Freitag, 11. November 2016

Nein, nicht Raif, nicht "nine eleven", sondern die Türkei


... ist heute das Thema in meinem freitäglichen Post zum saudi - arabischen Blogger Raif Badawi, von dem es immer noch keine neuen Nachrichten gibt. ( Und zum amerikanischen Desaster am 9.11.: meine Gedanken dazu im Sonntagspost. ) Was mich zur Zeit aufregt, immer wieder, ist das Leugnen der Verantwortlichen in der Türkei ( und die Ignoranz mancher türkischer Mitbürger ), dass das Land vor den Toren Europas einen Weg eingeschlagen hat, der nicht nur mich an die Dreißiger Jahre des vergangenen Jahrhunderts in unserem Land denken lässt.

"Wer sich nicht an die Vergangenheit erinnert, wird gezwungen, sie wieder zu erleben."
Peter Weiß
Deutscher Schriftsteller
( 8.11.1916 - 10.5.1982 )





Auch der luxemburgische Außenminister Jean Asselborn hat Anfang der Woche die aktuellen Entwicklungen in der Türkei mit denen in der Nazizeit verglichen. Zum Vorgehen gegen Regierungsgegner unter dem vom türkischen Staatspräsidenten ausgerufenen Ausnahmezustand sagte Asselborn im Deutschlandfunk: "Das sind Methoden, das muss man unverblümt sagen, die während der Naziherrschaft benutzt wurden."

Edzard Reuter, ehemaliger Daimler - Vorstandsvorsitzender und Türkei - Kenner, der im übrigen seine Kindheit als Flüchtling vor den Nazis in der Türkei verbracht hat, kam in einem Gespräch mit der "Zeit" zum selben Schluss: "Was derzeit in der Türkei geschieht, erinnert mich an die Anfänge der NS-Zeit in Deutschland."

Ich kann beiden nur zustimmen und schwinge sozusagen auch mal die Nazikeule mit, die sonst ja so gerne von türkischen Politikern und Demagogen uns gegenüber geschwungen wird. 

Jörg Bieseler hat mir am Dienstag mit seinem Kommentar aus der Seele gesprochen.

Staatsminister Michael Roth vom Auswärtigen Amt fühlte sich in dieser Woche auch veranlasst, Folgendes mitzuteilen: "Was derzeit in der Türkei geschieht, hat mit unserem Verständnis von europäischen Werten, Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Medienfreiheit nichts zu tun." Über Asyl entschieden die Behörden. "Aber: Deutschland ist ein weltoffenes Land und steht allen politisch Verfolgten im Grundsatz offen. Sie können in Deutschland Asyl beantragen. Das gilt dezidiert nicht nur für Journalisten."

Traurig, dass man meint, solche Selbstverständlichkeiten noch betonen zu müssen...

Wie es übrigens einem solchen Asylanten geht, in diesem Falle ein enteigneter türkischer Unternehmer, kann man gerne mal hier hier nachlesen.

Inzwischen konnte ich auch mit einigen meiner ehemaligen Schüler zur Lage im Land ihrer Mütter & Väter sprechen. Und die sind in großer Sorge um ihre Angehörigen, die teils bei Medien arbeiten, der HDP nahe stehen, Kurden oder Aleviten sind. 

Der Journalist Jürgen Gottschlich, der in Istanbul seit Jahren lebt, beschrieb Ähnliches in diesem Radiobeitrag vom Montag und lieferte eine Analyse der Entwicklung. Herr E. hat seiner Meinung nach einen "Turbo eingeschaltet" und eine politische Entwicklung forciert, für die sonst Monate gebraucht worden wären. Sicher sei man in der Türkei nur noch, wenn man seinen Acker bei Konya bearbeite. Für kritischere Geister gäbe es nur Gehen oder Bleiben. Und wenn man sich für die Türkei entscheidet und zu protestieren gedenkt, dann immer im Bewusstsein des Risikos, dass Widerstand ziemlich schnell übelst sanktioniert wird.

Sein Fazit außerdem: Herrn E. geht die Kritik unsererseits am Selbigen vorbei...

Das sehe ich zwar auch so, mag aber meinen Mund nicht halten, denn es ist meine tiefste Überzeugung, dass sich da in der Türkei ein "islamo-faschistisches" Regime etabliert. Und ich gehöre nicht zu denen, die die Vergangenheit vergessen hat - siehe oben!

