Donnerstag, 19. Januar 2023

Great Women #324: Greta Fischer

Auf meine heutige Great Women hat mich ein Artikel in der "Süddeutschen Zeitung"gebracht. Fasziniert hat mich, die ehemalige Lehrerin, dass sie sich um ganz besondere Kinder bemüht hat, so dass sie es sofort auf meine Liste geschafft hat: Greta Fischer, die israelische "Mutter der Sozialarbeit".
Bautsch


"Wenn das Richtige mit dem Kind getan wird,
kann man über Wunder staunen."

Greta Fischer kommt am 19. Januar 1910, also heute vor 113 Jahren in Budišov nad Budišovkou (deutsch: Bautsch ), ein Viertausend-Einwohner- Städtchen zwischen Olmütz & Ostrau im heutigen Tschechien, zur Welt. Sie ist das sechste und jüngste Kind des jüdischen Tierarztes im Distrikt Bärner Ländchen, Leopold Fischer, und seiner Frau Ida Mayer. Das Mädchen wächst deutschsprachig auf, etwas Tschechisch gehört aber auch zum sprachlichen Repertoire der Familie.

Am Vorabend des Ersten Weltkriegs existiert die Tschechoslowakei noch nicht, und die Länder der böhmischen Krone sind fester Bestandteil der österreich-ungarischen Monarchie.

Über Gretas Kindheit und Jugend ist wenig bekannt. Ihre Neffen und Nichten bezeugen später, dass sie schon früh unabhängig & selbstbewusst gewesen sei. Sie sei zum Musizieren geboren gewesen und zum Malen, also eher zu einer Künstlerinnenexistenz, so die Familie.

Nach ihrer Ausbildung zur Kindergärtnerin geht sie mit 20 Jahren in die Schweiz, wo sie in einem Internat als Reitlehrerin tätig ist. Sie lernt dann in verschiedenen Familien sowohl Polnisch im damals polnischen Lemberg ( heut Lwiw in der Ukraine ) als auch von 1936-38 Französisch in Paris, wo sie sich als Kindermädchen betätigt.

Nachdem nach dem Münchner Abkommen und dem Ersten Wiener Schiedsspruch im Jahr 1938 die Tschechoslowakei das Sudetenland an das Deutsche Reich abgeben muss, wird den Fischers als Juden deutlich, dass sie unter diesen Umständen gefährdet sind. Greta und dreien ihrer Geschwister gelingt es, rechtzeitig nach London zu fliehen. Die zwei anderen wandern nach Palästina aus. Nur die Eltern bleiben zurück, werden deportiert und 1943 im KZ Treblinka von den Nazis ermordet.

In London arbeitet sie zunächst wieder als Kindermädchen. Als die deutschen Luftangriffe auf die britische Hauptstadt beginnen, lernt sie die Tochter des berühmten Psychoanalytikers Sigmund Freud , Anna Freud, kennen ( siehe auch dieser & dieser Post ). Sie betreut in den war nurseries von den deutschen Luftangriffen auf London traumatisierte Kinder in Nachbarschaft der von Anna Freud gegründeten Einrichtung. Greta übernimmt viele Ideen der genialen Kindertherapeutin. Obwohl sie nie Psychoanalyse oder ein medizinisches Fach studiert hat, beschließt Greta, sich weiter um junge Opfer der kriegerischen Auseinandersetzungen zu kümmern.

Das Team 128
Bei Kriegsende meldet sich die 35jährige Frau freiwillig bei der Flüchtlingsorganisation der Vereinten Nationen, die "United Nation Relief and Rehabilitation Administrationkurz UNRRA, 1943 begründet, um nach Kriegsende besonders den Kindern helfen zu können. Sie wird in Frankreich auf ihre Aufgabe vorbereitet und kommt anschließend mit einem mehrsprachigen, zunächst achtköpfigen UNRRA- Team 128 nach Dachau, um sich mit einer neuen Art von Trümmern des modernen Krieges zu befassen: "ungebundene oder unbegleitete oder gestohlene und verlorene Kinder".

