Donnerstag, 6. August 2020

Great Women #229: Christa de Carouge

Es ist höchste Zeit, dass ich mal wieder eine Frau aus der Mode hier porträtiere. Eine, deren Kleidungsstücke ich an einigen Vereinskolleginnen meiner Museumspädagogischen Gesellschaft entdecken  und bewundern konnte, sind ihre Sachen doch auffällig anders als die populäre Mode und haben sich auch das Tanz- und sonstige Theater erobert. Christa de Carouge wäre gestern 84 Jahre alt geworden...

"Der Mensch braucht nicht viele Kleider,
es müssen bloß die richtigen sein."

"Le noir, c’est la lumière!"

Christa de Carouge erblickt also am 5. August 1936 in Basel als Christa Furrer das Licht der Welt. Ihre Mutter Claire ist gelernte Schneiderin. Der Vater Adelrich Furrer arbeitet im Hotel "Baur au Lac" als Chef der kalten Küche, ja, er gilt sogar als deren Erfinder und wird mit seinen Kreationen  bei Weltmeisterschaften Goldmedaillen gewinnen und etliche Bücher zum Thema veröffentlichen. 

Christa ist ihr ältestes Kind, und sie leben mit ihr und den vier Geschwistern Verena, Jörg, Urs und Beat, die nach und nach geboren werden, ab 1938 im Eckhaus Universitätsstraße/ Haldenbachstraße in Zürich-Oberstrass im obersten, dem dritten Stock des Hauses mit einem markanten Eckturm. 

Mag das Haushaltsbudget knapp sein, die Atmosphäre in der Familie ist aber offen und herzlich. Die Eltern, selbst originelle, eigenwillige Persönlichkeiten, akzeptieren ihre Kinder in ihren Stärken und Schwächen und gewähren ihnen in ihrer Erziehung große Freiheiten. Christa wird tatsächlich bis zu ihrem 27. Lebensjahr bei ihnen wohnen bleiben.

Zunächst wird das Mädchen als Kriegskind groß, erlebt die Luftalarme aber zunächst als durchaus  vergnüglich, denn dann verteilt die Bäckersfrau aus dem Parterre Nussgipfel und Biskuits an alle, die im Keller Schutz suchen. Anfang März 1945 schlagen ganz in der Nähe der elterlichen Wohnung doch einmal Bomben ein, dessen zerstörerisches Ergebnis Christa verstört.

Nachdem ihre Mutter nach der Geburt des jüngsten Bruders an Polyarthritis erkrankt, muss die zwölfjährige Christa einspringen und sich um ihre vier jüngeren Geschwister kümmern:
"Ich war meinen vier Geschwistern eine Gluckenmutter. Jeden freien Mittwoch gingen wir in den Wald, schauten Pflanzen an, sammelten Steine und Stecken. Ich bin im Sternzeichen Löwe geboren, der Löwe umgibt alles. Meine ganze Aufmerksamkeit gehörte meinen Geschwistern. Um bei meinen jüngeren Brüdern zu sein, wechselte ich sogar von den Bienli der Mädchenpfadi zu den Wölfli", erzählt sie hier.
Dass sie später keine eigenen Kinder haben möchte, führt sie darauf zurück, dass sie damals schon ihren Vorrat an "Mami-Gefühlen" aufgebraucht hat.

Claire Furrer näht vor allem für Familie und Verwandte in Basel, denn vollzahlende Kunden hat sie in Zürich kaum gefunden, als der Krieg ausbricht. Während dieser Zeit fertigt sie in Heimarbeit Knopflöcher an Seidenhemden an. Christa erwirbt sich diese Fertigkeit dann auch mit zehn Jahren.  In der Familie hat sie dazu die Aufgabe, die Hosen und Hemden des Vaters zu bügeln.

Auch die Basler Großmutter Maria, die als Witwe in einer Seidenbandweberei gearbeitet hat und sonntags in einem schwarzen Gewand aus Crèpe de Chine mit Taftmantel und Strohut in ebensolcher Farbe, der Hut nur geschmückt durch ein Seidenband, auszugehen pflegt, ist eine Inspiration  für das Mädchen. Bei ihr darf sich Christa bei Besuchen aus einer Schachtel mit Seidenbandabfällen ein Band für ihre Zöpfe aussuchen und anschließend die Oma in eine Teestube begleiten, wo diese mit ausgesuchter Höflichkeit bedient wird, was Christa lebenslang beeindruckt.