Trotz der jüngsten Verhaftungswelle gegen Journalisten und Oppositionsabgeordnete in der Türkei bemüht sich unsere Regierung um Kontakt zu Ankara, und Außenminister Steinmeier reist nächsten Dienstag zu Gesprächen dorthin. Ich finde dies richtig, nachdem ich erfahren habe, wie wichtig das den Inhaftierten ist. Auch der HDP-Co-Vorsitzende Selahattin Demirtaş, inzwischen im berüchtigten Foltergefängnis von Edirne untergebracht, hat sich am Mittwoch mit einer Botschaft an die Außenwelt gewandt und seinen Wunsch nach Unterstützung formuliert.

Auch wenn Raif Badawi bisher nicht frei gekommen ist - ich bin mir sicher, dass ihn unsere anhaltende Aufmerksamkeit bisher vor weiteren grausamen Stockschlägen bewahrt hat. Und das kann ich mir für die in der Türkei Inhaftierten Demokraten auch vorstellen.

Heute Mittag dann die Meldung: Akın Atalay, Herausgeber der regierungskritischen Zeitung "Cumhuriyet", ist in Istanbul verhaftet worden. Er kam gerade aus Berlin, wo er eine Veranstaltung der Kölner Dependance der türkischen Oppositionspartei CHP besucht hatte....




9 Kommentare:

  1. Der Satz von Peter Weiß bringt es auf den Punkt, kurz und prägnant!
    Erschreckend die Parallelen zwischen dem Beginn der Nazizeit und dem, was sich im Moment in der Türkei abspielt.
    Trotz allem ein schönes WE,
    Monika

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  2. Darin stimme ich Dir, wie Du weißt, voll und ganz zu. Die Beitrittsverhandlungen zur EU gehören endgültig und unmissverständlich gestoppt. (Auch ein Grund, warum hiesige Bürger wütend werden? ich sinne gerade darüber, warum länderübergreifend die Menschen immer unzufriedener mit ihren etablierten Parteien und Politiker werden.)
    Liebe Grüße
    Andrea

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  3. Ich habe in der Türkei so weltoffene, liberale Menschen kennengelernt, die DAS doch nicht unterstützen können. ????????????????????????????????????????????????????????????

    Ja. Den Vergleich zu A.H. ziehe ich an dieser Stelle auch.

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  4. Angela Merkel hat von Trump „Demokratie, Freiheit, Respekt vor dem Recht und der Würde jedes einzelnen Menschen, unabhängig von Herkunft, Hautfarbe, Religion, Geschlecht, sexueller Orientierung oder politischer Einstellung“ eingefordert. Schade, dass sie für Herrn E nie ansatzweise solche Worte gefunden hat.
    Schönen Abend!

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  5. Die Entwicklung in der Türkei macht mir auch fast noch größere Sorgen als der neue amerikanische Präsident. Wie kann das türkische Volk diesem Faschismus ihres Präsidenten nicht nur zusehen, sondern ihn auch noch mehrheitlich bejubeln? Auch meine vielen türkischen Nachbarn zucken nur die Schultern und finden gut, was da passiert. Wie kann das sein, wenn man hier aufgewachsen ist, die Demokratie kennengelernt hat, dass man sich zurücksehnt ins Großosmanische Reich (wie es Erdogan inzwischen ja auch ganz offen anspricht)? Wie kann man ein solches Vorgehen, solche Säuberungsaktionen gutfinden? Mich lässt das bestürzund sorgenvoll zurück. :-(
    LG, Katja

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    1. Die Sehnsucht nach dem starken Mann greift um sich ( gut, in Frankreich soll es denn ne Frau sein ). Ist ja hierzulande nicht anders. Wenn da jemand umsichtig und menschlich handelt, wird eher rumge-trumpt ( trumpen= schwedisch für mürrisch, schmollend, verdrießlich ).
      GLG

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  6. Liebe Astrid,

    schau mal, vielleicht interessiert dich dieses Interview mit der Politologin Elham Manea:

    http://derstandard.at/2000047393156/Politologin-Elham-Manea-Keine-Sonderrechte-fuer-Muslime

    LG
    Veronika

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    1. Danke für den Hinweis. Elham Manea ist mir aufgrund ihres Einsatzes für Raif Badawi ein Begriff.
      LG

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  7. Er wird auch im Interview erwähnt - ich dachte gleich an dich und dein Thema hier!

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Danke, dass du dir für ein paar liebe Worte Zeit nimmst!

Ich wünsche mir allerdings nach wie vor, dass ein Name am Ende des Kommentars steht.
Da die anonymen namenlosen Kommentare zuletzt wieder zugenommen haben, hier der ausdrückliche Hinweis:

Ich werde sie ab jetzt wieder konsequent NICHT freischalten.

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