Als ich mich mit meinen Kollegen in den 1970er Jahren daran machte, in einer neuen Schule einen ganz anderen pädagogischen Stil zu entwickeln & umzusetzen, hatten wir eine ganze Reihe "Säulenheiliger", die uns die Richtung wiesen. 1979 kam eine neue dazu, die auch einer ganzen Reihe von Kolleg*innen, allesamt Kriegs- & Nachkriegskinder, geholfen hat, die eigenen bedrückenden & behindernden kindlichen Erfahrungen zu bearbeiten: Alice Miller. Ihr Buch "Das Drama des begabten Kindes" lag bei vielen von uns auf dem Nachtisch.
Piotrków Trybunalski, ul. Słowackiego |
"Sie machte die schmerzhafte Erfahrung, dass man als Kind, wenn man sein eigenes Selbst leben will, das den familiären Regeln widerspricht, in der Regel ganz alleine dasteht. Sie hatte kein Recht auf eine eigene Meinung, sie wurde zensiert und indoktriniert. Von diesen Erfahrungen her festigte sich in dem kleinen Mädchen eine subjektive Erkenntnis, die in ihrem Erwachsenenleben unter anderem zu der These gerann, das Judentum sei insgesamt eine verfolgende, unterdrückende, menschenfeindliche Ideologie", so ihr Sohn Martin an dieser Stelle.
Darüber, was in Alices Heimatstadt passiert ist, als die deutsche Wehrmacht zu Beginn des Zweiten Weltkrieges 1939 die Stadt bombardiert, wird in der Familie - eine nahezu surrealistische Szenerie - Folgendes erzählt:
Alle sind in den Wald der Umgebung geflüchtet, als dort ein entfernter Cousin aus Warschau mit seinem Auto auftaucht, der ein Visum für Brasilien hat. Er fordert Ala, Bunio und deren kleine Tochter auf mitzukommen. Die lehnen zunächst ab, weil sie den Rest der Familie nicht im Stich lassen wollen, steigen aber dann doch noch ein. Ein Platz im Fahrzeug ist noch frei. Den soll nach ihrer Ansicht Alice einnehmen. Doch die lehnt aus Rücksicht auf ihre Familie ab, und das Auto fährt weiter ohne sie bis in die Ukraine. Die übrige Familie kehrt nach einer Zeit der Ruhe nach Piotrków zurück.
Alice wird später gestehen, dass sie diese ihre Entscheidung bis heute bereut...
Am 5. September 1939 fällt das deutsche Militär dann in der Stadt ein und errichtet schon einen Monat später dort das erste jüdische Ghetto im besetzten Europa. Was den Englards nun zustößt, lässt sich nicht im Einzelnen rekonstruieren. Zunächst können sie in ihrem Haus bleiben, werden dann aber enteignet und müssen nach der Einrichtung des Ghettos dorthin. Dort leben die Menschen zusammenpfercht auf engstem Raum, ab 28. Oktober durch eine Mauer vom Rest der Stadt abgeschnitten und damit auch von der Lebensmittelversorgung. Sie müssen Zwangsarbeit leisten, werden erniedrigt und gequält. Und wird jemand ermordet, wie die Eltern von Alices Onkel Bunia, wird niemand dafür zur Rechenschaft gezogen.
Alice wird darüber, was sie in dieser Zeit erlebt ist, für immer schweigen und nur ganz wenige Dinge berichten, vor allem von ihrem immensen Groll auf die Mutter, die ihre jüdische Identität nicht verleugnen will, dadurch die Untergetauchten immer wieder in Gefahr bringt und Alice deshalb in die Hand eines Erpressers geraten lässt, der der 18jährigen ihren "letzten Schmuck" abnimmt.