Das Team wird damit beauftragt, im Bereich der dritten US-Armee in Süddeutschland ganz schnell eine erste beschützende Umgebung zu schaffen, in der die entwurzelten Kinder untergebracht werden können, bevor eine dauerhafte Lösung für sie gefunden werden kann. Die ziellos umherirrenden Kinder - displaced persons - sind Kinder ehemaliger KZ-Insassen oder Kinder von Zwangsarbeitern, die teilweise selbst im Konzentrationslager gewesen sind.

Kloster Indersdorf
Man sucht nach einem Gebäude, das in ein Zentrum für die Betreuung von Kindern umgewandelt werden kann. Das einzig geeignete ist das verlassene Kloster Indersdorf. Es hat vorher den Nazis als Jugenderziehungsheim gedient, war also eine Zwangsfürsorgeeinrichtung für sogenannte Asoziale. 

Das Gebäude ist entsprechend verlottert, aber solide, und es hat offensichtlich Platz für die Hunderte von Kindern, die erwartet werden. Die Leute des UNRRA bauen es in ein Trauma-Zentrum für die Kinder um. Innerhalb kurzer Zeit wird die Küche repariert, die größeren Räume geschrubbt und in Schlafsäle, die kleineren in Klassenzimmer verwandelt. Die anmutige Turmspitze des Klosters, die sich hoch über dem Dorf erhebt und weithin sichtbar ist, wird bald ein Symbol der Sicherheit für verwaiste und vertriebene Kinder. Angehörige des Ordens der Barmherzigen Schwester, die vor der Naziübernahme das Kloster bewirtschaftet haben, werden als Betreuerinnen requiriert.

Greta ist zunächst "UNRRA Welfare Officer", ab 1. September 1945 wird sie zum "Principal Welfare Officer" befördert, also zur leitenden Sozialarbeiterin. Sie selbst lebt im Kloster. Viele Nächte verbringt sie damit, ein paar Stunden Schlaf zu finden, während sie sich um 25 bis 30 Babys kümmert, die nach Nahrung und Trost verlangen.

In einem Wochenschau - Film vom Oktober 1945 heißt es:

"Diese Waisen von Fremdarbeitern und anderen verschleppten und vergewaltigten Opfern des Nationalsozialismus tragen vielfach als einziges Erkennungsmerkmal eine eingebrannte Nummer auf dem Arm. Die Unrra kann dieses Brandmal nationalsozialistischer Schändlichkeit nicht auslöschen. Aber sie kann den Kindern, die nie oder kaum Eltern gekannt haben, allmählich das Tor zu einem glücklicherem Leben öffnen." ( Quelle hier )

Die Kinder, die im Kloster ankommen, werden entweder von Militärangehörigen dorthin gebracht oder finden ihren Weg auf eigene Faust. Als einziges Zentrum, das sich ausschließlich der Rettung und Betreuung von Kindern widmet, beherbergt das Kloster zu jeder Zeit 300–350 jüdische, katholische und protestantische Kinder aus 22 verschiedenen Nationalitäten, die eine Altersspanne vom Neugeborenen bis zum späten Teenageralter abdecken. 

Anfang 1946 verfasst Greta einen ersten Bericht über die Arbeit ihres UNRRA-Teams mit diesen "verlorenen" Kindern und Jugendlichen. Im größeren Kontext der Geschichte des Zweiten Weltkriegs und seiner Folgen bleibt die Arbeit von Greta und ihren Kollegen beim Aufbau des internationalen Zentrums für die Rettung & Genesung der Kinder aber fast unbemerkt.

Bis 1948 wird die UNRRA bis zu 1000 Waisenkindern in Indersdorf, später auch in Prien am Chiemsee, helfen, ihre traumatischen Erfahrungen zu verarbeiten, eine Schulbildung zu bekommen und ihre Familienangehörigen wiederzufinden. 

Greta selbst gewinnt bei den jungen Flüchtlingen rasch besondere Autorität, weil sie ihnen starke Zuneigung und großes Verständnis entgegenbringt. 



