Ich finde, meine Reihe über die großartigen Frauen ist einfach zu europazentriert mit einem kleineren weiteren Schwerpunkt auf Amerika. Frauen aus den drei anderen Kontinenten sind in der Minderzahl( zehn Posts bisher ). Das stört mich immer wieder mal. Deshalb mache ich mich auch immer wieder mal auf die Suche, um das zu ändern. Heute geht es nach Japan und gleichzeitig etwas zurück in die Geschichte. Kusumoto Ine ist mir dort über den Weg gelaufen...
Werkstatt des Kawahara Keiga: "Hafen von Nagasaki", (1833 – 1836; Rijksmuseum) |
Kawahara Keiga: "Siebold" (1824) |
Kusumoto Otaki |
"Auch habe ich mich der alten holländischen Sitte unterworfen und mich pro tempore mit einer liebenswürdigen 16-jährigen Japanesin verbunden, die ich nicht wohl mit einer Europäerin vertausche."
Kawahara Keiga |
1828 geht von Siebolds Dienstzeit in Japan zu Ende. Bei der Ausreise fliegt er auf, hat er doch heimlich Sachen, deren Ausfuhr aus Japan verboten ist, aufs Schiff gebracht. Darunter sind vertrauliche Informationen, die illegal vom Geographen Takahashi Kageyasu gesammelt worden sind. Auch Karten, die in die Hände der Feinde Japans, den Russen, gelangen könnten. Russland bedroht nämlich Japans Nordgrenzen. Das Shogunat kommt zu dem Schluss, dass Siebold ein ausländischer Spion ist. Am 22. Oktober 1829 wird er aus Japan verbannt.
Taki und die zweijährige Ine dürfen das Land aber nicht verlassen. Taki heiratet kurz darauf einen Mann namens Wasaburō. Der wohlhabende Siebold hinterlässt seiner japanischen Familie einen Vorrat an wertvollem Zucker. Zucker wird im Land lange nicht als Gewürz, sondern als Medizin eingesetzt & ist ein Luxusgut der höchsten Klasse, da er bis 1700 ausschließlich importiert werden muss. Damit soll u.a. der Lebensunterhalt der kleinen Familie gesichert werden. Er sorgt ebenso dafür, dass seine Mitarbeiter, darunter sein Assistent Heinrich Bürger zusammen mit Takis Schwester Tsune, sie schützen. Bei den Beiden können sie auch eine Zeit im Haus leben.
Siebold schreibt seiner Geliebten bzw. später der Tochter Briefe & schickt ihr auch Bücher über niederländische Grammatik, die damals für westliche Studien in Japan wichtig sind, und seine ehemaligen Schüler tragen zur Ausbildung des Mädchens bei. Ine & ihre Mutter bleiben offensichtlich über die Jahre mit ihm in Verbindung, und der renommierte Forscher lässt ihnen über seine Mittelsleute Alimente wie Geschenke zukommen. Geschenke gibt es auch im Gegenzug: Im Siebold Huis in Leiden in gibt es heute noch eine Schnupftabaksdose mit den Porträts von Mutter & Kind zu sehen.
Eine nicht gesicherte Geschichte erzählt, dass Ine im Alter von 14 oder 15 Jahren davongelaufen sei, um bei einem von Siebolds Schülern, Ninomiya Keisaku, der in Uwajima auf auf der Insel Shikoku lebt, fast 400 Kilometer von Nagasaki entfernt, Medizin, speziell Chirurgie, zu studieren. Dort ist dieser wegen seiner Beteiligung an der "Siebold-Affäre" unter Hausarrest gestellt worden.
Ein anderes Narrativ spricht davon, dass sie von ihrer Mutter geschickt worden sei, um die Familientradition auf zweierlei Art fortzusetzen: Sie wird Ärztin mit der Fachrichtung Geburtshilfe - wie die deutschen Verwandten - und sie pflegt die europäische wissenschaftliche Orientierung in der Frauenheilkunde, die ihr Vater mit nach Japan gebracht hat. Auf Ine geht die Bezeichnung "deutsche Ärztin" im Japanischen zurück, die bis heute im Sinne von Frauenärztin/Geburtshelferin benutzt wird.
