Montag, 3. November 2025

Bücherlese Oktober

"Für mich ist Literatur 
ein Heilmittel gegen Gewalt. 
Gewalt zwingt uns, 
über Gewalt zu sprechen, 
und das macht sie sichtbar, 
macht sie angreifbar. 
Literatur ist für mich 
ein Impfstoff gegen Gewalt." 
Édouard Louis
"Der Dichter ist das Sprachrohr 
der Ratlosigkeit seiner Zeit.
Marie Luise Kaschnitz
"Ein Buch ist kein Kino."
Arundhati Roy

Inhaltlich habe ich bei meiner Lektüre im Oktober da weitergemacht, wo ich im September aufgehört habe, nämlich mit der Zeit des Nationalsozialismus. In Norbert Scheuers Buch "Winterbienen" geht es um das letzte Kriegsjahr im Eifelstädtchen Kall, an der Grenze zu Belgien gelegen. Dort kümmert sich der Lateinlehrer Egidius Arimond, in den Ruhestand versetzt, weil er Epileptiker ist ( nur unbehelligt, wegen seines Bruders, einem Fliegerass ), Tag für Tag um seine vielen Bienenvölker der Art Apis mellifera Carnica und übersetzt alte Aufzeichnungen seines Vorfahren im 16. Jahrhundert, des Benediktinermönchs Ambrosius, der diese Bienenart von jenseits der Alpen in die Eifel gebracht hat. Und ab und an schmuggelt er gegen Geld, das er für seine Medikamente braucht, jüdische Flüchtlinge über die Grenze, versteckt in präparierten Bienenkästen. Das alles hält er in Tagebucheintragungen fest, egal ob Alltagsverrichtungen, Kindheitserinnerungen, Techtelmechtel, Bienenbeobachtungen. Eine besondere Rolle kommt gerade denen zu, durch alle Jahreszeiten hindurch, liebevoll und genau. Verstecken tut Egidius die Texte in seinen Bienenstöcken.



Auf eine leise Weise treibt der Autor so die Geschichte voran, oft auch in ganz poetischer Manier. Lebensechtheit gewinnt der Roman auch dadurch, dass manche Figuren wieder aus dem Blickfeld des Lesenden verschwinden. Norbert Scheuer schafft mit diesem Kniff eine Atmosphäre, die nur langsam an Spannung zunimmt. Die Dramatik der letzten Kriegstage in den Eifelhöhen wird erfahrbar nicht nur, aber auch, anhand der epileptischen Anfälle seines Antihelden. Es gelingt ihm solcherart, mit diesem Buch eine neue Facette des dunklen Kapitels unserer Geschichte auszuleuchten, auch, indem er zwei autoritäre Strukturen gegenüberstellt, die der Bienen, die friedfertig ist, und die der Nazis, die brutal alles zerstört. Ich habe das Buch an zwei Abenden gelesen, und es hat mir sehr gefallen.

Anschließend hab ich mich wieder meinen literarischen Großprojekt zugewandt und mir den dritten Band von Uwe Johnsons "Jahrestage" vorgeknöpft ( hier und hier habe ich schon darüber berichtet ). Der Autor hat mir den Wiedereinstieg erst einmal schwer gemacht, indem er in seiner vertrackten Art, Orthografie und Syntax gegen den Strich zu bürsten und auf eigenwillige Weise zu formulieren, die Gepflogenheiten in den kapitalistischen USA, besonders im Bankenwesen, darstellte. Auch die Ereignisse & Machenschaften in Jerichow, nachdem sich das britische Militär zurückgezogen und die Rote Armee die Herrschaft übernommen hat, blieben mir manches Mal unverständlich. Aber vielleicht gibt Johnson auch nur das Chaos so wieder, wie es gewesen ist, ist er doch ein Autor, der Tatsachen und Emotionen, persönliche Erfahrung wie historische Fakten zum Ausdruck bringt. 

Aber dann hat er mich wieder gepackt mit seiner Schilderung des Lebens in Jerichow nach Kriegsende: Gesines Vater Heinrich Cresspahl hat auch unter sowjetischer Besatzung den von den Briten verliehenen Posten des Bürgermeisters inne, ist jetzt aber dem Wankelmut, Willkür und Alkoholexzessen des neuen Stadtkommandanten, dem russischen Major K.A.Pontij, ausgesetzt. Er wird nicht schlau aus ihm. Die Jerichower selbst machen Cresspahl für nahezu alles verantwortlich, was unter sowjetischer Militärverwaltung geschieht, selbst dafür, dass die Sowjets überhaupt in den Ort gekommen sind, obwohl wenn Cresspahl alles versucht, um die Versorgung der Mitbürger hinzubekommen. 

