Donnerstag, 8. April 2021

Great Women #255: Berta Zuckerkandl

Wer wie ich Wien liebt und sich immer wieder mit den Damen & Herren der K.u.K.-Zeit und den Jahren danach beschäftigt, der stößt immer wieder auf ihren Namen: Berta Zuckerkandl. Ihren Geburtstag in fünf Tagen habe ich dann zum Anlass genommen, mich endlich einmal näher mit ihr zu beschäftigen...
"Auf meinem Diwan wird Österreich lebendig" 

Berta Zuckerkandl erblickt, wie gesagt, in Wien das Licht der Welt, und zwar am 13. April 1864 in der damaligen Jägerzeile 99 im vor allem von Juden bewohnten II. Gemeindebezirk. Da heißt sie noch Bertha Szeps, denn ihr Vater ist der liberale Zeitungsverleger Moriz Szeps, ihre Mutter Amalie Schlesinger, seit drei Jahren miteinander verheiratet und schon Eltern einer Tochter, Sophia. Zwei Söhne und eine weitere Tochter werden in den nächsten Jahren bis 1869 noch folgen.

Moriz Szeps (1880)
Bertas Vater Moriz, am 4. November 1834 in Busk in Ostgalizien als Sohn eines praktischen Arztes geboren, entstammt einer angesehenen jüdischen Familie von Rabbinern, Gelehrten und Ärzten. Nach dem Besuch des Gymnasium folgt ein Jahr lang das Studium der Naturwissenschaften in Lemberg, bevor er 1854, einige Jahre nach der Aufhebung der Ansiedlungsbeschränkung von Jüdinnen und Juden, nach Wien geht, um an der dortigen Universität Medizin zu studieren. Die Wiener Universität prägt offensichtlich die liberale Grundeinstellung des jungen Mannes, denn dort sind viele Befürworter und Kämpfer der Märzrevolution  in der Studentenschaft anzutreffen. Als Student schreibt Moriz Szeps naturwissenschaftliche Aufsätze für verschiedene Zeitschriften und wendet sich durch die Bekanntschaft mit dem Chefredakteur eines Blattes ab 1855 immer mehr dem Journalismus zu. 

Mit 24 Jahren, ab 1858, wird er Chefredakteur bei der "Morgen-Post", dem ersten Volksblatt Wiens, welches vor allem vom Kleinbürgertum gelesen wird, und gibt sein Medizinstudium auf. Amalie Schlesinger, die seine Ehefrau werden wird, ist die Schwester des Feuilletonisten der "Morgen - Post". Unter Moriz Szeps erlebt die Zeitung ihre Blütezeit. Er versteht es, die Zensur zu umgehen, und das Blatt trägt zur Verbreitung von liberalen und freiheitlichen Gedanken in seiner Leserschaft bei. Es gilt zu diesem Zeitpunkt auch als verlässlichste und bestinformierteste Zeitung Wiens. 

Drei Jahre nach Bertas Geburt nützt ihr Vater die Chance zur Selbständigkeit und erwirbt ein eigenes Blatt, das "Wiener Journal" (zuvor "Wiener Tagblatt" ) und führt es unter dem Namen "Neues Wiener Tagblatt" weiter. Szeps ist damit zwar nur einer von vielen Zeitungsgründern der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Wien, doch einer, der binnen kurzer Zeit mit seinem Blatt reich, prominent und einflussreich wird. 

Die fünf Kinder des Ehepaares Szeps erhalten eine umfassende Ausbildung. Für Mädchen des jüdischen Großbürgertums gibt es damals keine geeignete Bildungseinrichtung, denn die katholische Schule Sacré Coeur am Rennweg kommt für den liberalen Vater überhaupt nicht in Frage. So werden Berta und ihre ältere Schwester Sophie von Privatlehrern in Naturwissenschaften, Sprachen und Kunst unterrichtet. Zu ihren Lehrern gehört u.a. Albert Ilg, der Leiter des Kunsthistorischen Museums in Wien, der den Grundstock legen wird für Bertas lebenslanges kulturelles Engagement & ihre Aufgeschlossenheit gegenüber allem Schöngeistigen, besonders aber allem Zeitgenössisch-Modernen. Beeindruckend scheint damals die rasche Auffassungsgabe der jungen Berta zu sein.