Was Greta nicht will: Das Vergessen befördern. Die UNRRA-Mitarbeiter*innen hören den Überlebenden stundenlang zu, wenn sie von ihren verstörenden Erfahrungen berichten. Alles müsse herauskommen, jeder solle seine schreckliche Geschichte erzählen, vom eigenen Leiden und vom Tod der Liebsten. Das ist Gretas Überzeugung. In keinem ​Handbuch wird erklärt, wie ein Erzieher auf die Worte eines Jugendlichen reagieren soll, der an den Haaren aus der Gaskammer gezerrt und in den Leichenberg geschleudert worden ist, der den Mut und die List gefunden hat, dort anderthalb Tage mucksmäuschenstill zu verharren, bis er gefahrlos davonkriechen kann? Greta entwickelt in Indersdorf ein eigenes Konzept für die Krisenintervention bei traumatisierten Kindern, ganzheitlich und interdisziplinär.

Als Beispiel für eine solche Geschichte sei hier die des bei seiner Gefangennahme durch die Nazis knapp 12jährigen Shmuel Reinstein erzählt, der von Auschwitz über Groß Rosen nach Buchenwald bzw. Flossenbürg gelangt ist:

"Als die Amerikaner Bayern eroberten, wurden die Häftlinge aus Flossenbürg auf verschiedenen Evakuierungsmärschen Richtung Dachau geschickt. Die Todesmärsche zogen eine Blutspur durch die Oberpfalz. In dünner Häftlingskleidung und mit  Holzschuhen in der Kälte und im strömenden Regen durch Felder und sumpfige Wiesen, war es vielen Häftlingen nicht möglich, Schritt zu halten. Wer zurückfiel wurde gnadenlos erschossen. Shmuel erzählt, wie sie  auch durch Dörfer getrieben wurden, in denen die Bevölkerung die ausgemergelten Häftlinge gesehen hat. Nicht selten wurden Menschen vor den Augen von Dorfbewohnern umgebracht. Shmuel lief in den ersten Reihen um hier und da zu riskieren, vom Wegrand etwas Essen aufzupicken ohne zurückzubleiben. Als sie bei Regensburg Panzer hörten und SS Männer desertierten, wussten sie dass ihre Rettung nahe war. Über Regensburg gelangten die Brüder nach Neunburg vorm Wald, wo Meir, ( der Bruder Shmuels, Erg. d. mich ) der an Typhus erkrankt war, behandelt wurde. In Neunburg knüpfte Shmuel Kontakt zu Amerikanern, die sich seine Geschichte anhörten und entsetzt waren. Shmuel erklärte den in Neunburg stationierten Amerikanern, wie SS Leute anhand ihrer Tätowierungen identifiziert werden konnten. Ein Oberst der US Army schrieb Shmuel dafür einen Brief, in dem stand, dass jeder Amerikaner dazu angehalten ist, ihm zu helfen. Als seine amerikanischen Freunde nach Japan verlegt wurden, wollte Shmuel mitkommen, doch ihm wurde gesagt, es sei zu gefährlich. Greta Fischer, eine Mitarbeiterin der UNRRA entdeckte die Reinstein Brüder später auf der Straße und brachte sie in das DP Kinderzentrum Kloster Indersdorf. In der folgenden Zeit entwickelten sie sich zu Zionisten. Die Amerikaner boten Shmuel an, in die USA zu gehen, doch Shmuel träumte vom Yishuv in Palästina." ( Quelle hier )

Baby einer ukrainischen
Zwangsarbeiterin
Im Alltag sind die Pädagogen mit dem Schmerz der Kinder oft überfordert. Aber auch die Kinder lehnen es immer wieder ab, von deutschen Hilfskräften betreut & versorgt zu werden, haben sie doch äußerste Feindseligkeit, Schmerz & Verlust durch Angehörige dieses Volkes erfahren und wie wenig wert diesen ihr Leben gewesen ist. Und doch zeigen diese Kinder eine Resilienz und unbeugsamen Mut, der nicht nur Greta Fischer beeindruckt. Der Holocaust selbst wird allerdings nie therapierbar.

Neben all dem kämpft Greta mit der Bürokratie und sie erhält eine Reihe von offiziellen Verweisen, weil sie Lieferungen an ihre Einrichtung über unangemessene Kanäle beschafft. Während das amerikanische Militär für reichlich Lebensmittel sorgt, ist die Beschaffung von Artikeln, die Kinder benötigen wie Fläschchen und Töpfchen, aber eine ständige Herausforderung. 