Pontij setzt ihn schließlich am 22. Oktober 1945 ab und verfügt seine Verhaftung. Cresspahl kommt im August 1946 ein Lager im Südwesten Mecklenburgs. Es gibt wechselnde Anschuldigungen gegen ihn, er wird misshandelt und schließlich im Februar 1947 in das Lager Fünfeichen überstellt. "Es dauerte bis in den frühen Sommer, bis Cresspahl zu sich kam", schreibt Johnson. Cresspahl findet, er sei blöde geworden vor Entkräftung. Beschimpfungen, Demütigungen, Misshandlungen, als hätten die Sowjets bzw. deren deutsch Kapos die Gepflogenheiten der SS mit den Lagergebäuden übernommen, sind an der Tagesordnung. Bis Dezember 1947 kann er nach Auspeitschungen nicht mehr gehen. 8500 Tote "nicht durchweg mit Namen verbürgt", gab es in Fünfeichen. Einen Prozess plus Urteil bekommt Heinrich Cresspahl nicht.

Eingeflochten wird diesmal auch die abenteuerliche Fluchtgeschichte von Marie & Jakob Abs, die sich mit einem Pferdegespann von der Insel Wollin in Pommern abgesetzt haben und auf dem Weg gen Westen im Cresspahlschen Hause gestrandet sind. Dort - obwohl Marie Abs immer weg will - organisiert sie dann den aufgrund anderer untergebrachter Flüchtlinge vielköpfigen Haushalt als gelernte Köchin, und ihr jugendlicher Sohn, der von Gesine angehimmelt wird, verdingt sich zunächst mit seinen zwei Pferden in der Landwirtschaft, dann im Gaswerk und wird mit achtzehn zwangsläufig der Vorstand im Hause Cresspahl nach Heinrichs Verhaftung, was ihn wohl manches Mal überfordert.

Ebenso zur Sprache kommt das Schicksal von D.E. ( Professor Dietrich Erichson ), der aus Wendisch Burg ( fiktiver Ort in Mecklenburg ) stammt und in der Luftschlacht um Berlin Flugmelder am Flakfernrohr gedient hat & später desertiert. Am Tag der Fernsehübertragung von Robert Kennedys Begräbnis kommen er und Gesine sich wesentlich näher, eine Heirat wird ins Auge gefasst, was Marie sich schon länger wünscht.




Und das Kind Gesine? Die teilt mit der ein Jahr älteren Hanna Ohlerich, die ihre Eltern vor ihrem Suizid aus Angst vor den Russen gen Warnemünde geschickt hatten, alles schwesterlich, nur nicht gerne die Liebe zu Jakob. Von Marie Abs, die die Mutterstelle an Gesine vertritt- und die sie wiederum als Mutter anerkennt - lernt sie Alltagsdinge. Zwar gemieden von den Jerichowern wegen ihres Vaters, besucht sie das Gymnasium und verdient sich zusammen mit Hanna in den Ferien in der landwirtschaftlichen Kommune eines väterlichen Freundes zwei Sack Weizen.

Und dann kommen noch viele Namen vor, die noch heute in meinen Ohren klingen: Dubček, Kossygin, Breschnew im Zusammenhang mit den Demokratisierungsbestrebungen in der ČSR, de Gaulle mit den Pariser Maiunruhen, Hồ Chí Minh in Vietnam und vor allem Robert F. Kennedy und Eugene McCarthy, die miteinander um die Aufstellung als Präsidentschaftskandidat der Demokraten ringen. Kennedy wird am 6. Juni 1968 erschossen, und Marie verfolgt seine Beerdigung im Fernsehen zwei Tage später mit D.E., verfasst einen Lebenslauf von Kennedy und seinem Mörder, der aus Palestina stammt, und Johnson fügt bei dieser Gelegenheit eine lange Aufzählung aller politisch motivierten Gewalttaten in den USA in sein Buch ein. Die Verbindungen zu den Vereinigten Staaten in ihrer heutigen Verfasstheit liegen schnell auf der Hand.