Szenen aus dem Ghetto von Piotrków |
Terror und Verfolgung drängen die Heranwachsende in eine eigentlich nicht gewollte Solidarität mit ihrer jüdischen Familie: Sie schützt trotz negativer Gefühle nämlich die ungeliebte Mutter und Schwester, denn es gelingt Alice dank ihrer Kontakte zur Untergrundorganisation des Ghettos, deren Beziehungen zu den Polen außerhalb und ihrer perfekten Polnischkenntnisse, die Mutter in einer Wohnung auf dem Land in Sicherheit zu bringen, die jüngere Schwester in einem Nonnenkloster. Den schwerkranken Vater, der zu wenig Polnisch spricht, um nicht aufzufallen, lassen sie im Ghetto zurück, wo er wohl 1941 stirbt.
Etwa im Juli 1940 verlässt Alice selbst Piotrków und begibt sich nach Warschau. Sie hat sich Papiere auf den Namen Alice Rostovska verschafft und muss jetzt höllisch aufpassen und sich selbst verleugnen. Das bedeutet totale Selbstkontrolle und bei Alice die Angst davor, diese zu verlieren. Welch Anforderung für die eigentlich rebellische Alicija, sich in eine völlig angepasste, unsichtbare Alice zu verwandeln! Das Paradox: In der Verfolgungssituation muss sie sich auch mit dem von ihr abgelehnten Jüdischsein identifizieren und es gleichzeitig total verbergen. Die Ängste aufzufliegen werden sie noch Jahrzehnte begleiten, ja nahezu lebenslang.
In Warschau schreibt sich Alice an der Untergrunduniversität in Philosophie & Literaturgeschichte ein und verdient ihren Lebensunterhalt durch Unterrichten. In Piotrków findet unterdessen im Oktober 1942 die Liquidation des Ghettos statt, nachdem alle Juden aus den umliegenden Orten dorthin gebracht worden sind. Ca. 22 000 Menschen werden in das Vernichtungslager in Treblinka transportiert, darunter auch die Großeltern Alices. 3500, meist arbeitsfähige junge Männer, bleiben im sogenannten kleinen Ghetto, das 1944 endgültig niedergemacht werden wird.
Alice Rostovska |
Danach geht sie nach Łódź, wohin auch die Tante Ala mit ihrer Familie nach einer Flucht durch Russland und Verschleppung und Zwangsarbeit in Sibirien zurückkehrt. An der dortigen Universität nimmt die 22jährige ihr Studium der Philosophie wieder auf. Sie ist getrieben von dem Wunsch, ihre schmerzlichen Erfahrungen ungeschehen zu machen und die Schrecken des Krieges hinter sich zu lassen. Stattdessen stürzt sie sich ins Lernen & Leben.
Weil sich im Nachkriegs-Polen unter kommunistischer Regierung alsbald wieder allzu deutlich der Antisemitismus breit macht und das die Überlebenden beunruhigt, bewirbt sich Alice um ein Stipendium für die USA oder Frankreich. Bekommen tut sie eines für die Schweiz, ebenso Andrzej Miller, den sie loszuwerden gehofft hat. Alles sehr irritierend im Nachhinein, denn nach Außen wirken die beiden wie ein verliebtes Paar.
1947 landen sie gemeinsam in Zürich zusammen mit Tante Ala und ihrer Familie, sie als Alice Rostovska, ihrem Decknamen aus Kriegszeiten. Der Kulturschock scheint groß gewesen zu sein, denn die Schweiz ist ein vom Krieg völlig unversehrtes Land, und viele Gepflogenheiten erscheinen Alice geradezu selbstgefällig und daher monströs und der Reichtum ihrer Gastfamilie obszön. Flüchtlinge lässt man spüren, dass sie nur geduldet werden, und das Interesse an ihrer Leidensgeschichte ist nicht vorhanden. Als Plus stellt sich für Alice heraus, dass viele dieser Flüchtlinge wie Karl Barth oder Karl Jaspers an der Universität in Basel lehren und eine intellektuelle Atmosphäre schaffen, die die Studentin liebt und sie aufblühen lässt bei gleichzeitigen Einsamkeitsgefühlen. Wieder bieten ihr Bücher eine Welt, in der sie sich heimisch fühlen kann.