Im Wien jener Tage haben Journalisten und ihre Familien freien Zugang zu allen kulturellen Veranstaltungen, was bedeutet, dass Berta und ihre Geschwister früh regen Anteil am Wiener Theaterleben nehmen.

1878 - da ist sie vierzehn - bezieht die Familie ein Stadtpalais in der Liechtensteinstraße 51, welches Moriz Szeps am Alsergrund hat bauen lassen, unmittelbar gegenüber des Palais Liechtensteins gelegen und am Fuße eines kleinen Abhangs, der später von der berühmten Strudlhofstiege überwunden werden wird.

Palais Szeps,
heute Residenz des schwedischen Botschafters in Wien
Source
(CC BY-SA 4.0)

"Das Haus ist schön", schreibt Berta in ihrem Tagebuch. "Parterre und erster Stock sind umgeben von einem Garten, der bergauf geht. Im Parterre sind die Schlafzimmer von Papa und Mama und auch meine Brüder haben extra Schlafzimmer. Dann ist noch eins für Sophie und mich da und sogar eines für Ella [...]. Im ersten Stock sind die Empfangsräume. Eine wunderbare Treppe aus Marmor führt hinauf. Vater hat mir versprochen, daß ich beim ersten Empfang im neuen Haus mitmachen darf." ( Quelle hier )

Dort am Alsergrund wächst also das wohl behütete, sehr schlanke, braunhaarige & -äugige Mädchen zur jungen Frau heran und erfährt seine gesellschaftliche Prägung.

Doch aus dem ersten Empfang im Palais wird erst einmal nichts: Der Vater entscheidet, persönlich zum Berliner Kongress zur Lösung der Balkankrise zu reisen, um angemessen berichten zu können. Die Gemahlin reist ihm mit den Kindern kurzerhand in einem eigenen Salonwagen nach. Für Berta ist der Aufenthalt in Berlin ein im Gedächtnis unauslöschliches Ereignis, denn sie wird dort dem britischem Premierminister Benjamin Disraeli vorgestellt, sieht Otto von Bismarck und andere politische Prominenz - eine -ihre - Einführung in die Weltpolitik quasi. Vor allem beeinflusst sie der Vater mit seinen Kontakten nach Frankreich, besonders zu den dortigen Republikanern wie Leon Gambetta und etwas später Georges Clemenceau. Als Sechzehnjährige verbringt sie mit der Familie dann auch einen ersten Urlaub bei Paris, wo sie sich sozusagen einen neuen Prominenten angelt, Jacques Offenbach, der damals schon sehr krank ist und sie und ihre Schwester auffordert, in Wien seine Grüße an Johann Strauß auszurichten. 

1881 tritt ein anderer Prominenter in das Leben der Familie Szeps: Kronprinz Rudolf von Österreich, der Sohn der berühmten Sisi, zwischen dem und dem liberalen Zeitungsherausgeber sich eine Freundschaft entwickelt. Immer wieder wird sich Bertas Vater mit dem Thronfolger in den Privatgemächern von dessen Frau zu Gesprächen treffen. Und Berta wird von ihrem Vater dabei ins Vertrauen gezogen: Sie empfängt den Vertrauten des Prinzen immer dann, wenn er mit neuen Botschaften im Palais Szeps vorspricht. 

Der Journalist stimmt mit dem Kronprinzen überein, dass die Zukunft der österreichischen Monarchie nicht in der Anlehnung an das unter Bismarck reaktionäre Deutsche Reich liegt, sondern in der Zusammenarbeit mit dem liberalen, republikanischen, demokratischen Frankreich. Zentrum des politischen Credos im Hause Szeps ist der Liberalismus, dessen Niedergang den österreichischen Juden Kopfzerbrechen bereitet. Es sind die Liberalen gewesen, die den Juden im Lande volle Gleichberechtigung zugestanden und das Entstehen einer wohlhabenden jüdischen Bourgeoisie ermöglicht haben, aus der entscheidende Impulse für das Wiener Kulturleben der Jahrhundertwende hervorgegangen sind.