Letztendlich war ich erstaunt, dass ich diese ganze Fülle an vier Abenden erlesen habe...

Jetzt aber nichts wie weg in eine andere Epoche der Menschheit, dacht ich mir! Deshalb Thomas Hettches "Pfaueninsel", ausgezeichnet mit dem Bayrischen Buchpreis 2014. Vielleicht lag es auch an meiner gleichzeitigen Beschäftigung mit der Meisterin der Pastellmalerei, Rosalba Carriera, dass ich mich zunächst in eine pastellfarbene Idylle hineingezogen fühlte, angesiedelt auf der Pfaueninsel in der Havel, Fluchtort preußischer Könige. 

Eine wichtige Rolle spielt das Schlossfräulein Maria Dorothea Strakon, eine kleinwüchsige Frau, deren reale Existenz am preußischen Hof verbürgt ist. Doch der Roman präsentierte sich mir nach und nach so schillernd wie die Prachtfedern der Pfauen, die auf der Insel leben. Mit Maries Augen nehmen wir die politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umbrüche in diesem Mikrokosmos wahr, erfahren von einer Zeit, in der in der Gesellschaft noch völlig andere Normen und Werte, ein anderer Umgang mit Sexualität, Liebe und Menschenwürde herrschte. Lineares Fortschrittsdenken und individuelle Lebenszeit passen nicht aufeinander und so ergeben sich auch finstere Szenen, die die scheinbar auf der Insel flanierende Leserin nicht erwartet hat. Das Bezaubernde an diesem Roman ist zugleich auch das Verstörende. Den Lesefluss etwas behindert hat das Bestreben des Autors, die verlorene Fülle enzyklopädischen Wissens für die Nachwelt zu bewahren, und die sentimentale Melancholie wird durch bedeutungsschwangere fragmentarische Reflexionen aufgebrochen. Wer einen historischen Roman erwartet: das ist die "Pfaueninsel" sicher nicht. Dazu ist die Figur der Marie auch irgendwie zu modern geraten.



Dann war mir nach Vergnüglichem. Und vergnüglich ist es für mich immer, wenn Kunst & Literatur vermischt werden, seit ich vor Jahren Inger Christensens "Das gemalte Zimmer" gelesen habe. Höchst inspirierend! 

Diesmal also Martina Clavadetscher. In "Vor aller Augen" kommt sie Frauen auf weltberühmten Gemälden zurück wie das Mädchen mit dem Perlenohrring, die Dame mit dem Hermelin, Gemälde von Leonardo da Vinci, Vermeer, Rembrandt, Courbet, Schiele, Munch u.a. und lässt die Porträtierten durch ihre kurzen Texte lebendig werden, lässt sie erzählen, mal poetisch, ängstlich, amüsiert und immer hochinteressant und kurzweilig, und Clavadetscher bestätigt mal wieder meine Vermutungen, das auf den Gemälden nicht nur schöne Modelle, sondern Frauen zu sehen sind, die eigenständig etwas auf die Beine gestellt haben.
"Ohne diese Frauen, gäbe es kein Staunen, kein Schauen – mehr noch, ohne diese Frauen wäre die Kunstgeschichte, so wie wir sie heute kennen, undenkbar. Diese Frauen waren immer auch Mitarbeiterinnen, Künstlerinnen, Unterstützerinnen, Auslöser, ein Spiegel der Zeit, Ikonen, Inspiration, Partnerinnen, Retterinnen", meint die Autorin.

Wo wir dann schon mal bei der bildenden Kunst sind: Ich empfehle zu blättern in Matthew Wilsons "Symbole in der Kunst" aus der Reihe "Art Essentials", neu bei mir im Regal, denn dieses Buch erweitert den Horizont sehr weit über die europäische Kunst hinaus und hat mich mit schönen Überraschungen beglückt.


Auf eine Empfehlung von Roswitha, der Weggefaehrtin, hin, habe ich mir "Unser Deutschlandmärchen" von Dinçer Güçyeter, ausgezeichnet mit dem Preis der Leipziger Buchmesse 2023, besorgt und gelesen. Und da war sie wieder, diese bildreiche bis drastische Sprache und diese Frauen voller Wirksamkeit, die meist irgendeinen Namen mit "Gül" ( Rose ) trugen und an die mich die Fatma des Buches erinnert. Wie sehr ich die vermisse, merke ich nun nach über zehn Jahren der Abwesenheit aus dem Schuldienst, wo ich durch diese Frauen immer Unterstützung erfahren habe.