Von der mütterlichen Seite hat Christa also allerhand mitbekommen. Doch sie sagt auch später: "Neben dem Kleidermachen ist das Kochen für mich die schönste Beschäftigung“. Der Vater, der auch junge Talente ausbildet wie die spätere Schweizer Kochlegende Anton Mosimann, vermittelt ihr neben dieser Fähigkeit auch seine Qualitätsvorstellungen. Auch ästhetische Gesichtspunkte spielen bei seinen Platten und Butterskulpturen eine Rolle: Er plant alles vorher, indem er seine Vorstellungen skizziert. Sonntags nimmt er seine Tochter mit ins Kunsthaus Zürich. Die Bilder interessieren sie weniger, so erinnert sie sich später, lieber rutscht sie das marmorne Treppengeländer hinunter. 

Überhaupt ist sie ein sportliches Kind, beherrscht als Schlittschuhläuferin Sprünge und kunstvolle Figuren wie Lutz, Rittberger und Axel, die sie bei den Eishockeyspielen und in den Pausen des Zürcher Schlittschuh-Clubs vorführt. Musikalisch ist sie zudem, spielt Akkordeon und geht in den Musikklub am Schaffhauserplatz.

Christa kann sich gut vorstellen, Köchin zu werden, doch der Vater rät ihr ab: Frauen haben zu dieser Zeit keine Chancen, es in diesem Beruf zu etwas mehr als der Kaltmamsell zu bringen. Dass sie von ihrem Zeichentalent profitieren will, findet er besser:
"Mein Vater erlaubte mir dann, an die Kunstgewerbeschule zu gehen, um Grafikerin zu werden. Die war damals geprägt durch den Bauhausstil. Da hat es peng! gemacht. Das Puristische, Minimalistische faszinierte mich. Max Bill und Gottfried Honegger waren meine Mentoren, denen ich viele Fragen stellen durfte. Die hat man ja, wenn man jung ist", sagt Christa in diesem Interview.
Die schwierige Aufnahmeprüfung besteht Christa auf Anhieb. Sie besucht im Anschluss den Vorkurs der Schule und bewegt sich daneben in der Zürcher Intellektuellen-Szene, verkehrt in den Literatencafés am Zürcher Limmatquai und beschäftigt sich mit dem französischen Existenzialismus, liebt französische Chansons und amerikanischen Jazz und sucht immer wieder den Kontakt zu Bill und Honegger, mit denen sie gerne diskutiert. Sie mag die "Offenheit gegenüber allen und allem" in ihrer Stadt, so Georg Weber hier.

Plakat von Christa Furrer
Nach dem Vorkurs wechselt sie in eine Grafiker-Lehre, die sie abbricht, weil ihr Lehrherr Alfred Koella kein Verständnis für den modernen Zeitgeist und Christas "Begeisterung für die Umbrüche" hat. Dann heuert sie in mehreren Grafikateliers an, bis sie 1956 das Glück hat, bei einer größeren Werbeagentur, der von Kaspar & Doris Gisler, genommen zu werden, wo sie für Marken wie Thomy oder Tobler und andere Lebensmittelkonzerne originelle Kampagnen entwerfen kann und man ihr weitgehend freie Hand lässt. Legendäre Plakate entstehen wie das für Toblerone. Georg Weber:
"Bei Gisler & Gisler war Christa mit Leib und Seele tätig, unterschied kaum zwischen Arbeit und Freizeit. Wenn Produktpräsentationen näher rückten, blieb sie oft bis zu später Stunde am Zeichentisch, damit  bei  der Begegnung mit den Kunden selbst die letzte Einzelheit stimmte."
In jenen Tagen hat Christa aber auch schon damit begonnen, eigene Kleider zu entwerfen, und lässt sich von der Mutter zeigen, wie man zuschneidet & näht.