Links Kronprinz Rudolf, rechts Georges Clemenceau

Viele seiner Gedanken veröffentlicht der Kronprinz unter einem anderen Namen in Denkschriften, aber auch im "Neuen Wiener Tagblatt" des Moriz Szeps. Die Freundschaft mit diesem und anderen jüdischen Intellektuellen wird in einer Zeit der Vorherrschaft des Antisemitismus aber von vielen Menschen der Monarchie nicht gerne gesehen. Die Hofkamarilla schlägt schließlich zu,  als in Paris Leon Gambetta zu Tode kommt und das "Neue Wiener Tagblatt" die Trauer offen zur Schau trägt. Der Statthalter von Niederösterreich entzieht im Januar 1883 der Zeitung die Vertriebslizenz. "Dies war der erste Schritt vom Wege seines bis dahin vom Glück beschirmten Lebens", beurteilt das Berta später.

Doch noch ist das "Neue Wiener Tagblatt" nicht am Ende. Mit Bertas Unterstützung findet der Vater Buchläden, die bereit sind das Blatt zu verkaufen und damit fürs Erste zu retten. Als neuen französischen Ansprechpartner lädt sich der Vater nun Georges Clemenceau nach Wien ein. Der verbündet sich alsbald aber auch mit der 23 Jahre jüngeren Berta gegen ihre Mutter und deren strenge Auflagen. In Frankreich wird immer wieder mal vermutet, es habe sogar eine Liebesbeziehung zwischen den beiden gegeben. Fakt ist allerdings die bleibende enge Freundschaft zwischen Clemenceau und den Schwestern Berta und Sophie.

Emil Zuckerkandl
( ca.1880)
1883, bei einer der elterlichen Soireen, begegnet Berta dann auch dem Mann ihres Lebens: dem Arzt Emil Zuckerkandlfünfzehn Jahre älter, Anatom mit Lehrstuhl an der Grazer Universität, einer der jüngsten Professoren an einer österreichischen Universität, ein Mann, der Charakterstärke und einen unwiderstehlichen Charme ausstrahlt. Über den merkwürdigen Namen nacht sie sich lustig und fragt seinen Freund von der "Grazer Zeitung", warum er diesen Namen nicht abgelegt hat, wie es doch bei vielen assimilierten Juden der Fall ist. Emil Zuckerkandl hat aber mit neunzehn einen unbekannten Knochen entdeckt, der nun in der Wissenschaft seinen Namen trägt. Doch immer wieder hat er Zurücksetzungen zu ertragen, weil er als Jude "dem Taufbecken ausweicht", so die "Österreichische Wochenschrift".

Auch wenn er äußerlich erst einmal nicht viel her macht in seinem geliehenen Frack, bittet ihn Berta an den Tisch des Hausherrn. "Mein Leben lang habe ich mich nicht so gut unterhalten. Vater sieht mich nach der Soiree streng an. Aber er wird schon wieder gut werden."

Emil Zuckerkandl ist ab da regelmäßiger Gast, auch im Sommerhaus der Szeps unweit Klosterneuburg. Aber als Freier gilt er nicht, denn Berta hat noch zwei weitere Eisen im Feuer: den Schauspieler Alexander Girardi und den Dichter Carl Weiss.

Vilma Elisabeth von Parlaghy Brochfeld:
"Bertha Zuckerkandl"
(1886)
Im Sommer 1884 kann Berta einen neuen Prominenten in ihre Sammlung einreihen: Richard Wagner, der die ganze Familie nach Bayreuth zu einer Aufführung des "Parsival" einlädt. Beeindruckender findet sie dann aber Franz Liszt. Und gar nicht beeindrucken lässt sie sich vom Antisemitismus der beiden Tonkünstler. 

Das nächste Jahr wird weniger erfreulich: Die jüngste Schwester stirbt an einer Lungenentzündung, der Vater muss eine Strafe, verhängt im Rahmen eines Ehrenbeleidigungsprozesses, antreten, aber Berta darf ihn vorher als seine Sekretärin zu einem Geheimgespräch mit Clemenceau in Zürich begleiten und dort alles protokollieren. Und sie entscheidet sich förmlich für Emil Zuckerkandl und verlobt sich mit ihm. Bei der anschließenden Reise nach Paris steht dann allerdings die Schwester im Mittelpunkt, die einen heißen Flirt mit dem jüngeren Bruder Clemenceaus, Paul, beginnt, aus dem bald Ernst wird ( Ende des Jahres 1886 heiraten auch diese beiden ).

