Sonntag, 20. August 2023

Monatsspaziergang August

Für den Monatsspaziergang im August habe ich mir - anders als sonst, wo öfter Siedlungen aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts im Mittelpunkt standen - ein Wohnprojekt des beginnenden 21. Jahrhunderts vorgeknöpft. In meinen Posts findet diese Siedlung öfter Erwähnung, gehe ich doch mindestens zweimal pro Woche dorthin, denn dort befindet sich auch meine Physiotherapiepraxis. Auch einer meiner 12tel Blicke, nämlich der von 2019, liegt westlich dieser Wohnanlage, und das Terrain war in den letzten Jahren sehr beliebt bei Spaziergängen mit meinem Mann während der Pandemiezeiten. 

 


Es war Mitte der Neunziger Jahre, dass uns ein guter Bekannter von einem Projekt berichtete, welches er mit anderen anstoßen wollte, nämlich auf dem Gelände des ehemaligen Bundesbahnausbesserungswerkes, am Ende unserer Wohnstraße gelegen, eine autofreie Siedlung anlegen zu lassen. 



Dieses Werk, seit 1862 bestehend und bis in die 1970er Jahre hinein größter Arbeitgeber in meinem Veedel, war eigentlich schon 1978 aufgegeben worden, aber viele Gebäudeteile wurden von der Bahn noch genutzt und die Kantine auf dem Gelände entwickelte sich zu einem beliebten Treffpunkt für Tanzbegeisterte & zu einer gefragten location für kulturelle Veranstaltungen. 

Als die Deutsche Bahn sich Ende der 1980er Jahre ganz zurückgezogen hatte, richteten sich in den freigewordenen Gebäuden Künstler und verschiedene Betriebe als "Zwischennutzer" sowie eine Sonderwerkstätte für Behinderte ein. Der größte Teil des ehemaligen Betriebsgeländes entwickelte sich aber fortan zur Industriebrache.

Die Initiatoren wurden als Öko-Spinner abgetan, stellte doch zu jener Zeit in der breiten Bevölkerung kaum einer das Auto als Statussymbol in Frage. Das Ringen um politische Mehrheiten war mehr als mühsam für die Initiatoren. Vor allem die Kölner Stadtverwaltung erwies sich als besonders autoaffin & spreizte sich, so gut sie konnte ( Notiz an mich: gelegentlich sollte ich mal zu den Auswüchsen dieser Ideologie der autogerechten Stadt einen Ausflug machen ). 



Inzwischen verbucht die Stadt Köln das Projekt jedoch als Erfolg. "Die autofreie Siedlung "Stellwerk 60" in Köln-Nippes zeigt, dass autofreie Bereiche und begrünte Innenhöfe zu einer hohen Aufenthaltsqualität für die Bewohnerinnen und Bewohner führen", heißt es jetzt in offiziellen Verlautbarungen.



Auch die unmittelbaren Nachbarn des Geländes waren nicht wohlwollend, fürchtet man doch den eigenen Parkplatzverlust. Die Mitglieder der Initiative lehnten für sich selbst Autos ab und wollten auch keins der kommenden Nachbarn vor der Tür stehen haben. Bis heute eint dieser Gedanke allerdings die meisten Bewohner der Siedlung. Achtzig private Stellplätze gibt es heute in einem abgesonderten Parkhaus – das verlangte ein Kompromiss mit der Stadt. Zwei Car-Sharing Stationen mit zwanzig Autos ( inklusive Neunsitzer und Kastenwagen ) befinden sich an den Zugängen zur Siedlung. Dafür gibt es in den Kellern der Häuser Tiefgaragen für Fahrräder.



Trotz der vielen in den Weg gelegten Steine - ein deutscher Projektentwickler warf das Handtuch - gab es  doch noch grünes Licht vom Kölner Stadtrat, und es fand sich schließlich & endlich ein niederländischer Immobilienentwickler als Investor für das 80 Millionen Projekt. 2006 wurde mit der Umsetzung begonnen, die vor zehn Jahren abgeschlossen werden konnte.



Heute leben auf einer Fläche von 4,5 Hektar Fläche um die 1550 Bewohner, verteilt auf 455 Haushalte. Gut drei Viertel der Wohnungen sind vermietet, der Rest ist Eigentum. Zwischen den Wohnblocks und kleinen Reihenhäusern befinden sich kleine Spiel- und "Versammlungsplätze". 



Eine große Freifläche mit Wiese und dem von mir geliebten Birkenwäldchen befindet sich westlich von den Wohnbauten und zieht sich bis zur Trasse der Bahnstrecke Köln - Krefeld hin. Daneben gibt es einen Spielplatz sowie südlich davon ein sehr bunt bewirtschaftetes Gartengelände.