Die gutaussehende und lustige junge Frau mit den schwarzen Haaren und den blitzenden Augen hat viele Verehrer und ist für Männer ein guter Kumpel. Die Ehe hält sie für eine "Füdlibürger-Institution". Mit den Eltern gibt es immer wieder Reibereien - "Meistens ging es um Männer, die meinen Eltern nicht passten. Leider war ihre Kritik fast immer berechtigt.

1958 lernt sie im Wellenbad Dolder einen jungen Mann kennen, den zu heiraten ihr fünf Jahre später dann doch nicht so spiessig vorkommt: Rudi Hegetschweiler, ein Textilkaufmann mit gut bezahlter Stelle beim Zürcher Kleiderhersteller Wormser-Blum, mit  ebenso guten Manieren und einem VW-Käfer, zudem Eishockeyspieler bei den Grasshoppers ist. Erst einmal geht der aber nach Lausanne, dann nach Paris, wo Christa ihn besucht und viele Eindrücke sammelt. Schliesslich zieht Rudi nach Genf, dem "petit Paris" von dazumal. 

Im  November 1963 findet die Trauung der Beiden in der alten Kirche Witikon in Zürich statt, nachdem Christa im April des Jahres schon zu Rudi nach Genf gezogen ist. Das Brautkleid näht ihr die Mutter aus weißem Samt mit einem passenden Mantel, A-Linien-förmig, wie die von Givenchy damals gewesen sind. 
"Man muss ja bei so einer Hochzeit auch der Familie gefallen und also Kompromisse machen. Dieses Heiraten war eine mühsame Angelegenheit! Das würde ich heute nicht mehr machen." ( Quelle hier ) Und: "Ich sah aus wie Audrey Hepburn in 'Breakfast at Tiffany’s'. Aber ich fühlte mich nicht wohl in Weiss, schon damals nicht. Es passte einfach nicht, auch diese Ehe war nicht das Richtige. Beruflich hat es mit diesem Mann gut funktioniert. Er hat mich zur Mode gebracht."
Christa erhält in Genf eine Stelle als Grafikerin beim Warenhaus "Au Grand Passage" und kann sich einen roten Morris Mini, das Kultauto jener Zeit, leisten. Als 1965 in der Nähe des Genfer Bahnhofs ein Ladenlokal von 50 Quadratmetern frei wird, ergreift das junge Paar die Gelegenheit, seinen Traum zu verwirklichen: eine eigene Boutique! Der "Boutique pour Monsieur" ist ein Erfolg beschieden, der die gewagtesten Erwartungen der jungen Leute übertrifft. Christa und Rudi treffen den Nerv ihrer Altersgenossen in der Stadt und deren neues Lebensgefühl.

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Ein Jahr später eröffnen sie in der Nähe des Theaters "La  Garçonne" das erste Geschäft in der Schweiz für Unisex- Bekleidung. Dass Rudi in seiner paternalistischen Art alles Geschäftliche in seiner Hand behält und ihr den kreativen Part überlässt, stört Christa da noch nicht, kann sie doch jetzt sogar eigene Entwürfe in einem größeren Schneideratelier in Lausanne anfertigen lassen. In die näht sie dann Etiketten mit ihrem Markennamen "Chrigi" ein -  damit ist sie voll ausgelastet. Sie muss sich sogar nach einem Jahr im Freiburger Land  nach weiteren Produktionsstätten umtun.

"Es gab für uns nur zwei  Tätigkeiten - wir arbeiteten  und wir feierten", wird  Christa in der Rückschau erzählen.

Zwei Jahre nach der ersten Boutique - Eröffnung wird ein Ladenlokal von fast sechsfacher Größe in einer Parallelstraße zur mondänen Rue du Rhône angemietet. Schon bald können sie auch diese Ladenfläche erweitern.  Ein Dutzend Angestellte werden möglich, ein eigenes Haus in Onex gekauft, das aufwändig umgestaltet wird und stets für Freunde und Bekannte offen steht. Später wird Christa dieser Lebensphase das Etikett "la dolce vita" anheften:  Der Luxus, den sich das junge Paar leisten kann - Rudi kauft sich schließlich einen Rolls -Royce, sie fährt einen Lamborghini - markiert aber auch, dass ihre Lebensauffassungen mehr und mehr auseinanderdriften:

"Wir hatten zu viel Geld, zu große Autos, und mein Mann leistete sich zu viele Mätressen", so Christa. Jetzt ärgert es sie auch, dass sie keinen Einblick in die Finanzen hat. Doch eine Ehe ist für sie etwas fürs Leben, und so trennt man sich 1970 erst mal nur auf Probe. Auf Teneriffa versucht Christa, für sich klar zu bekommen, was sie wirklich will. Doch zu den privaten Unstimmigkeiten gesellen  sich nun auch unterschiedliche stilistische Vorstellungen in der Mode, so dass Christa schließlich 1971 doch die Scheidung einreicht.