Aber erst einmal ist Berta an der Reihe: Am 15. April 1886 gibt sie im Wintergarten des Palais Szeps Emil Zuckerkandl ihr Jawort - "Gaffer" möchte sie nicht dabei haben - und geht mit ihm zunächst nach Graz, das "Pensionopolis der Donaumonarchie", welches sie eine "gegen den Geist gehässige Provinzstadt" nennt. Dort lebt sie recht zurückgezogen, auch fern der Querelen & Kabalen, denen ihr Vater und seine Zeitung weiterhin ausgesetzt sind.

Doch schon zwei Jahre später erhält ihr Mann einen Ruf an die Universität Wien. Das Paar übersiedelt wieder und kauft eine Villa in der Nusswaldgasse, einer stillen Vorstadtgasse in Döbling. Das Interieur der Villa wird hochmodern, denn die Inneneinrichtung trägt die klaren Linien des Architekten Josef Hoffmann. Der Maler Carl Moll, Mitbegründer der Wiener Sezession, hält auf seinem Gemälde diese Innenansicht fest und stellt Berta Zuckerkandl in einem sogenannten Reformkleid, das die Figur weniger einengt als die übliche Mode der Zeit, hinein ( vergleiche dazu diesen Post ).

Carl Moll "Weißes Interieur"
(1905) 

Das alles wird aber erst einmal überschattet von dem Selbstmord des Kronprinzen Ende Januar 1889. Anders als ihr Vater, für den das ein psychologischer Schlag ist, von dem er sich nicht erholen wird, reagiert Berta darauf mit der Abwendung von der Politik hin zur Kultur und der sozialen Sphäre, ja, sie hofft gar als Reaktion auf das Ereignis auf eine geistige Wiedergeburt im Lande.

Sie installiert in ihrem neuen Domizil schließlich einen Salon, der sich im Nu zum Treffpunkt der künstlerischen Avantgarde Wiens ( "Jung-Wien" ) entwickelt. Die bemerkenswert liebenswürdige junge Frau wird so die Wiener Gesellschaft während der letzten Jahrzehnte der Monarchie maßgeblich prägen. Ihre Maxime: "Hier war kein Raum für Snobismus und Arroganz." Darüberhinaus gilt Bertas soziales Engagement den Persönlichkeitsrechten der Frauen.

Das gastliche Haus frequentieren im Laufe der Zeit zahlreiche Schriftsteller wie etwa Hermann Bahr und der junge Arthur Schnitzler, Peter Altenberg und später Hugo von HofmannsthalBahr, der "Prophet der Moderne", den sie gegenüber den über Jahrzehnte andauernden ätzenden Angriffen Karl Kraus' verteidigt, schätzt sie als den "österreichischen Menschen schlechthin". Liest man in ihren Erinnerungen über den Salon, klingt es wie Namedropping  zur Zeit des Fin de Siècle bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges.  

Zwischendurch, 1895, bringt Berta aber auch ihren einzigen Sohn Fritz zur Welt, zu dem sie zeitlebens eine besonders enge Beziehung haben wird.

Doch nicht nur die Dichtkunst spielt im Salon der Berta Zuckerkandl eine Rolle: Musiker wie Gustav Mahler ( der Anfang November 1901 dort seine spätere Frau Alma kennenlernen wird, worüber sie selbst in einem ihrer "Briefe nach Paris" an die Schwester schreibt ), Arnold Schönberg oder Alban Berg stellen ihre neuesten Kompositionen vor. Neben dem berühmt-berüchtigten Gustav Klimt sind der bereits erwähnte Carl Moll, Koloman Moser und Otto Wagner regelmäßige Besucher. 1897 entsteht in Bertas Salon die Idee zur Künstlervereinigung der Secession, deren Motto "Der Zeit ihre Kunst, der Kunst ihre Freiheit" Bertas Lebensthema wird und sie veranlasst, sich erstmals publizistisch zu betätigen. Auch bei der Gründung der Wiener Werkstätten im Jahr 1903 spielt Berta eine Rolle. Sie unterstützt Koloman Moser und die Idee des "Gesamtkunstwerks" in zahlreichen Artikeln.