Ehemalige Kantine, jetzt Kindergarten

Die Kantine ist längst in eine Kindertagesstätte umgewandelt worden, es gibt ein Mehrgenerationenhaus, eine Mobilitätsstation, wo Bollerwagen, Fahrradanhänger, Elektro-Lastenräder, Tretroller, Bierzeltgarnituren u.a. ausgeliehen werden können ( das Motto: Teilen statt Besitzen )...

Mehrgenerationenhaus mit pride flag
... sowie einen großen Kiosk - DB-Speisewagen mit Namen -, der von seinem Sortiment her mehr ein "Tante Emma"- Laden alter Schule ist. Dort kann man seine frischen Morgenbrötchen holen und - bei Bedarf - an den Tischen davor verzehren. ( Ich profitiere auch schon mal davon, wenn mich die Physiotherapie in der Praxis daneben zu sehr gefordert hat. )




Schon 2007 hat das autofreie Projekt die ersten Preise gewonnen, den "Best Practice Modell"-Preis der Konrad-Adenauer-Stiftung oder die Auszeichnung als ein Ort der Aktion "Deutschland – Land der Ideen". 2013 gab es den dritten Platz beim Deutschen Fahrradpreis für die Siedlung.

Aus der damaligen Initiative ist nun der Verein "Nachbarn60 e. V." geworden. Unser Bekannter von damals ist dann aber wegen privater Veränderungen nicht mehr in die von ihm initiierte Siedlung gezogen. 

Ich selbst fühle mich in diesem Teil meines Veedels recht wohl, vor allem wegen der vielen Kinder, die überall ungefährdet herumwuseln können. Und irgendwie scheint sich auch das soziale Miteinander gut entwickelt zu haben: Johannes, ein etwas vernachlässigter alter Herr, nicht mehr gut zu Fuß, dennoch jeden Tag auf dem Gelände mit seinem Wägelchen unterwegs, wird von den verschiedensten Frauen aus der Siedlung betüddert & betreut und lässt das moderne Ambiente doch sehr menschlich, sehr kölsch erscheinen.

Was aber besonders auffällt, wenn frau sich lange in der Siedlung herumtreibt: die Stille! Einfach wohltuend in der Großstadt.

Danke, dass ihr bis hierhin durchgehalten habt! Die Lektüre war aber sicher nicht so schweißtreibend wie meine Runde gestern. Verlinkt wird der Spaziergang wieder mit Kristina Schapers Blog.



20 Kommentare:

  1. Liebe Astrid,
    danke, dass du dich auf den schweißtreibenden Weg gemacht hast. Ein großartiges Projekt und eine kleine Oase in der Großstadt. Vor allem für die Kinder freut es mich, dass sie so unbeschwert spielen können.
    Ganz liebe Grüße aus dem kleinen Dorf zwischen den Meeren
    Lydia

    AntwortenLöschen
  2. Liebe Astrid,
    vielen Dank für den tollen und sehr interessanten Bericht trotz großer Hitze.
    Grüße aus Regensburg Doris

    AntwortenLöschen
  3. Hallo Astrid,
    was für ein schöner Platz zum Wohnen in der Stadt.
    Danke dir sehr fürs Mitnehmen auf deinen Rundgang.
    Liebe Grüße und einen schönen Sonntag
    Tina

    AntwortenLöschen
  4. ...das gefällt mir sehr gut, liebe Astrid,
    und ich kann nicht verstehen, dass über solche Projekte nicht viel mehr berichtet wird, ja das es nicht gefördert wird, solche Projekte zu machen...schön hast du in deinen Bildern die Stimmung da eingefangen...

    wünsche dir einen schönen Sonntag,
    liebe Grüße Birgitt

    AntwortenLöschen
  5. Eigentlich wäre das doch die Wohnsiedlung der Zukunft. Irgendwann muss doch endlich des Deutschen heilige Kuh, das Auto, geschlachtet werden...
    Liebe Grüße
    Andrea
    (P.S. zu deiner Frage im Blog: wir waren im Zürcher Tierspital. Für uns der kürzeste Weg zu einem CT mit Spezialist*innen.)

