Donnerstag, 18. März 2021

Great Women #253: Jutta Limbach

"Jutta Courage", so wurde sie immer wieder mal getauft, besonders nach der Wende. Und ich erinnere mich noch mit Genugtuung daran, als sie 1994 an die Spitze des Bundesverfassungsgerichtes gelangte. Hinter einem äußeren Erscheinungsbild wie das der damaligen Mutter der Nation ( Inge Meysel ) verbarg sich eine tolle Juristin, die schon mal gerne von ignoranten männlichen Zeitgenossen als "dumme Kuh" apostrophiert worden ist, den Herren aber zeigte, wer den Hut bzw. das scharlachrote Barett auf hat: Jutta Limbach.

"Ohne Selbstbehauptungswillen kommt eine Frau 
in unserer Gesellschaft nicht voran."
......
"Wer die Welt verändern will muss tiefer träumen 
und wacher handeln."

Jutta Limbach kommt am 27. März 1934  als Jutta Ryneck in Berlin- Neukölln zur Welt, zweites Kind der Kellnerin Erna Bresemann, Tochter eines jung verstorbenen Lokomotivführers aus dem Spreewald, und ihrem Ehemann Erich Hans Paul Ryneck, einem Ingenieur, der im Gegensatz zu seiner introvertierten Frau eher gesellig ist. Zum Zeitpunkt von Juttas Geburt hat er bereits aufgrund der nationalsozialistischen Beamtengesetze seine Stellung im Staatsdienst verloren, so dass er sich um die Kinder und den Haushalt, kümmert und seine Frau als Kellnerin arbeitet, um den Lebensunterhalt der Familie zu sichern.

Schaut man sich die Familiengeschichte der kleinen Jutta an, scheint eine politische Kariere schon von Anfang an vorherbestimmt:

Vater Erichs Mutter, also Juttas Großmutter, ist Elfriede Ryneck, Mitglied der Weimarer Nationalversammlung und Reichstagsabgeordnete für die SPD und eine der ersten Frauen, die 1919 in Parteivorstand der SPD gewählt worden ist. Von 1919 bis 1933 ist sie Abgeordnete zunächst in der Weimarer Nationalversammlung, dann im Deutschen Reichstag und schließlich im Preußischen Landtag. Ihr Arbeitsgebiet ist die Sozialpolitik und sie gehört zu den Frauen, die mit Marie Juchacz 1919 die Arbeiterwohlfahrt gründen. Die Machtübernahme der NSDAP beendet ihre politische Tätigkeit, sie wird erwerbslos und kann die Nazi-Herrschaft nur mithilfe der Familie ihres Sohnes überstehen.

Pauline Staegemann links,
Elfriede Ryneck rechts

Juttas Urgroßmutter, Pauline Staegemann, wiederum ist eine Frauenrechtlerin & Sozialdemokratin gewesen, die die erste sozialdemokratische Frauenorganisation, den "Berliner Arbeiterfrauen- und Mädchenverein" mit anderen Arbeiterinnen ins Leben gerufen hat.  Dem Verein ist vorgeworfen worden, durch die Frauen auch auf die Männer und auf die Kindererziehung sozialistischen Einfluss auszuüben. Zweimal wird Pauline Staegemann wegen "unbotmäßiger politischer Umtriebe" inhaftiert. Sie und ihre Mitstreiterinnen werden als "wahre Hyänen" diffamiert.

Zusammen mit Emma Ihrer hat sie außerdem den ersten "Verein zur Wahrung der Interessen der Arbeiterinnen" gegründet. Der gab sich die Aufgabe des Rechtsschutzes für Frauen, damit die, die beispielsweise als Hausangestellte gearbeitet haben und aus irgendwelchen Gründen entlassen worden sind, abschließend mit entsprechenden Zeugnissen ausgestattet worden sind. 

Für Jutta ist diese Urgroßmutter, der sie nie begegnet ist, ist sie doch bereits 1909 gestorben, präsent in ihrem Leben im Erzählungsschatz ihrer Familie, die über Generationen in dem verwurzelt gewesen ist, was man einmal Arbeiterbewegung genannt hat. Ihre eigene Laufbahn sei ein "Stein auf dem Weg, den die Urgroßmutter gelegt hat", wird sie später betonen.