Zu den Gästen ihres Salons zählen aber auch Kritiker, berühmte Ärzte und Wissenschaftler. Berta Zuckerkandl ist aus dem Wiener Kulturleben bald nicht mehr wegzudenken. Sie wird geschätzt & verehrt. Karl Kraus freilich überschüttet sie immer wieder mit Häme, bezeichnet sie als "Kulturschwätzerin" und meint, dass in Wien nichts geht, ohne dass "Tante Klara" mitmischt.

Gustav Klimt "Fakultätsbild Medizin"
(1900/07 )
Als Redakteurin der "Wiener Allgemeinen Zeitung" und Mitarbeiterin des "Neuen Wiener Journals" tritt Berta um die Jahrhundertwende vehement für die neue Kunst der Wiener Moderne ein, gemeinsam mit ihrem Ehemann dann auch für Gustav Klimt, dessen Fakultätsbilder - 1903 sind alle vier dann erstmals gemeinsam zu sehen - für den Festsaal der Wiener Universität in reaktionären Kreisen einen Sturm der Entrüstung entfachen zu einem der größten Kunstskandale des 20. Jahrhunderts. 

Auch für Oskar Kokoschka und Egon Schiele ergreift sie Partei, als der neue Thronfolger Franz Ferdinand 1910 deren Ausstellung schließen lassen will. In ihren Erinnerungen schreibt sie darüber:

"Ich stand mit einigen jungen Künstlern im großen Mittelraum, als eine wellenartige Bewegung alle Offiziellen ergriff. Man sah plötzlich keine Gesichter mehr, sondern nur tiefgebeugte Rücken. Durch die Allee dieser Rücken schritt düster, aufgeblasen und gallig Franz Ferdinand, der Thronfolger. Wo immer er eintrat, verbreitete er Missmut, beinahe Schrecken. Dann stand er in der Mitte des Saales, rief eiskalt und doch wutentbrannt‚ Schweinerei!"
Im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts muss Berta dann schwere familiäre Schicksalsschläge hinnehmen: 1902 stirbt der Vater, 1910 ihr geliebter Ehemann, 1912 ihre Mutter. Und dann, zwei Jahre später, erfolgt der Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Nun veröffentlicht Berta Zuckerkandl vermehrt pazifistische Texte: 

"Mich ergriff der allgemeine patriotische Taumel nicht. Ich bäumte mich sofort gegen den Hassrausch auf, der selbst die zartesten Gemüter erschütterte. Es blieb mir unverständlich, wieso, warum man Menschen einer anderen Nation, die man tags zuvor noch geliebt oder geschätzt hat, plötzlich verachten oder hassen sollte, nur weil es Kaisern, Königen und Präsidenten der Republik gefiel, Europa in Blut zu tauchen." ( Quelle hier )

Nach dem Tod des alten Kaisers Franz Joseph 1916 stellt sie sich für die Vermittlung eines Separatfriedens zwischen Frankreich und der Donaumonarchie zur Verfügung. Für die Behandlung einer Augenkrankheit erhält sie die Erlaubnis, in die Schweiz einzureisen, ihr (offizieller) Auftrag: Kulturpropaganda für Österreich. Inoffiziell soll sie an einem Separatfrieden für Österreich & Ungarn mit Frankreich mitwirken. Die Sache wird nach Berlin durchgestochen und letztendlich torpediert. Für Berta resultiert daraus eine anhaltende Freundschaft mit Annette Kolb ( siehe auch dieser Post ). Kurz vor Kriegsende erreicht sie immerhin, dass Frankreich seinen Widerstand  gegen die Installierung einer interalliierten Lebensmittelkommission in Triest aufgibt, so dass die Lebensmittelversorgung für Österreich sichergestellt ist.

1916 ist sie schon von Döbling in die Wiener Innenstadt zurückgekehrt und führt ihren Salon jetzt weiter im Palais Lieben-Auspitz  ( siehe auch dieser Post ), Eingang Oppolzergasse, ganz in der Nähe des Burgtheaters, wo sie nun eine Vier-Zimmer-Wohnung bewohnt. Bis zu ihrer Emigration 1938 wird sie ihre Salongäste im Bibliothekszimmer empfangen, dessen Mittelpunkt ein überdimensionaler Diwan bildet, auf dem bis zu zehn Personen Platz finden, einem schwarz-grünen, mit einem Blumenmotiv im Jugendstil geschmückten Prachtstück der Wiener Werkstätte.