Zwei Jahre später heiratet sie ein zweites Mal, einen Textilfachmann aus St. Gallen. Das kommentiert sie später so:
"Ach Gott, das war eine Trotzkopfübung, die ganze neun Monate gedauert hat. Der Typ war ein vollkommener Idiot, ein großer Fehler. Danach hatte ich erst mal die Nase voll und wollte sehr lange alleine sein."
Carouge am Fluß Arve
(CC BY-SA 3.0)
1974 - sie ist jetzt 38 Jahre alt - kehrt sie, mit einem gewissen finanziellen Polster ausgestattet, zurück nach Zürich und wird von der Familie mit offenen Armen empfangen. Doch bald wird ihr deutlich, dass kein klarer neuer Weg vor ihr liegt. Dazu kommt dann noch der Tod des Vaters 1975, was sie alles herunterzieht.

Zur Beerdigung erscheint auch der Exmann, und dem gelingt es, sie zu überreden, nach Genf zurückzukommen. Doch die Trends in der Mode haben sich weiter geändert ( der Exmann nicht ), und deshalb ist auch der Laden in der Rue de la Croix-d'Or nicht mehr der richtige Ort für Christa. Sie zieht weiter nach Carouge, einem historisch geprägten Nachbarort Genfs, bewohnt von Franzosen, Savoyarden, Deutschen & Deutschschweizern, ein Ort, in dem sich Persönlichkeiten entfalten können.

Bei einem Spaziergang im Frühjahr 1978 entdeckt sie im Zentrum einen leerstehenden Laden, eine ehemalige Wäscherei, den sie anmietet und so belässt, wie sie ihn vorgefunden hat, um einen Neuanfang zu wagen:
"Ich wollte unter meinem Namen ein Geschäft in Carouge eröffnen. Auf Französisch haben Sie meinen Namen "Furrer" ausgesprochen, genau wie "Führer". Das würde natürlich gar nicht funktionieren. Also kontaktierte ich den Maire von Carouge und fragte ihn, ob ich meinen Namen in Christa de Carouge ändern könne. Er war ziemlich begeistert, stimmte spontan zu und sorgte dafür, dass dieser neue Name als Nom de Plume in meinen Pass eingetragen wurde. " ( Quelle hier )
1980
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Mit großer Vor- & Umsicht geht sie das neue Projekt an, vermeidet einen Kredit bei der Bank, verkauft erst einmal bekannte Schweizer Marken, dazu Mode von Kansai Yamamoto und Schuhe von Stefi Talman und erst nach und nach ihre eigenen Entwürfe, die die aus Zürich immer wieder anreisende Mutter und eine weitere Basler Schneiderin fertigen.
"Seit ich etwa Mitte 30 bin, trage ich nur noch Schwarz. Schwarz ist neutral. Es lenkt nicht ab, etwa von der Form oder vom Material. Ich bin eine Materialfetischistin: hochwertiger Stoff und die Textur sind mir wichtig. Dieses Plissee (... ) könnte ich stundenlang anschauen, in seine Falten und Täler eintauchen. Je nachdem, wie es fällt, verändert sich sein Farbton. Ist das nicht wunderbar?" ( Quelle hier ) "Schwarz wirkt dabei aber nicht hart, sondern macht schön. Auf meiner ersten Italienreise war ich so fasziniert von den Witwen in Sizilien, alle in Schwarz, mit ihren zerfurchten, ausdrucksstarken Gesichtern."
1980 lanciert sie eine ganze Kollektion in Schwarz. Diese wird in der Schweiz als revolutionär empfunden und lockt bald eine treue Kundschaft ins Geschäft.