    AntwortenLöschen
  6. Liebe Astrid, ich mag deine Serie über Wohnsiedlungen. Und gerade dieses heute vorgestellte neuere zeigt nochmal einen ganz anderen Aspekt mit dem komplett autofrei. In den letzten Jahren hat ja ein Umdenken stattgefunden, weniger Tiefgaragenplätze, dafür mehr Platz für Fahrräder und Carsharing. Eine Baugemeinschaft in Bamberg hat auch nur mit Carsharing, ganz ohne eigene Parkplätze gebaut, das war nicht nur gewollt sondern auch eine Vorschreibung von seiten der Stadt für ihr Grundstück. Und bereits in den 1970er Jahren wurden autofreie Siedlungen gebaut. Zumindest oberirdisch, die Autos wurden gleich am Rand des Grundstücks unter die Erde verbannt. Das hat schon eine ganz andere Wohnqualität. Und so eine autofreie begrünte Siedlung ist an so einem heißen Tag wie heute garantiert auch weniger heiß als eine mit glühenden Blechbüchsen zugestellte Asphaltwüste. Die Science Busters haben da vor kurzem auch eine Sendung zu diesem Thema gemacht.
    Vielen Dank also fürs mitnehmen, ohne selbst nach draußen zu müssen und liebe Grüße, heike

    AntwortenLöschen
  7. So eine schöne Siedlung mitten in der Großstadt ohne störende Autos dazwischen, zeigst Du uns heute. Platz für die Menschen und die Natur.
    Dass sich die Visionäre solcher Vorhaben immer erst durchbeißen müssen, ist sehr schade. Aber ich denke, inzwischen sind wir ein Stückchen weiter. Auch bei uns gibt es solch eine Siedlung, etwas eingezwängt zwar in Bereich von bereits vorbebauten Straßen, aber auch ganz großartig. Allein schon, dass die Autoschau - wer hat das Größte? - hier gar nicht stattfindet, ist schon ein Gewinn.
    Dein schweißtreibender Spaziergang hat sich voll gelohnt. Danke für diesen Bericht.
    Herzlichst, Sieglinde

    AntwortenLöschen
  8. Liebe Astrid,

    wie schön.
    Ich finde solche Siedlungen einfach nur gemütlich. Hilfe ist da, wenn Hilfe gebraucht wird.
    Stille tut gut.
    Kinder laufen herum und am Büdchen trifft man immer jemanden.

    Klasse Projekt mitten in der Großstadt und dann auch autofrei.

    Und auch irgendwie klar, dass das sich jetzt groß selbst auf die Fahne geschrieben wird.

    Viele Grüße,
    Claudia

    AntwortenLöschen
  9. Ich glaube Dir gerne, dass Dein Spaziergang schweißtreibend war liebe Astrid.
    So warm ist es im Moment, aber ich möchte mich nicht beschweren, es ist Sommer.
    Die Siedlung sieht gut aus und da wird wohl an alles gedacht.
    Aber so ganz ohne Auto? Das wäre für mich wohl nichts, ich brauche meinen kleinen Flitzer fast jeden Tag.
    Aber das ist wohl auch eine Lernsache, vielleicht ist es mitten und er Stadt nicht so erforderlich.
    Dir einen schönen Abend, lieben Gruß
    Nicole

    AntwortenLöschen
  10. Oh liebe Astrid, bei diesen Temperaturen unterwegs zu sein ist echt schweißtreibend. Ich freue mich dass Du es gemacht hast und wir hier diese interessanten Informationen von Deinem Veddel bekommen haben.

    Liebe SOnntagsgrüße
    Kerstin und Helga

    AntwortenLöschen
  11. Der Rundgang war sehr schön! Und das er gestern besonders schweißtreibenden war, glaube ich sofort. Sehr schwühl. Aber Dein Gang in eine wirklich ganz besondere Siedlung hat sich sehr gelohnt! Es hat sich so viel ganz offensichtlich dort getan. Ich ziehe den Hut vor jedem, der ohne Auto lebt.
    Schönen Abend (endlich ohne Schwühle hier, aber ich muss mich erst wieder dran gewöhnen)
    Liebe Grüße
    Nina

    AntwortenLöschen
  12. Das war sehr interessant zu schauen und zu lesen. Meinen Respekt hast Du Astrid, bei der Hitze so einen Ausflug zu unternehmen und so schön zu bebildern. Vielen Dank, dass Du mich immer so schön mitnimmst.
    Liebe Grüße Tina

    AntwortenLöschen
  13. Ich freue mich immer sehr über die schönen interessanten Berichte über die Veedel. So lerne ich noch viele neue Sachen kennen. Alles Gute und Danke schön , die Südstadt grüßt herzlich Maria H.