Einmal, als Stoff auf offiziellem Weg nicht erhältlich ist, beschließt Greta, das strenge Verbot zu umgehen, die Dorfbewohner um Vorräte zu bitten. Ihre Suche führt sie zu einer verlassenen Scheune, die einst einem Mitglied der NSDAP gehört hat. Darin stößt sie auf das Gesuchte:

"Ich sah riesige Rollen von rotem Stoff, das Material für Naziflaggen gewesen war, und es gab riesige Rollen mit blau-weiß-kariertem Stoff, den die Deutschen für Bettwäsche benutzt hatten. Wir entwarfen ein rotes Herz auf blau-weißer Hose und eine rote Hose mit einem blau-weiß-karierten Herz. Die Kinder sahen hinreißend aus, so wie französische Seeleute“, berichtet sie später.  

Sogar eine Gefängnisstrafe wird Greta mal angedroht, weil sie ein Ferkel versteckt hält, welches für einige Kinder ihr geliebtes Haustier ist.

Ende gut, alles gut, so urteilt Greta Fischer aber 36 Jahre später:

"Die Kinder haben im Kloster Indersdorf körperliche Gesundheit gefunden und den Anfang einer moralischen und geistigen Rehabilitation."  
Alexander Pecha, Sohn eines von den Nazis
ermordeten Elternpaares aus der Ukraine
Der Weg zurück ins Leben! 

Und dazu gehört für die Kinder auch, ein Essen auf einem Teller mit Messer und Gabel zu haben, ein Bett mit weißen Bezügen und Kissen, eine Zahnbürste. Greta hat erkannt, wie wesentlich das für die Gesundung von Kindern ist, die in den gräßlichen Verhältnissen von Lagern aufwachsen mussten. Mit solch äußeren Dingen können sie und ihre Mitstreiter*innen den Kindern Werte vermitteln und ihnen ihre Würde zurückgeben. Sie lässt die Kinder und Jugendlichen auch Theater spielen, und  Konzerte, Gesellschaftsspiele und Tischtennis gehören zu den Aktivitäten, die den Heranwachsenden geboten werden. "Mit den Kindern zu weinen hilft ihnen nicht", so ihre Losung. Stattdessen sucht sie mit ihnen nach einem Lebensziel und bereitet sie auf die Zukunft vor.

Zu ihrer Arbeit gehört aber auch die Identifizierung der jungen Bewohner des Klosters und die Vorbereitung ihrer Repatriierung, das Nachholen einer allgemeinen Schulbildung und eine berufsvorbereitende Ausbildung. 

Im Kloster befindet sich ebenfalls ein hebräisches Kinderhaus ( "Beit HaYeladim HaIwrit" ), das von Juli 1946 bis September 1948 von der zionistisch-sozialistischen Jugendbewegung "Dror" geführt wird. Die jungen Freiwilligen von Dror, die sich um die Kleineren kümmern, die sogenannten Madrichim, sind oft nur wenig älter als die Kinder selbst und haben Angehörige im Holocaust verloren.  Ziel ist die praktische und ideologische Vorbereitung der Überlebenden auf ein zukünftiges Leben im Kibbuz in Israel. Viele Jugendliche aus Indersdorf reisen später auf dem legendären umgebauten Flussdampfer "Exodus" Richtung Palästina, der von der britischen Marine aufgebracht wird. 

Unterwegs mit ihren Schützlingen
Erst nach und nach können die Kinder & Jugendlichen schließlich in andere Länder gebracht werden. "Jede Nation hatte Angst, dass die Kinder so geschädigt sein würden, dass sie niemals in das normale Leben integriert werden könnten und immer eine Belastung für den Staat sein würden", so Greta in ihren Erinnerungen.

1947 gibt es ein erstes Angebot zur Aufnahme einer kleinen Gruppe jüdischer Kinder aus Frankreich, gefolgt von einem ähnlichen Angebot aus Schweden. Dann wird eine Gruppe von 42 Kindern von England akzeptiert. Aber fast alle, die sich bereit erklären, Waisenkinder aufzunehmen, bevorzugen kleine Kinder, insbesondere Mädchen im Alter von fünf Jahren. Die meisten Überlebenden sind zu diesem Zeitpunkt zwischen 15 und 18 Jahre alt und älter. 