Fatma, die Mutter des Autors, wird als ganz junge Frau ohne ihre Einwilligung verheiratet und als Gastarbeiterin nach Deutschland, nach Nettetal an der holländischen Grenze, verschleppt. Dort zieht sie den lebensuntüchtigen ( oder unwilligen? ) Ehemann mit durch, schafft neben ihrer Fabrikarbeit noch Netzwerke mit anderen Frauen zwecks zusätzlicher Lohnarbeit auf den Feldern, kümmert sich um weitere Familienmitglieder oder Exilanten. "Du kannst Berge versetzen, bleibst trotzdem nichts als ein Türgriff, den man auswechseln kann", so ihre Erfahrung. Und als sie nach vielen Jahren des Wartens endlich das Kind bekommt, das sie sich so gewünscht hat, Dinçer, ist sie physisch schon ganz schön verbraucht. Ausgerechnet dieser Sohn, den sie als ihre zweite Chance betrachtet, - "du solltest die Entschädigung für das Unvermögen deines Vaters sein" - ausgerechnet der will aus seinem Leben mehr machen als "die Geschichte des guten Sohnes" zu schreiben, nämlich seine "eigene, meine Geschichte". Er schreibt Gedichte, spielt Theater, während er gleichzeitig als Werkzeugmechaniker in der Fabrik arbeitet. Ein schönes, interessantes Buch!


"Stoner" von John Edward Williams - noch so ein Tipp vom Youtuber Thoralf Czichon! Der Roman kommt leise und unaufgeregt, aber sprachlich ausgefeilt daher und erzählt von einem Mann, einziger Sohn kleiner Farmer, der unendlich geduldig all den Anforderungen alltäglicher körperlicher Arbeit nachkommt und von den Eltern nach der High School zu einem landwirtschaftlichen Studium an die Universität von Missouri in Columbia geschickt wird. Und dort macht er in einem Pflichtkurs in Englischer Literatur die Bekanntschaft mit etwas, das in ihm die wahre Leidenschaft erweckt. Er wechselt sein Studienfach, macht seinen Magister, wird Doktorand, dann Dozent. Die Eltern nehmen hin, dass er nicht zu ihnen auf die Farm zurückkehrt. 

Stoner führt ein Leben voller Banalität, indem er heiratet, ein Haus kauft, eine Tochter bekommt und versucht, ein guter Lehrer zu sein - alles nichts Weltbewegendes, und doch hat man den Eindruck, dass das im Einklang mit sich selbst geschieht, umweht von einem Hauch an Melancholie. Denn trotz all seiner Gradlinigkeit missglückt die Ehe, entfremdet ihm die Frau die Tochter, wird er von einem Kollegen an der Uni gemobbt und verliert demzufolge auch eine späte, erfüllende Liebe zu einer Doktorandin. Und dann wird er unrettbar krank, obwohl er noch über das Rentenalter lehren will, und auf den letzten Seiten wird sein Sterben geschildert, dass ich völlig erschüttert zurückblieb. Stoner scheint gescheitert zu sein, und ist es doch nicht. Und das liegt am Autor Williams, der ein solches Leben in einen Roman verwandeln konnte.

Auch meine nächste Lektüre ging auf Thoralf Czichon ( "Der Prag-Roman schlechthin" ) zurück, war aber auch meiner Hinwendung zu Böhmen im Rahmen eines Frauenporträts geschuldet: "Nachts unter der steinernen Brücke" von Leo Perutz, ein deutschsprachiger jüdischer Schriftsteller der Zwischenkriegszeit aus Prag. Der entführte mich ins rudolfinische Zeitalter vor dem Dreißigjährigen Krieg, als der schillernd-widersprüchliche Habsburger, König von Böhmen & Ungarn, Kaiser des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation, Rudolf II. Prag zu seiner Hauptstadt erkoren und zu einem blühenden Zentrum für Kunst und Wissenschaft gemacht hat ( ohne das Geld dafür zu haben ).