Im Fürstentum Okayama studiert Ine dann Geburtshilfe unter einem weiteren Schüler Siebolds, Ishii Sōken. 1851, mit vierundzwanzig Jahren, wird sie von diesem schwanger. Diese Tochter wird nach dem Tod der Mutter allerdings erzählen, dass sie die "Frucht einer Vergewaltigung" durch den über dreißig Jahre Älteren gewesen ist.
Daimyo Date Munenari |
1854 verlässt sie wiederum Nagasaki, begleitet von ihrer Tochter und dem Neffen Ninomiya Keisakus, Mise Shūzō, der später ihr Schwiegersohn sein wird, um wieder bei Keisaku in Uwajima zu lernen. Der behandelt dort sowohl kostenlos Arme, ist aber auch Privatarzt des ortsansässigen Adelsclans. Sein Herr, der Daimyō ( Fürst ) Date Munenari, ist westlichen Errungenschaften gegenüber aufgeschlossen und fördert westliche Bildung mit Begeisterung. Nachdem dieser aber 1856 einen Schlaganfall erlitten hat, kehrt Ine mit Keisaku und Shūzō nach Nagasaki zurück
Ein Großteil von Ines Leben wirkt bemerkenswert modern:
Sie ist versiert in ihrem Beruf und bewegt sich ebenso geschickt in den höchsten Kreisen der japanischen Gesellschaft. In den Jahren als Hausärztin der Herren von Uwajima kommt sie ausländischen Beobachtern so vor, als sei sie selbst den Samurai zugehörig, da sie vom Adel so respektvoll behandelt wird.
In fast jeder Hinsicht ist Ine jedoch eine Außenseiterin als gemischtrassige, uneheliche Tochter einer Kurtisane und eines Ausländers. Ihr Aufstieg aus einfachen Verhältnissen in die höchsten Kreise der japanischen Gesellschaft ist Teil des damaligen revolutionären Prozesses im Japan der 1860er und 1870er Jahre. Für mutige und ehrgeizige Menschen wie Ine ist diese Zeitspanne zwischen dem Zusammenbruch der alten Ordnung, dem über zweihundert Jahre währenden Tokugawa-Shogunat, und der Konsolidierung des neuen Meiji-Staates unter einem Tennō eine Zeit der vielen Möglichkeiten: Für einen relativ kurzen historischen Moment sind ihre Intelligenz und Fähigkeiten wichtiger als ihr Geburtsstatus oder ihr Geschlecht, sie ist quasi "zur richtigen Zeit geboren".
1850er Jahre |
1854 endet die Isolation Japans. Und mit der Öffnung kehrt auch ihr Vater Philipp Franz von Siebold 1859 nach Japan zurück. Sein 13jähriger Sohn Alexander begleitet ihn, um das Land kennen und Japanisch sprechen zu lernen. Ine nimmt Kontakt zum Vater auf und lebt zunächst in Nagasaki gemeinsam mit ihm und ihrem Halbbruder unter einem Dach. Bald zieht sie jedoch wieder aus, da die Beziehung zwischen ihr und dem Vater einmal wegen der Sprachbarriere schwierig ist. Zum anderen wird ihrem Vater bald vorgeworfen, die Hausmagd geschwängert zu haben. Ine erzählt Ernest Satow, einem britischen Diplomaten in Japan, davon, der es so festhält:
"Der alte Siebold hatte anscheinend das Pech, ein weiteres Kind an den Körper einer Hausangestellten zu bringen, als er das letzte Mal in Japan war; Als Madame mir diese Information mitteilte, warnte sie mich, vorsichtig zu sein und es niemandem zu erzählen, wiewohl ich es aufschreibe."
1862 kehrt Siebold nach Deutschland zurück, wo er 1866 in München sterben wird.