Im Sommer 1947 erteilt die kanadische Regierung, überzeugt vom "Canadian Jewish Congress", der die volle Verantwortung für ihre Fürsorge übernimmt, tausend Kindern die Erlaubnis zur Einwanderung. 

Greta Fischer selbst begleitet die ersten hundert Kinder dieses Kontingents im Sommer 1948 nach Kanada. Im Januar des darauffolgenden Jahres kommt sie mit den letzten hundert nach Montreal. Durch einen bürokratischen Fehler hat es "ihre" Kinder weiter nach Toronto verschlagen, während ihr selbst eine Arbeit in Montreal zugewiesen wird. Es ist eine große Enttäuschung, von ihnen getrennt zu sein, das Versehen kann aber nicht mehr korrigiert werden. Greta bleibt also zurück in Montreal als Mitarbeiterin des Büros für jüdische Familien und Kinderfürsorge.

Als das "Canadian War Orphans Project" zu Ende geht, beginnt sie im Alter von 43 Jahren ein Studium zur Sozialarbeiterin. Nach ihrem Examen 1955 in der "McGill School of Social Work" in Montreal arbeitet sie zunächst mit autistischen Kindern am "Montreal Children's Hospital" und geht dann für das "American Jewish Joint Distribution Commitee" nach Marokko bzw. Israel, um auch dort bei der Ansiedlung von jüdischen Kindern zu helfen. 

1965 lässt sie sich endgültig in Jerusalem in der Palmach Street in einer kleinen schlichten Zwei-Zimmer-Wohnung mit ihrem Dackel Lapi nieder. Im "Hadassah Medical Center", dem größten Krankenhaus Israels, in dem sie arbeitet, begründet sie die erste Abteilung für Sozialarbeit. Greta ist der Überzeugung, dass diese für den Heilungsprozess genauso wichtig ist wie die Medizin. Damit revolutioniert sie das medizinische und pflegerische System. Sie sorgt dafür, dass Patienten bei Bedarf zuhause weiter gepflegt werden, wenn sie aus dem Krankenhaus entlassen werden, richtet daneben eine Telefonseelsorge für Krebskranke ein. Auch hier ist ihr Konzept ein ganzheitliches, wenn sie sich mit ihren Sozialarbeiterkolleg*innen um behinderte Menschen, Demenzkranke oder Krebspatienten bemüht.

Greta Fischer ( hinten links vor der Tür ) mit ihrem Krankenhaus - Team

Sie sei sehr überzeugt gewesen von ihren Anschauungen, werden Mitarbeiter später berichten, und sehr charakterstark, aber auch humorvoll. 

Während des Sechs-Tage-Krieges 1967 setzt sie durch, dass sie zusammen mit den Ärzten und Pflegern am Empfang steht, wenn Verletzte per Hubschrauber oder Krankenwagen eingeliefert werden. Sie informiert dann deren Angehörige und kümmert sich um die mentale Gesundung des Invaliden. Bis heute gilt sie deshalb in Israel als "Mutter der Sozialarbeit". Diese Rolle übernimmt sie auch für ihre Mitarbeiterinnen: "Sie war eine Person, die einem Aufmerksamkeit und Respekt gab, wenn es nötig war."

Ein schwerer Schlag ist für die 65jährige ein Anschlag mithilfe eines Kühlschrank, der mit fünf Kilogramm Sprengstoff gefüllt ist und der im Juli 1975 mitten in Jerusalem auf dem Zions-Platz explodiert. Unter den fünfzehn Verletzten ist Gretas beste Freundin Mira Birger. Sie hält Wache am Bett der Schwerverletzten, bis diese stirbt.