1980
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Vorbilder sind Vivienne Westwood, an der sie die Kompromisslosigkeit und den Mut zur Provokation schätzt, und der Italiener Gianfranco Ferré mit seinen  geradlinigen Schnitten. Zwecks Inspiration reist sie viel, besonders gerne in die Haute Provence, wo sie den Einklang von Natur und Architektur zu schätzen weiß, oder nach nach Japan. 1984 unternimmt sie eine fünfwöchige Reise dorthin, die einen wichtigen Wendepunkt in ihrem Schaffen als Modemacherin markiert, aber auch spirituelle Interessen bei ihr auslöst.

Bei ihren Kreationen fühlt sie sich ab da dem Minimalismus verpflichtet, schafft Kleidung, die sie als Zelt, Hülle oder Unterschlupf bezeichnet, den man nach Lust und Laune verändern kann. Schon seit 1983 präsentiert sie ihre Kreationen in der Öffentlichkeit nach Art der Performance - Kunst, mit nicht professionellen Modellen und Musik, verwischt dabei die Geschlechterrollen, erzählt Geschichten in künstlerischen Form, schafft Atmosphären.

Überhaupt beschäftigt sie sich gerne mit Kunst, mit Architektur und Malerei, findet Gefallen daran, dass man bei Faltenwürfen mit Licht & Schatten spielen kann wie die Niederländer Maler und die  Farbe sich dabei verändert. Sie unterscheidet auch nicht - darin steht sie den Japanern nahe - zwischen Kunst und Kunsthandwerk. Japan verbindet sie mit einem bestimmten Duft, den sie zusammen mit einem Westschweizer Parfümeur verwirklicht und 1986 herausbringt.

Delphos - Kleid von Fortuny
(ca.1917)
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Christa liebt es, auf vielen Gebieten Pionierarbeit zu leisten: Mit dem renommierten St. Gallener Textilunternehmen Schlaepfer entwickelt sie Seidenstoffe mit eingewebten Fäden aus Kupfer, Messing oder Silberlegierungen. Es entstehen Stoffe die - neben den Klassikern Wolle und Leinen - auch aus Rosshaar, Bast und Papierfasern bestehen. Auch die klassische Klosterwolle findet bei ihr Verwendung und wird zu weit geschnittenen Mänteln für Frauen und Männer vernäht.

Weil Wolle und Seide chemisch gereinigt werden müssen, damit letztere nicht brüchig wird, sucht Christa nach Alternativen in Kunstfaser. Es dauert, bis sie bei Weisbrod-Zürrer den Stoff eines japanischen Herstellers, einen Mikro-Crêpe, findet, der ihren Ansprüchen genügt: Er ist robust, leicht zu waschen, nutzt sich nicht schnell ab und kommt auch mit dem Transpirieren des menschlichen Körpers gut zurecht. Und das Besondere: Er ist auch noch als Plissé erhältlich! Das ist Christa wichtig, seit sie in Venedig die Arbeit des Andalusiers Mariano Fortuny kennengelernt hat, besonders sein Delphos- Kleid ohne formgebende Nähte, Raffungen und Polster. Die erste Kollektion aus Mikro-Crêpe wird 2001 enthusiastisch begrüßt.

"Ihr eigenes Leben dient ihr als Modell. Wenn sie eine ihrer häufigen  Reisen antritt, will sie  innerhalb kürzester Zeit bereit sein zum Aufbruch... Der Gedanke an eine Vielzahl voluminöser Koffer  ist Christa ein  Gräuel", schreibt Georg Weber. 1998 bringt sie eine Reisetasche heraus, eine Art Kommode auf Rädern, wie sie sagt, die man sogar in ein Sitzkissen oder einen Tisch ( mit Hilfe der Bodenplatte ) verwandeln kann.

1998
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Christas Arbeiten  werden nun auch museal gewürdigt: 1993 findet eine erste Einzelausstellung im "Musée des arts décoratifs de la Ville de Lausanne" statt, wo sie auch den "Prix Bolero" des gleichnamigen Modemagazins verliehen bekommt. Im Jahr darauf kauft das Landesmuseum Zürich einen Abendmantel aus Metall- und Seidenstoff an. Es folgt der "Prix de l’artisanat de Genève".