In den vierzehn Geschichten geht es um das Leben in der Judenstadt und dem Hradschin, der Prager Burg, und eröffnet Blicke auf die unterschiedlichsten Figuren wie den berühmten Rabbi Loew, den reichen Mordechai Meisl, der jüdische Financier des Kaisers, und den armen Berl Landfahrer, die schöne Esther, Frau des Mordechai, kroatische wie venezianische Adlige, aber auch nicht weniger bekannte Zeitgenossen wie den Astronomen Johannes Kepler und den Feldherrn Wallenstein und eben jenen besagten Kaiser, eine herrlich plastische Figur im Roman, sowie seine Hofleute. 

Es entsteht ein farbiges, teilweise magisches Panoptikum in der Sprache verlorener Zeiten, nicht ohne Ironie und Hintersinn, eine Sprache, die wie die Stadt Prag einen alten Geist atmet, mir familiär vertraut und lieb & teuer. Perutz verwebt historische Fakten, volkstümliche Sagen und jüdische Legenden – und erzählt dabei auch von der Zerstörung der alten Prager Judenstadt, in der er selbst aufgewachsen ist. Und erst, wenn man das ganze Buch gelesen hat, begreift man, dass die einzelnen Erzählungen in einem Gesamtzusammenhang eingebunden, auch wenn sie nicht chronologisch aneinandergereiht sind. Besonders schön fand ich den erfundenen Mythos, der erklärt, warum die Böhmen die Schlacht auf dem Weißen Berg verloren haben, nämlich einzig weil der Student der Rechte Peter Zaruba vom Tisch des Kaisers gegessen und damit eine Prophezeiung an seinen Urahn gebrochen hat. Ein Lesevergnügen!

Anschließend ein krasser Szenenwechsel: die Philippinen! Das Land war immerhin Gast der vor einer Woche zu Ende gegangenen Frankfurter Buchmesse, und neugierig, wie ich bin, habe ich mir Jessica Zafras "Ein ziemlich böses Mädchen" auf den Reader geladen. Zafra, in ihrem Land eine bekannte Kulturjournalistin,  beschreibt in ihrer Coming-of-Age-Geschichte in den 1980er und 90er Jahren in Manila das Heranwachsen der überaus klugen Guadalupe de Leon, genannt Guada, und bietet gleichzeitig einen Einblick in den Inselstaat, der bei uns ja höchstens wegen Imelda Marcos' dreitausend Paar Schuhen ein Begriff ist.

Guadas Mutter, die erste College-Absolventin der Familie, ausgebildete Lehrerin, verdingt sich als Köchin bei einer der ersten Familien des Landes. Deshalb leben sie auf deren hochherrschaftlichem Anwesen, und Guada bekommt sowohl den Besuch einer elitären Nonnenschule bezahlt als auch ihren Bildungshunger gestillt durch Zugriff auf die Bibliothek der Familie. Dann erliegt Guadas Mutter einem Herzinfarkt, als sie realisieren muss, dass sie um ihr ganzes erspartes Geld betrogen worden ist. Mit deren Familie hat die nun verwaiste Fünfzehnjährige nichts am Hut. Sie bleibt in der gated community der Arbeitgeber ihrer Mutter, nutzt allerdings auch die Freiheit, um die sie die behütende Mutter immer gebracht hat, und wagt sich in das Manila jenseits der ihr gesetzten Grenzen, eine Stadt voller übler Gerüche, Verschwörungsmythen, Sektierertum, Aberglauben und ja, auch voller Elend & Armut. "Zuletzt aber bietet eine streunende Glückskatze die Ahnung, dass das nicht so bleiben wird, und so kann man Guada am Endes dieses schnellen, schön erzählten Romans getrost allein lassen", schreibt Thomas Merklinger bei literaturkritik.de. Mit eben diesem Gefühl ließ mich der kurze Roman, der witzig & unterhaltsam erzählt ist, zu meiner eigenen Überraschung zurück.



Wo ich schon mal dabei war, den Reader neu zu bestücken ( und Israel aufgrund der politischen Ereignisse in aller Munde ), habe ich mir dann noch "Chamäleon" von Yishai Sarid ausgesucht. Ich war neugierig auf das Leben in Israel, auch rund um den 7. Oktober, und den Themenkreis Meinungsmanipulation durch Medienmacht. Was soll ich sagen? Lange zu drehbuchhaft, die Personen ohne viel Tiefe, bis ganz zum Schluss. 