Ein weiterer Schwerpunkt ihrer Arbeit ist die mit alten & dementen Menschen. Einmal gefragt in einem Interview, ob alte Menschen Kindern gleich seien, antwortet sie: 

"Alte Leute haben ein Leben hinter sich, was wir manchmal vergessen. Sie haben eine Menge geleistet. Und plötzlich sind sie sehr hilflos. Aber man darf nicht vergessen, was sie geleistet haben. Das ist sehr wertvoll." ( Quelle hier )

In den 1980er Jahren
Als sie mit siebzig Jahren 1980 pensioniert wird, findet sie endlich Zeit, über die Kinder von Indersdorf und ihren unglaublichen Überlebenswillen zu schreiben. 1985 schildert sie gegenüber kanadischen Freunden in einem Interview ihre Motivation zu helfen:

"Ich wollte immer mit Kindern arbeiten, schon als ich noch ein kleines Kind war. Wir lebten damals in einer kleinen Stadt in der Tschechoslowakei, und ich wollte immer kleine Kinder mitnehmen, auf sie aufpassen und sie waschen. Ich habe Kinder einfach geliebt, und da war schon immer etwas von der Sozialarbeiterin in mir, von klein auf, als jüngstes von sechs Kindern."

Am 28. September 1988 erliegt Greta Fischer auf dem Busbahnhof in Tel Aviv einem Herzinfarkt. An diesem Tag will die 78-Jährige zur Bat-Mizwa-Feier ihrer Großnichte mit dem Bus vom Jerusalemer Hauptbahnhof in den Kibbuz Magen nahe des Gaza-Streifens fahren, wo ihr Neffe mit seiner Familie lebt. Sie hat Geschenke besorgt und Pinchy, ihren Dackel, in einer Tasche versteckt, um ihn am Busfahrer vorbeizuschmuggeln.

Sie kommt nicht mehr im Kibbuz an. Die Familie erfährt am Abend von ihrem Tod. Später bekommt diese heraus, dass ihr Arm schon länger geschmerzt hat: ein Vorzeichen. "Sie wusste es. Doch sie hat sich überwunden. Sie wollte die Bat Mizwa meiner Tochter nicht verpassen", glaubt ihr Neffe. Bestattet wird sie im Kibbuz Magen.

2011 wird das Sonderpädagogische Förderzentrum Dachau feierlich in Greta-Fischer-Schule umbenannt. Seit Jahren hat sich die Historikerin Anna Andlauer mit der Lebensgeschichte Greta Fischers beschäftigt, nachdem sie 25 Jahre zu Dachau geforscht und 2005 von  den Begebenheiten in ihrem Dorf erfahren hat. 2011 kommt ihr Buch "Zurück ins Leben. Das internationale Kinderzentrum Kloster Indersdorf 1945-1946" heraus, in dem die Darstellung der objektiven Begebenheiten zusammen mit den subjektiven Erzählungen der Kinder Platz finden.

Auf Andlauers Initiative hin ernennt die Gemeinde Markt Indersdorf Greta Fischer 2020 posthum zur Ehrenbürgerin. Ein Jahr darauf bekommt ein Bereich zwischen Maroldstraße und Wasserturm den Namen „Greta-Fischer-Weg".

"Ich liebe Kinder... Nicht die schlechteste Art, ein Leben zu führen."

Da geht mir das Herz auf. Damit kann ich mich identifizieren. Die Fotos & Filme vom Umgang mit den "verlorenen" Kindern, die ich im Rahmen meiner Recherchen gesehen habe, haben mich zutiefst gerührt.



10 Kommentare:

  1. Danke für das berührende Portrait dieser tapferen, tatkräftigen und empathischen Frau. Gut, dass Ihr Name auch heute noch bekannt ist. Gerade in den heutigen Kriegszeiten ist ihre Tätigkeit wieder hochaktuell. Deine Schilderungen zeigen auch wieder, wie sehr wir Deutschen in der Bring-Schuld in der Ukraine sind (auch wenn Ewiggestrige und Schlimmere jammern, wie sehr die Deutschen doch gelitten hätten... ).
    Liebe Grüße
    Andrea

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  2. Wenn jemand schon als Kind weiß, in welche (berufliche) Richtung das Leben gehen soll, das finde ich immer beeindruckend. Da muss ja was besonders Gutes dabei rauskommen, so wie bei Greta Fischer.
    Ich kannte sie und ihr Wirken bisher nicht und finde es ganz großartig, was sie geleistet hat und mit welcher Selbstverständlichkeit sie dies getan hat.
    Ein Segen für die Kinder und wohl auch für sie, denn ihr Leben schien einen glücklichen Verlauf genommen zu trotz all des Leids, das sie erlebt, gehört und mitgelitten hat.
    Eine besondere Biographie, die Du uns heute vorstellst. Danke.
    Herzlichst, Sieglinde

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  3. von Helga:

    Liebe Astrid,
    ich kann nur Danke sagen, was Du alles für diesen Blog herausarbeitest. Wir lesen hier immer und gerne wieder.