Nach Abschluss ihrer Studien - Alice studiert Philosophie, Psychologie und Soziologie - heiratet sie 1949 Andrzej, der sich jetzt Andreas nennt, und sie entscheiden sich, auch noch zu promovieren. In einer kleinen, heizungslosen Einraumwohnung am Zürichsee verfassen sie ihre Doktorarbeiten Rücken an Rücken und beschließen, auch noch ein Kind zu bekommen. Dieses - Martin, im April 1950 geboren - fragt sich später nach den Gründen:
"Da beide durch ihr Kriegstrauma belastet waren, wollten sie vielleicht auch sicherstellen, dass sie tatsächlich überlebt haben. Es ist gleichsam der Trotz der Überlebenden, durch die Zeugung eines Kinndes die mörderische Verfolgung endlich abzuschütteln."
Alice & Andreas Miller
(1950er Jahre)
Zwar verläuft die Geburt ohne Probleme, aber anschließend verweigert der Säugling die Brust, was Alice nach eigener Aussage sehr kränkt. Auch dass er ihren Tagesablauf bestimmt - damit kommt sie nicht zurecht und gibt den kleinen Jungen an eine Bekannte weiter. Doch auch die kommt nicht klar und es ist Tante Ala und die Großcousine Irena, die ihn zu sich holen und quasi retten. Ein halbes Jahr bleibt er dort.
Nach ihrer Dissertation beginnt Alice 1953 eine Ausbildung zur ( freudianischen ) Psychoanalytikerin, in der Schweiz noch ohne institutionellen Rahmen. Doch sie findet Kontakt zu einer Gruppe von Analytikern rund um den Professor für Psychotherapie Gustav Bally. Dieses Milieu inspiriert die junge Frau und bietet ihr die Möglichkeit, nach Jahren wieder frei durchzuatmen, und wird bis in die 1970er Jahre ihr geistiger & emotionaler Lebensmittelpunkt sein. Zu dieser Zeit ist die Psychoanalyse noch etwas, das als Theorie begeistert und gleichzeitig als Bürgerschreck funktioniert.
Bald hat Alice auch eine eigene psychoanalytische Praxis im Zürcher Niederdorf, die sie bis 1964 betreiben wird. Parallel dazu macht sie selbst eine erste Analyse, die sie 1955 beendet, um eine weitere aufzunehmen, und besucht ab 1958 Kurse des "Psychoanalytischen Seminars für Kandidaten" (PSK) . Anfang der 1960er Jahre wird Alice in die Schweizerische Gesellschaft für Psychoanalyse aufgenommen.
Familie Miller in den späten 1950er Jahren |
Neben ihrer Tätigkeit als Psychoanalytikerin arbeitet Alice auch als Lehranalytikerin und Ausbilderin am Seminar, als die psychoanalytische Theorie ihre ersten großen Erschütterungen erfährt. Und Alice Miller wäre nicht sie selbst, wenn ihr nicht orthodoxe Kollegen suspekt wären, die sich wie Jünger einer Religion benehmen, Sigmund Freund als Heiligen verehren und jeden, der ihren "Glauben" in Frage stellt, frontal angreifen. Plötzlich ist für sie die Psychoanalyse nicht mehr der Hort der Freiheit des Denkens, sondern einer ideologischen, intoleranten, religiös verehrenden Geisteshaltung" - ein Déjà-vu für sie! "Die Entfremdung meiner Mutter von der klassischen Psychoanalyse schritt voran, wenn auch erst im Verborgenen", so ihr Sohn.