In Nagasaki hat mittlerweile der niederländische Arzt J. L. C. Pompe van Meerdervoort 1861 das erste japanische Krankenhaus nach westlichem Vorbild eröffnet: das Nagasaki Yōjōsho. Ine bekommt die Möglichkeit, dort auf der Frauenstation zu arbeiten und bei Operationen zu assistieren. In diesem Krankenhaus findet die erste dokumentierte Autopsie an einem Menschen in Japan statt, und Ine ist die erste Japanerin, die Zeugin einer solchen Obduktion wird.
Nagasaki Yōjōsho (1861 bis 1868) |
Nachdem das Krankenhaus der Universität angeschlossen wird, bildet Ine sich ab 1869 unter dem Niederländer Antonius Bauduin weiter, der sich auf Ovariektomie ( Eierstockentfernung ) spezialisiert hat. Danach wird sie an die medizinische Fakultät einer Universität in Tokio beordert. Darüber entsteht auch erneut Kontakt mit ihren Halbbrüdern Alexander und Heinrich von Siebold, die als Diplomaten sowie Übersetzer für ausländische Gesandtschaften tätig sind. Durch ihre Verbindungen mit angesehenen Gelehrten wird Ine zu einer Geburt ins Kaiserhaus gerufen. Die erste Konkubine des Kaisers Meiji, Hamuro Mitsukozu, erwartet das erste Kind des Herrschers. Im September 1873 stirbt die kaiserliche Zweitfrau, fünf Tage nach der Geburt des tot geborenen Wakamitsuteru-hiko no Mikoto.
Leider sind solche Todesfälle keine Seltenheit in diesen Adelskreisen: Das Kaiserhaus hat immer unter einer hohen Mütter- und Kindersterblichkeit gelitten, was wahrscheinlich auf eine Kombination aus Inzest und schlechter Ernährung zurückzuführen ist. Ironischerweise ernährt sich die Elite mit weißem Reis im Gegensatz zu der einfachen Bevölkerung, die mit braunem Reis und Hirse keinen Vitamin-B-Mangel hat und nicht unter damit verbundenen Gesundheitsproblemen leidet.
Ines Tochter mit ihrem 1. Ehemann |
Die zweite Hälfte der 1860er Jahre sind auch familiär bedeutend für die renommierte Ärztin: Ihre Tochter, nun Tadaki geheißen, heiratet 1866 den um viele Jahre älteren Arztkollegen der Mutter, Mise Shūzō. Shūzō und Ines Halbbruder Ishii Kendō - Sohn von Ishii Sōken- gewinnen in jener Zeit prestigeträchtige Ämter in der Hauptstadt. 1869 stirbt Ines Mutter Taki.
Ab 1868 führt die neue Meiji-Regierung verwestlichende Modernisierungs-Reformen ein, darunter die Einrichtung neuer Universitäten im westlichen Stil. Dieses Interesse an Wissen aus Europa trägt anfangs dazu bei, Ines Karriere voranzutreiben, da sie im Studentenkreis ihres Vaters ja Medizin westlicher Prägung studiert hat.
Aber die Verwestlichungsreformen der Meiji-Regierung beinhalten genauso viktorianische patriarchalische Normen, also die Beschränkungen für Frauen, wie sie in Europe gang und gäbe sind. Die Samurai, die Japan nun modernisieren, ersetzen lediglich die neokonfuzianischen Beschränkungen durch neue rigide Vorstellungen. Die neue Regierung befreit die Frauen also nicht, sondern ändert vielmehr nur die Art und Weise, wie sie ihnen Positionen im öffentlichen Leben verweigert.
Auch die Medizin wird reguliert: Man fordert nun von den im medizinischen Bereich Tätigen Approbationsprüfungen und eine formelle Ausbildung an anerkannten Schulen. Aber diese Schulen, die ebenfalls westlichen Vorbildern folgen, sind fast ausschließlich männlich. Ine hat zum Glück vor diesen Beschränkungen genug Berühmtheit erlangt und darf aufgrund einer grandfather clause weiterhin als Ärztin praktizieren, jedoch nur als "Hebamme alten Stils" und nicht als Medizinerin.
Auch Ine Kusumoto empfindet sich aufgrund der veränderten Wahrnehmung von Frauen, ihrer Fähigkeiten und gesellschaftlichen Rollen im Land nach dieser kulturellen Veränderung immer mehr von ihrem Beruf ausgeschlossen.