    Herzlichst grüßt Helga mit Kerstin

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  4. Was für ein berührendes Bild du uns da gezeichnet hast. Beim letzten Satz: Ich liebe Kinder... nicht die schlechteste Art, ein Leben zu führen! ging mir das Herz auf! Obwohl mein Engagement weit hinter dem von Greta Fischer zurück bleibt, kann ich diesen Satz fühlen. Solche Portraits geben mir nochmal ganz neuen Elan und frischen Mut, mich der Sache, der Arbeit mit den Kindern, noch mehr hinzugeben. Hast du einen Literaturverweis? Ich würde gern noch mehr darüber lesen.... Danke liebe Astrid!
    herzlichen Gruß
    Gabi

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    1. Ich weiß nur von dem am unteren Ende des Posts erwähnten Buch von Anna Andlauer.
      LG

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  5. Liebe Astrid,
    Deine Portraits sind unglaublich bereichernd und informativ. Ganz lieben Dank, dass Du Dich immer so tief in die Materie einarbeitest.
    Meine Nachbarin hat mir letztens ein Buch gegeben: Marie Benedict - Frau Einstein. Es geht um Mileva Marić, Albert Einsteins erste Frau. Ich gestehe, Du hast schon so viele Portraits geschrieben, die ich nicht alle gelesen habe, verzeih mir also wenn sie schon dabei war.
    Für Dich zum Lesen habe ich auch noch 2 Ideen: „Der Buchspazierer“ von Carsten Henn und „Das rote Adressbuch“ von Sofia Lundberg. Habe ich beide kürzlich gelesen und ich kann mir vorstellen, dass sie Dir gefallen würden, falls Du sie noch nicht kennst.
    (Alles übrigens Werbung ohne Auftrag, rein private Empfehlung!!!).
    Schönes Wochenende,
    herzlichst Tanja

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  6. Milá Astrid, to je úžasné, co jsem se díky Tobě dozvěděla. Budišov nad Budišovkou jsem dosud znala jen povrchně, když tam dcera byla dvakrát na ozdravném pobytu. Ale že odtud pochází taková osobnost, jsem vůbec netušila. Děkuji za rozšíření obzorů.Katka

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  7. eine Frau die gradlinig ihren Weg ging
    die schon früh wußte was sie wollte
    und da unbeirrbar voran ging
    als ich von ihrer Arbeit mit traumatisierten Kindern las
    mußte ich an die Situation in der Ukraine denken
    ich hoffe dsas auch diesen Kindern beigestanden wird
    das Erlebte zu verarbeiten
    danke für das ausfürliche Portrait
    Rosi

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  8. endlich hatte ich die muße, deinen beitrag genauer zu lesen. natürlich sind mir zwischendurch wieder die tränen gekommen ob des schicksals der kinder und jugendlichen. der mut, die tatkraft und empathie von greta fischer ist großartig. wie gut, dass die wenigstens im umfeld von indersdorf geehrt wurde und wird. ich hoffe, ihre geschichte wird dort und anderswo auch in schulen erzählt.
    danke, astrid!
    liebe grüße
    mano

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  9. vielen Dank für das bereichernde Portrait über Greta Fischer

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Danke, dass du dir für ein paar liebe Worte Zeit nimmst!

Ich wünsche mir allerdings nach wie vor, dass ein Name am Ende des Kommentars steht.
Da die anonymen namenlosen Kommentare zuletzt wieder zugenommen haben, hier der ausdrückliche Hinweis:

Ich werde sie ab jetzt wieder konsequent NICHT freischalten.

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