1971 veröffentlicht sie einen Artikel in der Fachzeitschrift "Psyche", in dem sie den Arbeiten Kohuts über den Narzissmus eine besondere und sehr wichtige Rolle zuschreibt und ihre darauf basierenden Behandlungstechniken schildert. Den Spannungszustand zwischen ihrer inneren Überzeugung und der rigiden Anpassung an die psychoanalytischen Prinzipien ist für sie immer schwerer auszuhalten, ebenso die hasserfüllten Auseinandersetzungen mit ihrem Ehemann - der gesteht dem Sohn beispielsweise, dass er eigentlich Antisemit ist - und sie versucht sie aufzulösen, indem sie zu malen beginnt. Später wird sie das als den Anfang ihres "Befreiungsprozess[es]" "aus dem Labyrinth der Selbsttäuschung, das Psychoanalyse genannt wird", bezeichnen. Sie kommt mit ihrem eigenen Kindheitstrauma in Kontakt, als sie zum ersten Mal "impulsiv einen Pinsel aufhob." Ihre Bilder enthüllen ihr, sagt sie, "den Terrorismus, den meine Mutter ausgeübt hat."
Eine Brustkrebserkrankung lässt einen Befreiungsschlag aus Ehe und Psychoanalyse als einzige Überlebenschance erscheinen. 1974 wird die Scheidung vollzogen, und Alice lässt ihr ganzes altes Leben hinter sich. Sie wendet sich sogar wieder dem Judentum zu und reist mehrmals nach Israel. 1975 bezieht sie dann auch eine eigene Wohnung in Zollikerberg, wo sie nun ihre Patienten empfängt, malt und sich der psychologischen Wissenschaft widmet.
( zweite Hälfte der 1970er Jahre ) |
Ihre bald entstehenden Bücher hält Alice ohne den durch das Malen gewonnenen Freiraum für "völlig undenkbar". Auch die Rebellion gegen die verkrusteten Ansichten der Psychoanalyse wird jetzt möglich und gipfelt in einem Aufsatz von 1978, der als unwissenschaftlich abgelehnt wird. Doch Alice ist jetzt nicht mehr auszubremsen, entscheidet sich für die Selbständigkeit und beginnt den Aufsatz zu ihrem ersten Buch "Das Drama des begabten Kindes" auszubauen. Das Schreiben bietet der nunmehr 55jährigen eine neue Lebensperspektive. Ihr Sohn meint später, dieses Buch sei "der Ausstieg aus ihrem falschen Selbst" gewesen. "Das Buch ist autobiographisch, auch wenn sie den Schleier nicht lüftet" ( ihrer Leiden als Jüdin im von Hitler überfallenen Polen ).
"In dem Buch „Das Drama des begabten Kindes“ zeichnet Alice Miller durch ihre langjährige Erfahrung ein sehr gutes Bild der Kinderseele. [...] Alice Miller begibt sich [...] auf die Suche nach dem "wahren Selbst" und einer Erweiterung des Wissens über Traumatisierung und die Folgen ihrer Verdrängung.Missbrauch, Gefühllosigkeit und andere zahlreiche Kinderschicksale verursachen Verhaltensweisen, die meist als "nicht der Norm entsprechend" eingestuft werden. Eine fröhliche Kindheit zu erleben ist nicht allen Kindern vergönnt. Die Verdrängung der einst in der Kindheit erfahrenen Misshandlungen treibt viele Menschen dazu, das Leben anderer und das eigene zu zerstören.Die Psychotherapie setzt hier an und versucht Hilfestellungen zu geben. Doch Therapie kann allein die verlorene Kindheit nicht zurückgeben, Tatsachen nicht verändern und schon gar nicht Erlebtes rückgängig machen. Grandiosität und Depression als zwei wesentliche Formen der Verleugnung von Traumata in der Kindheit, die Spiegelbilder von Schicksalen kindlicher Bedürfnisse sind. " ( Steffi Eberle, 2002 an dieser Stelle )
Alice selbst hingegen fühlt sich aufgrund ihrer wachsenden Bekanntheit eher verfolgt, entwickelt paranoide Züge und fürchtet, ihre Lebensgeschichte würde publik. Etwas Schutz gibt ihr das zu diesem Zeitpunkt gute, enge Verhältnis zu ihrem Sohn, der nach einer Volksschullehrertätigkeit selber Psychologie zu studieren beginnt und den sie nun an ihren Gedanken zu ihrem zweiten Buch - "Am Anfang war Erziehung", praktisch eine Fortsetzung des ersten - teilhaben lässt. 1980 kommt es heraus und ist wieder ein Volltreffer, denn sie kritisiert darin wieder die sogenannte schwarze Pädagogik, die bis über die 1980er Jahre gängige Praxis ist. In Deutschland bekommt die im Buch enthaltene Abhandlung über Adolf Hitlers Kindheit besondere Aufmerksamkeit.