Shai Tamus, einst erfolgreicher, liberaler Kulturjournalist aus Tel Aviv, jetzt auf dem Abstellgleis, dient sich den neuen Meinungsmachern nach dem Rechtsruck der israelischen Regierungspolitik an und wird schließlich zu deren Marionette. Dem Protagonisten geht es um Ruhm und Ehre & die Präsenz im Fernsehen, denn seine vorgeblich linke Haltung in früheren Tagen wird mir nicht glaubhaft vermittelt. Die Figur bleibt eindimensional, es mangelt ihr an Tiefe, reflektiert sie doch eher selten & knapp. Man hat den Eindruck, dass der Roman in zwei Teile zerfällt und vom Autor weit vor dem terroristischen Überfall angefangen und dann nach einer längeren Pause mit den aktuelleren Ereignissen wieder aufgegriffen worden ist ( wo ich ihn dann auch beeindruckender finde, weil die Personen teilweise menschlicher werden ). Es war mir aber insgesamt ein zu vages, blaßes Buch.

Zurück zu bedrucktem Papier aus dem modernen Antiquariat und zu Donna Tartts "Der Distelfink" von 2013. Von der Autorin hatte ich immer wieder gehört, aber nichts gelesen. Da es wieder in meine Favoritenrubrik "Kunst wird zu Literatur" gehört, war es höchste Zeit. Das titelgebende kleine Werk auf Holz von Carel Fabritius aus dem Mauritshuis in Den Haag habe ich, seit ich es gesehen habe, ins Herz geschlossen. Da lag es auf der Hand, dass ich auch dieses Buch kennenlernen wollte.

Ich muss gestehen, dass es mich sehr schnell in das Geschehen hineingezogen hat, und ich gleich am ersten Tag ein Drittel des Inhalts verschlungen habe, so faszinierte mich die Erzählung der Stunden vor dem Unglück, das das Leben eines Dreizehnjährigen namens Theodore Decker für immer verändert. Aber noch mehr in den Bann geschlagen hat mich die ausführliche Beschreibung dessen, was der Protagonist sinnlich wahrnimmt, als er sich durch dieses stille Inferno nach der Explosion in einem Museum ins Freie schlagen muss. Wie er anschließend mit seinem Verlust - seine Mutter kommt bei dem Terroranschlag ums Leben - seiner Trauer umgeht, habe ich gut nachvollziehen und mich darauf einlassen können. Ein bisschen fantastisch & wunderlich dann die Geschichte rund um den Ring - und in diesem Zusammenhang kommt auch das Gemälde vom Distelfink ins Spiel -, den er von einem Sterbenden im zerstörten Museum erhalten hat und der ihn schließlich in eine Welt eines Möbelrestaurators führt, die Wärme & Halt bietet, wie sie ihm seine eher technokratisch agierenden professionellen Betreuer mit ihren Allerweltstipps nicht bieten können.

Für mich ging es dann weniger interessant weiter: Theo, vom wieder aufgetauchten Vater nach Las Vegas verschleppt und sich selbst überlassen, findet in dem fast gleichaltrigen russischen Boris einen Freund, und sie unterziehen sich gemeinsam adoleszenten Ritualen mit viel Alkohol, allen erdenklichen Drogen, etwas Gewalt und kleinkriminellen Handlungen. Ich war erleichtert, als diese Episode zu Ende ging, weil der Junge sich nach dem plötzlichen Unfalltod des Vaters nach New York aufmacht und bei dem Möbelrestaurator lebt - "eine verdrehte, traumartige Version" seines früheren Lebens. Ihn plagen ständig Gewissensbisse wegen der kleinen großen Malerei, die er seit dem Unglück damals zu sämtlichen Stationen seines bisherigen Lebens geschleppt hat. Sein Leben kann Theo nur durchstehen mit Opiaten als Krücke. Das Geld dafür verdient er, indem er gefälschte Antiquitäten veräußert, nachdem er nach Schulabschluss Compagnon seines Gastgebers geworden ist. 