Sie wird als Lehrerin engagiert und gibt Kostümseminare an der Theaterakademie Utrecht in den Niederlanden. Außerdem entwirft sie Kostüme für "King Lear" im Théâtre du Jorat in Mézières (Kanton Waadt).

Mühle Tiefenbrunnen
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Innerhalb von zehn Jahren wird Christa de Carouge eine feste Größe in der Modeszene der französischsprachigen Schweiz. 1987 ergibt sich die erste Erweiterung ihres Wirkungskreises durch die Zusammenarbeit mit einer Boutiquebesitzerin in Rheinfelden. Das gibt Christa den bis dato fehlenden  Impuls, auch nach Zürich zurückzukehren. Die Möglichkeit, ein großes Ecklokal im Gebäudekomplex der Mühle Tiefenbrunnen zu mieten - einer Gegend, die sie seit der Kindheit kennt - erleichtert ihr den Schritt, und im Herbst 1988 ist sie zurück in der Stadt ihrer Kindheit.

Gleichzeitig entsteht ein Geschäft in Basel unter der Leitung ihres Bruders Jörg. In Berlin, Düsseldorf und Stuttgart werden ihre Kollektionen in Boutiquen geführt, in Wien wird im Herbst 1995 ein Geschäft mit einer großartigen Inszenierung auf der Straße eröffnet ( 1997 findet die "Modenschau" sogar im Museum für  angewandte Kunst (MAK) statt ).

Ansonsten ist die Mühle Tiefenbrunnen ein optimaler Ort für die anspruchsvollen Präsentationen der Christa de Carouge. Immer wieder wird sie auch als Kostümbildnerin herangezogen. Als die Schauspielerin Ruth Maria Kubitschek 2011 den Bambi  für ihr Lebenswerk erhält, trägt sie "Christa de Carouge" - nun werden auch Frauen aus Deutschland auf die Schweizer Modemacherin aufmerksam.

Doch das Wachstum an allen Fronten hat seinen Preis: Sechzehn Jahre pendelt Christa zwischen Carouge und Zürich. Auch in Wien ist sie immer wieder gefragt. Unterstützung erfährt sie durch ihre  Familie: Die Mutter Claire ist bis zu ihrem 90. Lebensjahr im Zürcher Geschäft, Schwester Verena  unterstützt sie dabei, und der jüngste Bruder Beat übernimmt alles Kaufmännisch-Organisatorische. Doch mit der Jahrtausendwende ist Christa bereit, das Korsett der vielfältigen Verpflichtungen abzulegen:

Sukzessive beendet sie die Zusammenarbeit mit den deutschen Boutiquen, stellt die Kooperation mit Wien ein und gibt das Geschäft, sehr zum Bedauern der Westschweizer, in Carouge auf. Jetzt endlich kehrt Ruhe in ihr Leben ein. In Zürich kann sie Entwerfen, Organisieren, Verkaufen wieder zu der Einheit zusammenfügen, die Christa braucht.

2001 verändert sich auch ihr Privatleben:
"... die wahre Liebe habe ich erst mit 65 kennengelernt, als ich nach 13 Jahren Singledasein gar nicht mehr daran glaubte."
Christa mit André Hirzel
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Noch aus Carouge kennt sie den 1953 geborenen André Hirzel, Bar - Chef in einem ihrer Stammlokale, der ihr gefällt - und sie ihm. Doch der Altersunterschied hält sie auf Distanz. Erst das Eingreifen eines Bekannten führt dazu, dass die Beiden ab da unzertrennlich sind. André trägt Christas Kleider für Fotoaufnahmen, teilt ihre Gedanken und bespricht mit ihr ihre Ideen, organisiert ihre Veranstaltungen und führt die zeitweilige Zweitboutique "Carouge  Homme" am Tiefenbrunnen. Nach fünf Jahren erkrankt er an einem Krebs des Lymphsystems und stirbt nach langem Leiden im Dezember 2009.