Nach 20-jähriger Tätigkeit als Psycho- und Lehranalytikerin gibt sie diese Tätigkeiten nun auf. Ihr Fazit: "Ich hatte zwanzig Jahre lang zugesehen, wie Menschen die Traumen ihrer Kindheit leugneten, wie sie ihre Eltern idealisierten und sich gegen die Wahrheit ihrer Kindheit mit allen Mitteln wehrten." Im April 1987 erklärt sie in einem Interview für die Zeitschrift "Psychologie Heute" ihre Abkehr von der Psychoanalyse und tritt im Jahr darauf sowohl aus der Schweizerischen Gesellschaft für Psychoanalyse als auch der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung aus.
1981 das nächste Buch: "Du sollst nicht merken" und weiterhin großer kommerzieller Erfolg. Den Psychoanalytikern wirft sie den Fehdehandschuh zu, indem sie Freuds Hinwendung zum Ödipuskomplex als "verlogen" und "feige" charakterisiert und den Analytikerkollegen vorwirft, ihre Analysanden zu manipulieren, indem sie sie veranlassen, ihr inneres Kind aufzugeben zugunsten der Elternperspektive. Damit ist das Tischtuch endgültig zerschnitten. Alice Miller hat endlich ihre eigene freie Welt, einen geistigen Raum, der sie vor den Gefahren des Lebens schützt.
(1980er Jahre) |
In diesen Texten wirkt sie zwanglos und unkompliziert, im tatsächlichen Umgang ist sie das sehr viel weniger und bei kritischen Auseinandersetzungen, die sie kränken, wird sie leicht aggressiv, geht nur von ihrem eigenen geistigen Raum aus, ohne die Realitäten in ihrem sozialen Umfeld wahrzunehmen. Oft bricht sie den Kontakt dann aucch ganz ab.
1985 hat sie die Provence für sich entdeckt und mietet sich zunächst für zwei Jahre ein Häuschen, bevor sie sich 1987 ein eigenes in St. Rémy de Provence, ganz in der Nähe eines jüdischen Friedhofes, kauft mit einem großen Grundstück, dass es ihr in den nächsten Jahren erlaubt, eine schöne Zuflucht zu schaffen. Dort kann sie malen, schreiben und auf Spaziergängen ihren Gedanken nachhängen und neue Projekte planen. Den Kontakt zur Außenwelt hält sie über Bücher, Briefe, Zeitungsartikel und später über das Internet. Doch auf die Dauer verwandelt sich das Nest auch in ein Versteck, in dem sie sich vor ihren Verfolgern immer noch meint verbergen zu müssen.
Noch sechs weitere Bücher werden bis 2009 folgen, einige, darunter ihr erstes, werden fort- und umgeschrieben. "Dein gerettetes Leben" (2007) stellt eine Art Vermächtnis Alice Millers dar und gibt die Quintessenz ihrer Forschungen wieder. Darin schreibt sie:
"Wie wir wissen, eignet sich fast jedes Gedankengut dazu, den in der Kindheit mißhandelten Menschen als Marionette für die jeweiligen persönlichen Interessen der Machthaber zu gebrauchen. Auch wenn der wahre ausbeuterische Charakter der verehrten und geliebten Führer nach deren Entmachtung oder Tod zu Tage tritt, ändert das kaum etwas an der Bewunderung und bedingungslosen Treue ihrer Anhänger. Weil er den ersehnten guten Vater verkörpert, den man nie hatte."