Dann wieder ein Sprung, Theos Leben scheint sich zu konsoldieren, als Boris auftaucht und ihm offenbart, dass er seinerzeit das kleine Kunstwerk gegen eine Sozialkundebuch ausgetauscht, das Bild dann aber im Zuge eines größeren Drogengeschäfts als Pfand eingesetzt und auf diese Weise verloren habe. Die Wiederbeschaffung des "Distelfinks" in Amsterdam, entwickelt sich hin zu einer fast alptraumartigen Sequenz. Letzten Endes war das Buch für mich ein Schmöker mit zu vielen lebensphilosophischen Überlegungen am Schluss. Weniger wäre mir mehr gewesen.

Nach den weitschweifigen Dialogen bei Donna Tartt haben mir die präzisen, oft kantig - kurzen Sätze in Édouard Louis' Buch über seinen Bruder - "Der Absturz" - erst einmal richtig gut getan. Auch so kann man desolate, gestörte, hoffnungslose Lebensumstände, hier in einer Arbeiterfamilie in Nordfrankreich, darstellen und spürbar machen. Die tieftraurige Geschichte über einen jungen Mann, der groß träumt, aber seelisch so verletzt ist, dass ihm nichts gelingt und der an seinem Alkoholismus vor der Zeit stirbt, lässt einen dann aufgrund des distanziert-kühlen Tons jedoch nicht so empathisch zurück, wie es ihr wohl angemessen wäre. Die rationale, analytische Auseinandersetzung mit der Familiengeschichte, ergänzt um psychoanalytische und soziologische Erkenntnisse, verhindert das Aufrütteln, was dem Thema angemessen gewesen wäre.

Auch mit meiner nächsten Lektüre bin ich in Frankreich geblieben, war aber nun dem diametral entgegengesetzten Milieu ausgesetzt: der Aristokratie. Laure Murat, von Hause aus eine Nachfahrin des Königs von Neapel sowie eines einstigen Günstlings von Ludwig XIII., setzt sich in ihrem "Proust. Familienroman." mit eben dieser Adels - Geschichte auseinander, unterstützt von den Ausführungen des Großschriftstellers der Belle Époque, aus denen mein Lebensgefährte so viel Lebenseinsichten & - mut gezogen und sich deshalb immer wieder der Lektüre der fünftausend Seiten gewidmet hat. Laure Murat ist es wohl ähnlich ergangen, und deshalb habe ich mir das Buch zugelegt. 

"Während meiner gesamten Jugend", schreibt Laure Murat, "hörte ich von den Figuren in La Recherche ( auf deutsch: "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" ) und war überzeugt, dass es sich um Onkel oder Cousins ​​handelte, die ich noch nicht kannte." Die Historikerin, die 1967 in den  hochmütigen Hochadel hineingeboren worden ist, der von Verhaltenscodes so durchdrungen ist, das eine "Welt der leeren Formen" ensteht, zudem sprach- & empathielos, in der die Fiktion von Größe aufrechterhalten werden kann. Standesdünkel tritt auch zutage, wenn in der Familie die Anekdote erzählt wird, dass "Maman Cécile", die Urgroßmutter der Autorin, in ihrem Hôtel Murat in der Rue de Monceau Marcel Proust selbst empfangen und "diesen kleinen Journalisten an das Kopfende des Tisches" platziert hat. Eben der Salon in dieser Stadtvilla gehört zu den wichtigsten Schauplätzen des literarischen Großwerks.

Unter einem erschreckenden Mangel an mütterlicher Zuneigung wächst das Mädchen auf, geprägt durch die Leseleidenschaft beider Eltern. Und so findet sie schließlich bei der eigenen Proust-Lektüre einen Schlüssel zum Verständnis ihres eigenen Lebens: 

"Das Erstaunlichste war, dass alle Szenen, in denen die Aristokratie ins Spiel kam, unendlich viel lebendiger waren als die Szenen aus dem wirklichen Leben, die ich erlebt hatte, als ob Proust […] in Worte und verständliche Absätze gefasst hätte, was sich seit meiner Geburt vor meinen Augen abspielte." 

Das Buch ist schon sehr speziell. Der gattungsfluide Text schwankt zwischen Feuilleton & Literaturwissenschaft, garniert mit etwas Autobiografie und hat mir immerhin eine Idee eingebracht, weshalb meinen Lebensmenschen das Proustsche Werk so beschäftigt hat.