Mit Takako ( ca. 1900) |
Die nun 34jährige junge Witwe, die ebenfalls eine Ausbildung als Geburtshelferin hat, lebt nach dem Tod ihres zweiten Ehemannes gemeinsam mit ihrer Mutter in Tokio.
Nach ungesicherten Quellen zieht sich Ine Kusumoto 1895 in den Ruhestand zurück. Zu diesem Zeitpunkt bezieht die Familie ein Haus im westlichen Stil, das Heinrich von Siebold hat bauen lassen, in Azabu, einem Stadtteil von Tokio. Dort stirbt die erste Ärztin Japans am 27. August 1903, nachdem sie Süßwasseraal und Wassermelone gegessen hat, was angeblich zu einer Lebensmittelvergiftung geführt hat. Sie ist 76 Jahre alt geworden.
Takako wird sie 35 Jahre überleben. Ihre Nachfahren verwalten heute zusammen mit ihren deutschen Verwandten das Erbe der Siebolds in Japan. Ines Vater Shiboruto-san hat in Japan nämlich nach wie vor einen guten Ruf.
Aber auch Ine Kusumoto wird nicht vergessen: Ihr außergewöhnliches Leben regt die Fantasie von Romanautoren, Dramatikern und Historikern gleichermaßen an. Seit 1978 greifen die Leser nach Yoshimura Akiras Roman "Fuon Shiiboruto no Musume" ( deutsch: "Von Siebolds Tochter" ). Dieser ist die zugänglichste und umfassendste Darstellung ihrer Biografie, wobei viele seiner historischen Details von den Lesern eher als Fakten denn als Fiktion aufgefasst werden. Die Grundlage eines so berühmten fiktiven Berichts zu überprüfen, scheinen bis heute immer wieder zum Scheitern verurteilt zu sein.
Anlässlich der 1300-Jahr-Feier Würzburgs 2004 wird im Mainfrankentheater das japanische Musical "Ine" ( Original: "Dokutoru O-Ine Monogatari"), welches vom Leben der Tochter Siebolds erzählt, erstmals in Europa aufgeführt.
Mich hat diese Reise ins ferne Japan fasziniert und mir wieder mal gezeigt, dass gesellschaftliche Veränderungen oft genutzt werden, um Frauen auszuschließen und einzuhegen und Fortschritte zu unterminieren. Und dennoch gibt es Kulturen übergreifend Frauen, die sich dagegen stemmen. Auch da bleibt sich alles gleich...
Was für ein faszinierendes Leben dieser japanisch-deutschen Medizinerin! Was für ein - seltenes - Glück, dass sie zur gerade noch richtigen Zeit geboren wurde. Danke, dass du mal den europäischen Kontinent verlassen hast.
AntwortenLöschenLiebe Grüße
Andrea
Was für eine moderne Frau. Allein schon das Foto von 1850 - oder ist es ein Gemälde? - zeigt eine total moderne Frau.
AntwortenLöschenIch wusste das alles nicht über Japan, was Du heute schreibst. Eine echte Landeskunde ist da heute dabei.
So ein Glück, dass Ine ihre Chancen so gut genutzt hat und auch bis heute nicht vergessen ist.
Ein höchst interessanter Ausflug in den fernen Osten... Danke!
Sieglinde
sehr interessant was du da zusammen getragen hast
AntwortenLöscheneine andere Kultur.. eine andere Weltanschauung
und trotzdem mutet das Leben dieser Frau sehr "modern" und fasr westlich an
sie war wohl wirklich zur richtigen Zeit geboren worden
schön dass sie nicht in Vergessenheit geraten ist
liebe Grüße
Rosi
Seit wir 2019 erstmals in Japan waren, habe ich mich auch näher mit der Geschichte und Kultur des Landes befasst. Kusumoto Ine ist mir dabei noch nicht begegnet. Dein Beitrag macht Laune, mich näher mit ihrer Geschichte zu befassen. Danke für diesen Anstubs und diesen wieder mal sehr interessanten Beitrag.
AntwortenLöschenLiebe Grüße, heike