Sie wächst mit einem älteren Bruder ( Peter *1933 ) und einer jüngeren Schwester ( Brigitte *1940 ) also in einer durch und durch sozialdemokratisch geprägten Familie auf. Als die Luftangriffe auf Berlin zunehmen, zieht die Mutter mit den drei Kindern nach Lichtenau in der Nähe von Lübbenau im Spreewald,  ein Dorf mit nur einer Hand voll Familien. Der Vater muss in Berlin bleiben, denn inzwischen haben die Nazis sogar politisch "unzuverlässige" Arbeitskräfte wie Erich Ryneck in der Rüstungsindustrie dienstverpflichtet. Nur am Wochenende kommt er zu seiner Familie.

Jutta geht mit ihrem Bruder in die drei Kilometer von ihrer Wohnung entfernte zweiklassige Dorfschule mit einem einzigen Lehrer, der alle Fächer unterrichtet. Als der eines Tages Jutta ein antisemitisches Pamphlet des "Stürmers" nach Hause mitgibt, um es zu studieren, macht sich Oma Elfriede, die sich unter regelmäßiger Polizeikontrolle auf Geheiß der Nazis befindet, auf den Weg in die Schule und macht dem Lehrer unmissverständlich klar, was sie davon hält. Die Kinder sind beeindruckt von ihrer Courage, die Mutter fürchtet die Gestapo an der Tür: "... seitdem hat uns dieser Lehrer wirklich mit einer vornehmen Zurückhaltung behandelt, er hat uns nicht mal mehr mit seinem Rohrstock belästigt, mit dem er zuvor ständig und alle schlug. Stattdessen behandelte er uns fortan wie rohe Eier." Jutta und ihre Geschwister sind sonst während dieser Zeit von der Familie sorgfältig von den oppositionellen Gedanken der Eltern, Großmutter und deren Freunden abgeschirmt worden. Doch dieses Ereignis macht dem Mädchen bewusst, dass die Ihren nicht im Einklang mit dem Nazi-Regime stehen.

Mit dem Ende dieser Herrschaft müssen die Rynecks das Dorf verlassen, weil es russisches Quartier wird. Vater und Großmutter engagieren sich sofort wieder politisch in der sozialdemokratischen Partei und der Vater beteiligt sich am Wiederaufbau in Berlin bzw. Pankow - Heinersdorf, wohin er Jutta als Einziges seiner Kinder mitnimmt. Dort will er die SPD wieder neu begründen, und Jutta hilft ihm, Plakataufrufe dafür zu gestalten und aufzuhängen.

"Es war eine Zeit, in der ich meinem Vater sehr nah war. Ich habe diese Zeit trotz Hunger und Kälte wegen der Lebensfreude und Tatkraft meines Vaters in guter Erinnerung. In Sachen Optimismus bin ich meines Vaters Tochter. Ich wollte - wie meine Vorfahren - eines Tages politisch tätig sein", wird sie später sich hier erinnern.

Erich Ryneck wird dann 1946 Bürgermeister von Heinersdorf, anschließend dann Bezirksbürgermeister von Pankow. 1948 werden während seiner Abwesenheit - er ist auf einer Parteiversammlung in Hannover - die Stadträte für Ernährung und der für Finanzen wegen Unterschlagung von der sojwetischen Besatzungsmacht verhaftet. Rynek nimmt das als Anzeichen für bevorstehende politische Verfolgung von Sozialdemokraten im Ostteil der Stadt und er nimmt den Rat der Partei an, in den Westteil der Stadt zu gehen. Die Familie zieht ihm dann nach Lichterfelde nach.

Nach dem Krieg kommt der Bruder Peter auf das von Wilhelm Blume wieder neu installierte reformpädagogische Internat auf der kleinen Insel Scharfenberg im Tegeler See, in der Weimarer Zeit einer der bedeutendsten Schulversuche der Republik. Gemeinsam mit anderen Eltern erreichen die Rynecks, dass Ostern 1946 erstmals auch Mädchen in der "Schulfarm Insel Scharfenberg" aufgenommen werden – darunter auch Jutta. Sie fühlt sich dort sehr wohl. Die Schüler arbeiten nicht nur mit dem Kopf, auch mit der Hand, z.B. im Garten und auf den Feldern, der Bruder auch in der Schlosserei.