In den 1980er Jahren hat Alice Bekanntschaft mit der Primärtherapie gemacht und unterzieht sich dieser im Selbstversuch. Als sie dadurch eine persönliche Krise überwinden kann, empfiehlt sie 1990 den Berner "Primärtherapeuten" Konrad Stettbacher dem Verlag Hoffmann und Campe ( ihr eigener Verlag weigert sich ), ja, jazzt ihn mit geradezu hymnischer Fürsprache zum internationalen Guru hoch - die wohl folgenschwerste Fehleinschätzung ihres Lebens, der sie schließlich auch den eigenen Sohn aussetzt.
Als Martin 1992 eine Therapie benötigt, nötigt sie ihm Stettbacher auf. Martin weiß sich zunächst zu wehren, willigt dann aber in die Behandlung bei einer Stettbacher-Schülerin ein. Die Tonbandaufzeichnungen der Sitzungen werden hinter dem Rücken des Patienten an den "Guru" weitergeleitet, der all das mit Alice Miller bespricht - ein ultimativer Verrat! Sie lässt sich von Stettbacher sogar dazu veranlassen, die Approbation ihres "infantilen" Sohnes zu hintertreiben, der daraufhin suizidale Gedanken entwickelt, schließlich aber Stettbacher verklagt. Martin Miller erhält Recht, und Stettbacher wird als Scharlatan entlarvt.
"Das war dann sehr peinlich für meine Mutter. Aber sie hatte die Gabe, sich ganz schnell aus dem Wind zu drehen, und das gelang ihr auch da. In solchen Momenten hatte sie Nerven wie Drahtseile. Ein Interview in "Psychologie heute", die lobenden Erwähnungen dieses Gurus schnell aus ihren Büchern gestrichen – und schon war die Sache für sie erledigt", so Martin Miller in diesem Interview.
Das Verhältnis zu ihrem Sohn ist jetzt auf dem Level, dass der entscheidet, es erst einmal "einzufrieren".
In St. Rémy igelt sich Alice also immer mehr ein, hält nur noch Kontakt zu ihrer Assistentin Brigitte Oriol und deren Familie. Ihr Sohn schreibt ihr erst 2009 wieder eine Email, auf die sie dann auch ein paar Tage später reagiert. Anfang 2010 wird sie ernsthaft krank, lehnt zunächst eine Behandlung ab. Erst als sie unerträgliche Schmerzen hat, geht sie zum Arzt, der ihr Pankreaskrebs in fortgeschrittenem Stadium bescheinigt. Nur mit Morphium sind die Schmerzen noch einigermaßen auszuhalten, und Alice will nicht mehr weiterleben. Ihren Todeszeitpunkt will sie selbst bestimmen und nicht in Abhängigkeit von anderen geraten, deshalb bittet sie den Sohn um Unterstützung. Als er ihr erklärt, dass selbst in der Schweiz das keine einfache Sache sei, sucht sie nach Alternativen.
Drei Tage vor ihrem beschlossenen Tod schreibt sie dem Sohn zum 60. Geburtstag, ruft ihn am Morgen des 14. April 2010 an, dem Tag ihrer Heirat mit Andreas Miller vor 61 Jahren, um ihm eine gute Zukunft zu wünschen. Als Martin Miller schließlich St. Rémy erreicht, ist Alice Miller schon eingeäschert. Die Asche wird an einem kleinen Bergsee der Alpilles verstreut, an dem sie oft gewesen ist.