Zu den alten Freunden kommen neue hinzu, an Sonntagnachmittagen treffen sich bei Tee oder Kaffee und belegten Brötchen Dichter, Schauspieler und Politiker zu einem "Jour fixe". Egon Friedell ist darunter, Theodor Csokor und die beiden politischen Widersacher Ignaz Seipel und Julius Tandler. Weltanschauliche Gegensätze werden im Salon der liebenswürdigen Gastgeberin nicht ausgetragen.

"Wie soll ich die reizvoll bewegliche Atmosphäre des Salons von Berta Zuckerkandl beschreiben, die in ganz anderer Art zu diesem bunten Bild von Wien gehört? Sie hatte nichts mit den verträumten, etwas zerstaubten Palais zu tun, die auf die Gasse ernst herniederschaun. Sie war ganz Farbe und Grazie, neu, das Neue stark empfindend. Eine Freundin von Klimt und Mahler, eine Vorkämpferin der Wiener Werkstätten. Wie eine exotische Blume wirkte sie in ihrem feinfarbigen Palais von Hoffmann. Ihr rotes Haar glühte über buntgestickten Stoffen und Batiks, und ihre dunkelbraunen Augen funkelten von innerem Feuer", beschreibt Helene von Nostiz in ihrem Tagebuch ihren Besuch bei Berta in der Zwischenkriegsära.

Bertas persönliches Leben hat sich zu diesem Zeitpunkt grundlegend geändert, denn sie muss Geld verdienen und von daher sich journalistisch oder als Übersetzerin von Theaterstücken betätigen. Anfangs beschränkt sich Berta Zuckerkandl noch auf die kulturelle Themen und ist publizistisch daran beteiligt, die Salzburger Festspiele, einstens angedacht von ihrem Freund Bahr, jetzt umgesetzt von Max Reinhardt, 1920 zu propagieren ( in ihrem Salon findet übrigens auch die erste öffentliche Lesung von Hofmannsthals "Jedermann" statt ). 

Dann wechselt sie zu einer Zeitung von mitteleuropäischem Format, dem "Neuen Wiener Journal", wo sie sich zur bedeutendsten außenpolitischen Kommentatorin Österreichs entwickelt, als Sonderkorrespondentin Reisen ins europäische Ausland unternimmt und 1924 eine umfangreiche Serie von Exklusivinterviews mit westeuropäischen Spitzenpolitikern herausbringt - für sie ein großer Erfolg! Vertrauend in ihre Fähigkeiten setzen sie Politiker weiterhin als "Botschafterin" für österreichische Anliegen ein. Tatsächlich erringt sie einmal einen Teilerfolg im Bemühen Österreichs um die Abschaffung der Völkerbundaufsicht über die Finanzen des Landes.

Politik ist – im Gegensatz zum allgemeinen Brauch in Wiener Salons – in dem der Zuckerkandl stets präsent. Je nach politischer Weltlage beredet man Ereignisse in den Nachbarländern, die österreichisch-französischen Beziehungen, den angestrebten Separatfrieden oder die Anschlussdebatten an Deutschland. Der aufkommende Faschismus in Italien und der Nationalsozialismus in Deutschland werden besprochen, weshalb deutschnationale Kreise sie als "Kulturbolschewistin" diffamieren. 

"Die Triebfedern ihres Schaffens, ihre Liebe zu Österreich, ihre demokratische, fortschrittliche, frankophile, antipreussische Gesinnung, das Wissen um die sozialen Probleme, totales Engagement, Begeisterung, Sachkenntnis auf dem Gebiete der Kunst und Literatur, (...) wurzeln in der liberalen Erziehung ihres Vaters", wird Renate Redl hier zitiert.
1930er Jahre

Das Ende des Salons Zuckerkandl fällt nicht – wie in der Literatur oft berichtet - mit dem Ende der Eigenstaatlichkeit Österreichs zusammen, sondern erfolgt schleichend und weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit schon  zu Beginn der 1930er Jahre, als Berta Zuckerkandl sich aufgrund zunehmender finanzieller Probleme die Rolle der Salonière nicht mehr leisten kann. Ursache dafür ist u. a. ab 1933 das Ausbleiben von Tantiemen aus Deutschland, da die von ihr übersetzten französischen Dramen dort nicht mehr gespielt werden. Dazu kommen die großen finanziellen Probleme ihres Sohnes Fritz durch das Sanatorium Purkersdorf, an dem er Anteile nach dem Tod seines Onkel Viktor übernommen hat. Schließlich entzieht dieser sich seinen privaten Verschuldungen durch einen Umzug nach Paris 1935. Die ständigen Versuche, von ihm Geld zu bekommen, führen 1937 zum Bruch mit ihrem Schwager Paul Clemenceau. Im Jahr darauf haben Bertas Schulden dann ein Ausmaß von existenzieller Bedrohung angenommen.