Andrés Tod führt die 73jährige wieder zur intensiveren Beschäftigung mit ihrer Arbeit. Sie verfolgt weiterhin kompromisslos ihre Linie und bietet mit ihrem Geschäft denjenigen einen Begegnungsort, die nicht nach Mode, sondern nach einem eigenständigen Stil suchen. Freunde entdecken an Christa eine immer stärker werdende Bejahung des Lebens und keine Bitterkeit ob all der Verluste &  Schwierigkeiten der letzten Jahre. 

2010/11 wird im Genfer "Musée d’arts et d’histoire" wieder einmal ihre Arbeit mit einer Ausstellung "Décor, Design et Industrie"dokumentiert. 2011 wird ein Exemplar ihres Fatima-Sets vom Schweizer Bundesamt für Kultur als Dauerleihgabe für das Museum "Bellerive" in Zürich angekauft, das aus Hose, Kleid, Kapuze, Stola und Tasche besteht. 

Mehr und mehr wird jetzt ihre Wohnung in Seefeld ihr alleiniger Lebensmittelpunkt. Dort wird sie ab 2014 auch Arbeit und Freizeit nicht mehr trennen, nachdem sie ihren Laden in der Mühle Tiefenbrunnen nach einer Notoperation 2013 aufgibt: "Es gilt, die Grenzen der eigenen Kraft zu erkennen. Ich will auf dem Höhepunkt abtreten und nicht durch Umstände gezwungen werden." Und: "Es war zu Ende, außerdem hatte ich mich gut vorbereitet. Wichtig ist, dass man aufhören kann." ( Quelle hier )

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Regelmäßig kümmert sie sich sonntags um die inzwischen pflegebedürftige Mutter, die 2018 mit 103 Jahren stirbt. Gedanken über den eigenen Tod lässt sie Mitglied bei EXIT, der Vereinigung für humanes Sterben, werden:
"Ich will auch über meinen Tod verfügen können und niemals in Abhängigkeit geraten." 
Auch ihre Hinterlassenschaft als Modemacherin regelt sie, will ursprünglich ihre Schnittmuster und Prototypen wegwerfen und nur die Skizzen behalten. Dann übergibt sie sie doch ihrer Schneiderin Deniz Ayfer-Ümsu, mit der sie seit zwanzig Jahren zusammen gearbeitet hat.

Im November 2017 eröffnet das Kunsthaus Zug eine Retroperspektive zu Christas Werk. Die erhält im Dezember die Diagnose eines unheilbaren Krebsleidens. Anfang Januar besucht sie ein beschwerliches letztes Mal die "Kronenhalle", ihr erklärtes Lieblingsrestaurant in Zürich, in Begleitung von Deniz Ayfer-Ümsu. Dann, am 17. Januar 2018, stirbt Christa de Carouge 81jährig zu Hause im Kreis ihrer Familie. Ihre Asche soll nach ihrem Willen mit der André Hirzels, die sie in ihrer Wohnung aufbewahrt hat, über dem Zürichsee verstreut worden sein...

In einem Interview hat sie sich über ihre Vorstellung vom Sterben geäußert als einem Einschlafen, aus dem sie nicht mehr aufwachen wird und dann nicht mehr sein wird: "Was soll's noch?" sagt sie da mit einem so fröhlich-freundlichen Gesicht, dass ich mir eine solche Haltung auch wünsche. In ihr habe ich  - für mich überraschend - mal weder ein "role model" fürs Alter gefunden:



"Rebel ager" - so viel Zufriedenheit, soviel Unabhängigkeit - unbedingt anschauen!

18 Kommentare:

  1. Was für ein Leben! Was für eine tolle Frau. Wunderbares Portrait. Herzlich, Sunni

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    1. P.S. Und ich frage mich,welche Konstellation an Persönlichkeit dazu gehört, im Alter so zu sein wie sie, so voller erfüllter Träume, ohne das Vermissen von weiteren Reisen oder neuen Begegnungen und ruhend doch in sich selbst, obgleich immer noch eine so temperamentvolle Frau. Ich wünschte mir so sehr, so zu sein....