    AntwortenLöschen
  14. Liebe Astrid,
    wie schön doch dieses Veedel gleich bei dir umme Ecke ist und natürlich, dass du dich bei den tropischen Temperaturen zum Porträt aufgemacht hast.
    Deine Bilder vermitteln ein chilliges Viertel, wo Wäsche und Äpfel hängen und man ganz relaxt sein Leben ein paar Gänge herunter geschaltet hat. So entspannte, ruhige Viertel mag ich sehr und grad gelesen gibt es nur eins in der bekannten Fahrradstadt in meiner Nähe. ;-)
    Lieben Gruß von Marita

    AntwortenLöschen
  15. wie gut dass sich die Idee hat durchsetzen können
    es sieht sehr gemütlich und urban aus
    da trifft man sich sicher auch abends mal draußen zu einem Plausch.. besonders bei dieser Hitze
    und die Hektik.. der Lärm und Gestank ist weit weg
    liebe Grüße
    Rosi

    AntwortenLöschen
  16. Ich muss sagen, Auto hin oder her. Mein Opa hatte keinen Führerschein und fuhr so immer mit seiner Mofa und dem Anhänger dafür einkaufen oder mit dem Fahrrad. Aber auch die Busverbindung war wirklich sehr gut. (Damals). Damals auch im ländlichen Raum war die Busverbindung in die Stadt sehr gut, wenn man Großeinkäufe machen musste. Ich wohne ländlich und habe keine Busverbindung. Eine Haltestelle habe ich (fast) direkt vor der Haustür, nur mit dem Bus happert es. Der fährt nur 3 mal am Tag. Wenn ich also in die Stadt zum einkaufen möchte, dann fahre ich morgens hin und komme dann irgendwann am Nachmittag zurück. Wir hier in unserer Siedlung haben viele ältere Menschen, die dadurch auf Ihre Enkel, Kinder etc mit dem Auto angewiesen sind. Leider kümmert es die Gemeine nicht. Schade...
    Liebe Grüße
    Elke

    AntwortenLöschen
  17. Schön so ein Wohnviertel in der grossen Stadt zu haben. Als Tourist kommt man eher selten an so schöne Orte. Wie gut, dass es immer wieder Pioniere mit langem Atem gibt um so ein Projekt zu realisieren.
    L G Pia

    AntwortenLöschen
  18. wie gut, dass es diese visionär*innen gibt, die weit vorausdenken und dann auch dranbleiben. eine wunderbare siedlung, in der ich mir auch vorstellen kann zu wohnen. immerhin gibt es hier in der jetzt unsrigen auch car- und bikesharing und schön begrünte innenhöfe.
    mich hat dein bericht sehr an die siedlung in wittenberg-piesteritz anfang des 20. jh erinnert, über die ich ja bei einem monatsspaziergang berichtet habe. dort könnten sich die planer dieses viertels tatsächlich anregungen geholt haben!
    danke, dass du die mühe an einem heißen tag auf dich genommen hast, über diese interessante siedlung mit aussagekräftigen fotos zu berichten.
    liebe grüße von mano

    AntwortenLöschen
  19. Ein sehr schöner und interessanter Bericht, liebe Astrid, mit gewohnt tollen Bildern von dir. In dieser Siedlung zu wohnen, muss ein ganz besonderes Lebensgefühl sein. Wir auf dem Land sind leider auf das Auto sehr angewiesen, doch wir bemühen uns, so wenig wie möglich zu fahren. Das Motto Teilen statt Besitzen finde ich klasse. Wir teilen uns hier in der Nachbarschaft auch so manches...
    Ganz liebe Grüße
    Ingrid

    AntwortenLöschen
  20. Kleine, ruhige Oasen sind doch so wohltuend in den Städten! Diese hier finde ich auch sehr fein. Besonders dass die Kinder spielen und laufen können, ohne dass sie ständig Gefahr laufen, übergemangelt zu werden. Ich bin sehr gerne mitspaziert mit Dir.
    Herzliche Grüße aus Kopenhagen sendet Kristina

    AntwortenLöschen

Danke, dass du dir für ein paar liebe Worte Zeit nimmst! Ich setze allerdings voraus, dass am Ende eines anonymen - also von jemandem ohne Google- Account geposteten - Kommentars ein Name steht. Gehässige, beleidigende, verleumderische bzw. vom Thema abweichende Kommentare werde ich nicht veröffentlichen.

Mit dem Abschicken deines Kommentars akzeptierst du, dass dieser und die personenbezogenen Daten, die mit ihm verbunden sind (z.B. User- oder Klarname, verknüpftes Profil auf Google/ Wordpress) an Google-Server übermittelt werden. Mehr Informationen dazu erhältst du in meiner Datenschutzerklärung und in der Datenschutzerklärung von Google.