Viele der berühmten Gäste des Salons sind zu dieser Zeit  schon längst tot.  Auch wenn Geldsorgen und Existenznöte ihr Leben bestimmen, bleibt Berta politisch aktiv als Verfechterin einer österreichisch-französischen Annäherung, um der drohenden Gefahr aus Nazi-Deutschland entgegenzuwirken. Dies geschieht jetzt nur noch vereinzelt durch journalistische Arbeiten, sondern mehr durch Besuche in Frankreich & durch persönliche Kontakte mit österreichischen, französischen, aber auch englischen Beamten, Diplomaten und Politikern. Wichtiges Ziel ist ihr die Erhaltung der österreichischen Unabhängigkeit.

1938 bricht diese Welt dann doch zusammen, Berta wird von ihrem Judentum eingeholt und muss vor dem Rassenwahn der Nazis aus Wien flüchten. Mit Hilfe des französischen Schriftstellers Paul Géraldy und der Vermittlung eines französischen Visas durch ihren Schwager kann sie zusammen mit ihrem 16jährigen Enkel Emile Zuckerkandl, seiner Mutter Trude Stekel, die Tochter des Psychoanalytikers Wilhelm Stekel, nach Paris und dort nimmt sie Ende März ihren neuen Wohnsitz. Sie beginnt an ihren Erinnerungen zu schreiben und setzt ihre politische Tätigkeit fort. Geldsorgen drücken sie immer wieder: "... mit 74 Jahren in der Situation zu sein in der ich mich momentan befinde (…) dies ist hart", wendet sie sich beispielsweise an die American Guild um eine Unterstützung.

Mit ihrem Enkel Emile noch in Purkersdorf

Im Sommer 1940 verlässt sie Paris, um ihren Sohn in Bourges zu besuchen, der dort beim Militär stationiert ist, als sich die Ereignisse überschlagen, nachdem die deutsche Großoffensive an der Westfront begonnen hat. Per Bus, zu Fuß, ohne ihren Sohn macht sich die 76jährige auf den Weg gen Süden. In Moulins kommt sie nicht mehr weiter, zerreißt ihre Papiere, erhält schließlich aufgrund persönlicher Bekanntschaft mit Regierungsbeamten in Vichy, nunmehr Hauptstadt des unbesetzten Frankreichs, aber doch noch eine gültige Einreisebewilligung. Nach vier Wochen Odyssee kommt sie nach Montpellier, von wo sie zu ihrem Sohn - inzwischen in Algier - weiterreisen kann. Enkel und  Schwiegertochter schlagen sich unterdessen nach Bayonne durch und weiter auf einem Frachter nach Casablanca. Schließlich kommen sie alle wieder in Algier zusammen, wo sie mehr schlecht als recht leben und Berta ein Buch über Clemenceau zu Ende bringt, "Großes Österreich, große Österreicher" schreibt und auf Wunsch ihres Enkels einen Bericht über ihre Flucht ( beides wird erst 1979 bzw. 2013 publiziert ).

Berta arbeitet zuletzt noch für einen Radiosender, der sich an die deutschsprachigen Truppen in  Italien & Südfrankreich richtet und sich für Frieden und Völkerverständigung einsetzt. 1945 erlebt sie noch die Niederlage des Nationalsozialismus, ist aber schon schwer krank und wird von argen Schmerzen geplagt. Im September des Jahres gelingt es ihr, für sich und ihren Sohn zwei Plätze in einer Militärmaschine nach Paris zu ergattern. Sie wird ins britische Militärspital, dann in eine Privatklinik im 9. Arrondissement gebracht, wo sie am 16. Oktober 1945 mit 81 Jahren stirbt. Begraben wird sie auf dem Friedhof Père Lachaise.

