für mich, mit dem nächsten Buch der Autorin.
Das nächste Buch war ein Geschenk der ältesten Tochter, die Autorin mir kein Begriff: Annett Gröschners "Schwebende Lasten". Da wird sehr gradlinig eine Frauenleben erzählt, das "zwei Revolutionen, zwei Diktaturen, einen Aufstand, zwei Weltkriege und zwei Demokratien, den Kaiser und andere Führer, gute und schlechte Zeiten" umspannt. Dabei arbeitet die Protagonistin - Hanna Krause - zunächst als Blumenbinderin, später als Kranfahrerin, ist in ihren fruchtbaren Jahren ständig schwanger und berufstätig und kümmert sich zudem um insgesamt vier Töchter und den invaliden Ehemann. Den erstgeborenen Sohn ziehen die Schwiegereltern groß, später ganz im nationalsozialistischen Sinne.
Das ist schon alles sehr zu Herzen gehend ( und macht die eigenen Privilegien deutlich ). Besonders bewegt haben mich die Beschreibungen die Erlebnisse während der Bombenangriffe auf Magdeburg, die sich in meinem Kopf sehr überschnitten haben mit den persönlichen Berichten von ( Kölner ) "Kriegskindern", die ich vor Jahren interviewt habe. So richtig erschüttert hat mich aber die Szene, nachdem Hanna mit ihrer vierten Tochter auf dem Weg nach Magdeburg niederkommt, darüber das Bewusstsein verliert und in der Klinik, in die sie verbracht worden ist, dann gefragt wird, ob sie ihr von der Nabelschnur erdrosseltes Kind der Ersatz- Anatomiesammlung der Einrichtung überlassen würde. Dort besucht sie übrigens ihr in Formalin aufbewahrtes Baby regelmäßig. Und als sie in Anbetracht der Magnolienblüte an der Klinik gegen Kriegsende ihren ganzen Schmerz über ihre von den Nazis vergeudeten Jahre herausweinen kann, geht es mir als Magnolienfreundin zusätzlich ans Herz..
In der anschließenden DDR wird Hanna Krause also Kranführerin, bekommt eine letzte Tochter und lebt immer wieder, eher improvisiert, ihre Liebe zu Pflanzen und Blumen aus - bis zuletzt, als sie auf dem aufgelassenen Grundstück, auf dem vor dem Feuersturm ihr Blumenladen gewesen ist, den Grundriss mit dem Samen von Sonnenblumen nachformt. Ein irgendwie versöhnliches Ende für ein Leben voller Alltagshärte. "Weibliche Nahgeschichte" eben. Ich hab’s mit großem Interesse gelesen.
In den restlichen Dezembertagen habe ich wieder meinen E-Reader genutzt: Diverses wartete noch auf Lektüre.
Bücher habe ich auch von Bloggerfreundinnen als Weihnachtsgeschenke bekommen. Die zeigen, dass meine Leidenschaften offensichtlich sind & gerne "gefüttert" werden:










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