Den Spagat zwischen öffentlichem Erfolg und privatem Scheitern ist kein Einzelfall in der Avantgarde der pädagogischen "Säulenheiligen": Jean-Jacques Rousseau liefert drei seiner Kinder im Waisenhaus ab, Maria Montessori ihren unehelichen Sohn bei Pflegeeltern, Bruno Bettelheim prügelt die Schützlinge in seiner Reformschule, was ihm den Spitznamen "Benno Brutalheim" eingebracht hat. Und ein weiterer unserer Säulenheiligen, Hartmut von Hentig, ist liiert gewesen mit dem pädokriminellen Gerold Becker, der "sexuelle Ausbeutung von Schülern und Schülerinnen an der Odenwaldschule im Zeitraum 1960 bis 2010" auf die Spitze getrieben hat. Da drängt sich manches Mal die Vermutung auf, dass gerade die motiviertesten Anwälte der Kinder aus ihrer eigenen Kindheit extreme Traumata mit sich herumtragen, – Erfahrungen, die sie im Umgang mit Kindern befähigen, die sie zugleich auch wieder den Kindern aufladen, mehr, als sie wahrhaben wollen.
Ich stimme voll und ganz zu. Ihr Buch "Am Anfang war Erziehung" hat für mich selbst vieles geklärt. Aber auch bei ihr finde ich den Widerspruch zwischen wissenschaftlicher Erkenntnis und eigenem Verhalten tragisch und fast schon erschreckend.
AntwortenLöschenLG
Magdalena
von Helga:
AntwortenLöschenLiebe Astrid,
Toll was Du wieder auf den Blog gebracht hast. Es gibt nichts zu vergleichen. Es gibt nur Gestern und Heute. Darum viel zu Wissen ist eine ganze Menge, als einfach nur mal so in den Tag hineinleben und Ausschau nach dem Wetter halten oder wo sonst was los sein könnte. Ach ja, zur Zeit ist das Leben schon nicht so schön, geimpft zu sein ist aber schon eine gewisse Beruhigung.
Danke für diesen Post und herzliche Grüße von meinen Hinterfrauen- und männern. Jan Eric hatte gestern das Bay.Fernsehen im Haus zu Aufnahmen von seinen gesammelten Filmrequisiten. Bin auf den Bericht gespannt und was sie daraus machen. Werde berichten.
Alles Gute Helga
Dein großartiges Portrait von der beeindruckenden und doch auch recht zwiespältigen Alice Miller ist gleichzeitig eine großartige Geschichtsstunde. Was für Zeiten und was für Lebensläufe sind das gewesen.
AntwortenLöschenUnd wie "unheil-ig" waren oft große Psychologen und Pädagogen, mit welchen Schatten haben sie gelebt. So auch sie und damit auch ihre Umgebung einschließlich Kind. Das finde ich immer sehr bedrückend.
Ihre Lebensleistung ist dennoch groß, keine Frage.
Danke für dieses Portrait und ein schönes Wochenende!
GLG Sieglinde
Das Portrait einer Zerrissenen, liebe Astrid... Du bringst es auf den Punkt, dass man niemanden zu einem Säulenheiligen deklarieren sollte - dein vorletzter Absatz hat in dieser Hinsicht einige Überraschungen für mich zu bieten...
AntwortenLöschenAlles Liebe nochmal, Traude
frei nach dem Motto:Schusters Kinder haben die schlechtesten Schuhe
AntwortenLöschenerlebt man doch immer wieder dass die brillantesten Ideen
und die klügsten Theorien
in der Realität nicht greifen
aber wer selber ohne richtige Liebe und den Rückhalt von Mutter und Vater aufwachsen musste
kann das wohl analysieren aber selber oft keine Liebe weiter geben
ein sehr komplexer Charakter war sie wohl
aber anscheinend hat sie doch einiges bewirkt
danke für das ausführliche Portrait
Rosi
Liebe Astrid,
AntwortenLöschender Buchtitel "Am Anfang war Erziehung" ist wohl Vielen bekannt, doch welch ein Schicksal die Autorin in Kinder- und Jugendzeit erfahren hat wohl weniger. Bei all ihren Erlebnissen in dieser Zeit haben mich ihre Verhaltensweisen insbesondere ihren Kindern gegenüber doch sehr erschreckt...insofern hast du es in deinem Statement getroffen, sie hat viel erreicht, doch meiner Meinung ist sie im Privaten gescheitert.
Lieben Gruß, Marita