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  2. Was für eine Frau.
    Und wieder wunderbar geschrieben
    Liebe Grüße
    Andrea

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  3. Du sagst, daß du in ihr ein "role model" fürs Alter gefunden hast. Ich finde, daß du ihr, jetzt mit der neuen Frisur, auch äußerlich ähnelst.
    Ein sehr inspirierender Post. Danke dafür
    Dorothée

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    1. Das ist Zufall, ich korrespondiere aber auch gerade mit anderen Leserinnen darüber😂
      Ich habe mich für die kurzen weißen Haare entschieden, da hab ich mich mit ihr noch nicht beschäftigt gehabt. Aber wir sind ein ähnlicher Wintertyp mit heller Haut, schwarzhaarig und bräunlichen Augen...
      GLG

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  4. Ich hatte das Glück und habe Christa persönlich gekannt. Sie war so eine Warmherzige, aber auch sehr Energische Person. Ich schlüpfte sogar an einer Vernissage in eine ihrer Roben. Christa hätte Freude an deinem Beitrag.
    L G Pia

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    1. Das finde ich ja toll, Pia! Ja, ich hätte sie auch gerne kennengelernt....
      GLG

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  5. meine freundin war eine gute kundin bei christa...aber ihr lebenslauf war mir unbekannt...toll getroffen!

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  6. Wie spannend und inspirierend! Ein bewegtes kreatives Leben!
    Danke!
    Liebe Grüße
    Andrea

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  7. Das ist ja wieder großartig informativ. Langeweile ist in diesem Leben nicht aufgekommen und für mich ist das mal wieder eine Frau, die ich gar nicht im Blick hatte.
    LG
    Magdalena

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  8. Liebe Astrid, Christa de Carouge war mir nicht bekannt. Schon die Fotos von ihr in Deinem Beitrag haben mich angesprochen, der Film und dein ausführlicher Text haben mich gerade sehr interessiert. Herzlichen Dank dafür. Ich bewundere bei Deinen Nähprojekten und Deiner Floristik den gekonnten Umgang mit Farben. Nur Schwarz wäre Dir bestimmt zu wenig, trotzdem habe auch ich an äußerliche Ähnlichkeiten mit Dir gedacht. Für mich bist Du ein ‚role model‘.
    Liebe Grüße, Margit P. aus N.

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  9. Ach, das war jetzt schön zu lesen, dieses dein Porträt dieser so interessanten Frau. Ja, über Rollen im Alter denke ich gerade auch oft nach. Gerade, wenn sich manches nicht so gestaltet, wie man es sich mal gedacht hatte. LG Ghislana

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  10. boah, ich bin begeistert! Danke für diese fantastische Frau. Ja, das sind role models. starke Frauen im Alter. Mit Deinem weissen kurzen Haarschnitt ähnelst Du ihr, nicht zuletzt durch die Brille und die Energie. Du bist auch eine role model, weisste, ne. Herzgruß, Eva

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  11. Eine beeindruckende alte Frau. Natürlich war sie auch als jüngere Frau schon beeindruckend, aber als alte Frau beeindruckt sie mich besonders. Bei ihr und für sie hat alles seine Bedeutung gefunden. Sie lebt ihre Welt und sie wird sie auch sterben. Ganz für sich.
    Ein ganz besonderes Portrait hast Du heute vorgestellt. Gut für alte Frauen.
    Danke von Sieglinde

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  12. Liebe Astrid,
    danke dir für dieses gelungene Porträt...ich kannte sie bislang nicht und die von dir eingefügten Videos zeigen eine beeindruckende Frau, die vollkommen in sich ruht und eine Würde, Gelassen- und Zufriedenheit ausstrahlt, die wunderschön anzusehen ist.
    Herzlichen Gruß an dich, Marita

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  13. wieder eine sehr interessante Frau
    der Name ist mir unbekannt
    allerdings kann ich mich an solche Werbeplakate erinnern ..

    auch der Film..sehr beeindruckend

    aber schwarz... das wäre nichts für mich
    das würde mich erdrücken

    liebe Grüße
    Rosi

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  14. Oh, wie interessant!!!Dankeschön!

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Danke, dass du dir für ein paar liebe Worte Zeit nimmst!

Ich wünsche mir allerdings nach wie vor, dass ein Name am Ende des Kommentars steht.
Da die anonymen namenlosen Kommentare zuletzt wieder zugenommen haben, hier der ausdrückliche Hinweis:

Ich werde sie ab jetzt wieder konsequent NICHT freischalten.

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