Ich gebe mir ja immer Mühe, Werke der von mir in meiner Frauen- Porträt - Reihe dargestellten Autorinnen zu lesen. Bei Barbara König kein leichtes Unterfangen. Schließlich habe ich für 1.75€ ein Taschenbuch in typischer Siebziger - Jahre - Typo von "Schöner Tag, dieser 13." antiquarisch erwerben & somit lesen können. Zunächst habe ich mich von netten, teilweise geistreichen Formulierungen in diesen sich allerdings stetig wiederholenden Tagebuchaufzeichnungen autobiografischer Natur gefangen nehmen lassen. Aber nach einem Drittel der Lektüre wurde das schal: Immer die gleichen Streitereien in einer Ehe in Agonie, das Luxuselend auf Skiern und Pferden und Tennisplätzen und die Hörsaal -Telefon - Liebe mit einem nur mühsam verschlüsselten Literaturwissenschaftler, Mitglied der Gruppe 47, ohne dass sich eine eigene Betroffenheit einzustellen vermag, weil die in der Fülle an Worten ertrunken ist. Es war wohl ein literarisches Phänomen jener Tage, statt Geschichten zu erfinden, statt guter Fiktion also, ins Autobiographische auszuweichen. Als Zeitdokument nicht wirklich tauglich, fand ich, und insgesamt eher langatmig. Es hätte mich auch vor fünfzig Jahren nicht angesprochen.




Gegen Ende dieses Lesemonats hat sich dann ein Kreis geschlossen mit einem weiteren Buch von Norbert Scheuer "Der Steinesammler", seinem ersten Roman von 1999. Auch wenn in Scheuers Romanen sein eigenes Leben einfließt, so sind sie doch nicht autobiographisch, zeugen aber von sehr guter Kenntnis des zugrundeliegenden Umfelds.  Was hier gelebt wird, wird überall gelebt. Was ihn in meinen Augen auszeichnet, ist seine Souveränität, eine gewisse Atmosphäre in Verbindung mit der Landschaft zu schaffen, und wenn  - wie in diesem Fall -  die Welt auf ein Dreieck aus Dorf, Steinbruch und Zementwerk reduziert ist. Und das alles in einer unaufgeregten, äußerst präzisen Sprache, in nüchtern-lakonischem Ton, authentisch und poetisch. Ich habe den Eindruck, da wächst mir ein neuer Lieblingsschriftsteller zu. Anton Braden, der Protagonist dieses Buches, so kurios & seltsam sein Verhalten, seine Interessen, seine unerschütterliche, unerfüllte Liebe sein mögen: Mir kommt er sehr nahe. Denn Scheuer würdigt ihn als Individuum in seiner Größe UND in seiner Fehlbarkeit. Was kann ich mir mehr von einem guten Buch wünschen?

Ein sehr ertragreicher Lesemonat also, zudem eine große emotionale Hilfe in einer regengrauen Jahreszeit mit nicht immer nur fröhlichen Gemütszuständen.
                                                              


3 Kommentare:

  1. Liebe Astrid,

    wenn ich Leseempfehlungen brauche, dann weiß ich jetzt, wo ich nachschlagen kann.
    So viele Bücher unterschiedlicher Art, die du gelesen hast und uns so detailliert vorstellst. Das ist enorm.
    Ich gucke ja immer, ob eins dabei ist, dass ich selbst gelesen habe.
    Nein, allerdings hat mein Mann vor einiger Zeit "Stoner" gelesen.

    Lange mein Lieblingsautor war Stewart O'Nan. Er zählt immer noch dazu, obwohl ich die neueren Bücher von ihm ( noch ) nicht gelesen habe. Das könnte vielleicht auch etwas für dich sein, falls du ihn nicht kennst. Sehr empfehlenswert.

    Zur Zeit lese ich nur Krimis und Thriller, mehr kann mein Kopf momentan nicht leisten.

    Danke dir für die vielen Buchtipps!

    Liebe Grüße,
    Claudia


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    Antworten
    1. Oh ja, Stewart O'Nan habe ich früher auch gerne gelesen! Krimis & Thriller würden mein sensibles Gemüt so verstören, dass ich nicht schlafen kann. Ich habe in meinem Leben nur wenige gelesen, Tara French z.B.
      Eine gute neue Woche!

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  2. Liebe Astrid,
    so viele Buchempfehlungen! Dein Lesepensum ist beachtlich... Aber Danke für den einen oder anderen Tipp, auch als Geschenk für meinen lesenden Herrn B.
    LG
    Elke

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