In Österreich gerät Berta Zuckerkandl bis in die 1980er Jahre weitgehend in Vergessenheit, bis Renate Redl an der Wiener Universität eine Dissertation verfasst und ihr literarisches Werk katalogisiert. Eine Gedenktafel am Palais Lieben-Auspitz erinnert heute an diese mutige Frau. 2009 wird im 9. Bezirk ein Fuß- und Radweg parallel zum Donaukanal und zur Spittelauer Lände nach ihr benannt.




8 Kommentare:

  1. Bislang war mir Berta Zuckerkandls Name kein Begriff. Es war wieder so spannend, in die Zeit um die Jahrhundertwende einzutauchen. Irgendwie sieht man auf diese Weise die Zeitgeschichte wieder aus einer anderen Perspektive.
    Danke!
    Liebe Grüße
    Andrea

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  2. Was für ein beeindruckendes Portrait von Bertha Zuckerkandl hast Du hier geschrieben! Ich kannte sie bisher nur als Wiener Salonière und wusste nichts über ihre Flucht und ihr Sterben in Frankreich. Was für ein Lebensweg, von der einflussreichen Salonière zur flüchtenden alten Frau in Algier. Wieviel Energie hat sie da noch aufbringen müssen.
    Ich hatte sie immer nur wohlbehütet in ihrem Salon vor Augen. Was für eine Täuschung!
    Wieder einmal bin ich total beeindruckt von einer Frau, die noch als Frau in meinem Alter zu so vielen Lebensänderungen gezwungen wurde und diese gemeistert hat.
    Die Leopoldvorstadt habe ich einmal besichtigt und erst kürzlich habe ich einen Film über Galizien gesehen. Von dort kamen gebildete und lebenshungrige jüdische Menschen in Wien am Bahnhof der Leopoldvorstadt an. Sie ist ein echte Nachfahrin dieser Menschen.
    Ein wunderbares Portrait, vielen Dank!
    GLG Sieglinde

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  3. Hochinteressant zu lesen liebe Astrid,
    regelrechte Gänsehaut hab ich beim lesen dieser Biographie einer Frau bekommen die all das erlebt und hinter sich gebracht hat.
    Fast unvollstellbar welche Kraft doch in ihr steckte.
    Ungeheuer interessant war und ist ihr Leben das ihr im Alter so viele Entbehrungen brachte....
    Vielen Dank das Du ihr Leben und Wirken wieder in den Vordergrund gerückt hast und mein Respekt vor Persönlichkeiten dieser Art wächst und wächst mit den Biographien jeden Tag mehr...
    liebe Grüße angelface

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  4. von Helga:

    Liebe Astrid,

    heute wieder Womens-Do-day. Ich kann gar nichts mehr sagen dazu, überall würde ich in Wespennester stechen. Welch tapfere, kämpferische Frauen waren damals zu Gange. Heute kämpfen wir um einen Friseurtermin und um Bla Bla.

    Danke für diesen Post sagt Helga

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  5. Die Zuckerkandl ist mir durchaus ein Begriff. Alle diese Namen sind fix daheim bei mir.
    Wiens Geschichte geht ja über mit solchen Leuten!!
    Seufz!

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  6. wieder die geschichte einer so interessanen frau, die sich durchkämpfen musste und dann doch von den nazis geschasst, bzw vertrieben wurde. so traurig, dass sie sich im alter noch diesem leid aussetzen musste. gut, dass du sie hier portraitiert hast!! ihr name wird mir jetzt immer im gedächtnis bleiben!
    liebe grüße
    mano

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  7. Das ist wieder sehr beeindruckend. Sie war mir gar nicht bekannt. Jedenfalls ist das ein übervolles Leben gewesen.
    LG
    Magdalena

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  8. Wieder ein Portrait einer beeindruckenden Frau, kämpferisch, politisch bis ins hohe Alter, viel gelitten und wichtiges getan. Danke! LG Eva

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Danke, dass du dir für ein paar liebe Worte Zeit nimmst!

Ich wünsche mir allerdings nach wie vor, dass ein Name am Ende des Kommentars steht.
Da die anonymen namenlosen Kommentare zuletzt wieder zugenommen haben, hier der ausdrückliche Hinweis:

Ich werde sie ab jetzt wieder konsequent NICHT freischalten.

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