Am 28. Februar 1948 ertrinkt Juttas 15jährige Bruder beim Schlittschuhlaufen auf dem Tegeler See. Er hat nicht bemerkt, dass ein Eisbrecher eine Fahrrinne gezogen hat. Spontan nehmen die Eltern Jutta von der Schule. Das und der Verlust des Bruders schmerzen das junge Mädchen sehr. 

Schulfarm Scharfenberg links,
Goethegymnasium Lichterfelde rechts

Sie besucht ab da ein reines Mädchengymnasium, wie es damals üblich gewesen ist, das Goethegymnasium. Als Erwachsene fragt sich Jutta, ob diese Schulform auch darauf Einfluss hat, wie frau sich im späteren Leben durchsetzt und es selbstverständlich macht, Ämter zu übernehmen. Sie selbst arbeitet in der Schülermitverwaltung als Vorsitzende mit und wird ein Jahr lang Chefredakteurin der Schülerzeitung "Springender Punkt". Ob es in ihrem Leben anders gelaufen wäre, hätte sie sich gegen männliche Konkurrenz durchsetzen müssen?

1953 legt sie ihr Abitur ab. Was ihre weiteren Berufswünsche anbelangt, ist Jutta hin und her gerissen. Sie kann sie sich vorstellen, Journalistin zu werden und sich auch politisch zu betätigen, und kommt in Beratungen mit dem Vater zu dem Schluss, dass Kenntnisse in Staatsrecht u.ä. eine gute Grundlage sein könnten. Im Verlaufe des Studiums an der Freien Universität in Berlin findet sie immer größeres Interesse an Jura. Und auch im an das 1. Staatsexamen 1958 anschließende Referendariat merkt sie, dass sie dabei bleiben will und legt die Idee, zu einer Zeitung zu gehen, ad acta: "Die Jurisprudenz hat mir einfach Spaß gemacht. Wenngleich ich an der Universität noch kein konkretes Bild vor Augen hatte, was ich werden wollte." 

Ein politisches Amt zu übernehmen - dem ist sie nicht abgeneigt. Deshalb tritt sie in die SPD ein. Aber mehr oder weniger zufällig bekommt sie an der Universität aufgrund ihres guten Staatsexamens die Möglichkeit zu bleiben, verbunden mit der Promotion. Sie wird wissenschaftliche Mitarbeiterin von Professor Ernst E. Hirsch an der rechtswissenschaftlichen Fakultät. 

Die erhält sie 1966 aufgrund einer Arbeit über "Die empirischen Normaltypen der GmbH und ihr Verhältnis zum Postulat von Herrschaft und Haftung." Da ist sie schon seit dem 31. März 1964 verheiratet mit ihrem ein Jahr jüngeren Studienkollegen Peter Limbach und Mutter einer Tochter, Anna Caroline, im gleichen Jahr geboren. Jutta hat keine Bedenken, Beruf und Kinder unter einen Hut zu bekommen und ihr Mann kann sie sich nicht als Nur-Hausfrau und Mutter vorstellen, davor habe er Angst gehabt:

"Ich bin im richtigen Elternhaus groß geworden, wo Frauen immer berufstätig waren, und ich habe den richtigen Mann geheiratet, der sich die Aufgaben mit mir geteilt hat. Er hat sogar mehr geleistet als ich, obwohl er auch voll berufstätig war. Als sich das dritte Kind ankündigte, hatte ich schon eine Krise, aber mein Doktorvater fand es selbstverständlich, dass Frauen Kinder kriegen und arbeiten. Wie häufig habe ich gehört: Wie machen Sie das bloß?"

Kurz vor der Geburt ihres Sohnes Daniel zieht sie mit ihrer Familie nach Bonn um, wo Peter Limbach eine Karriere als Leiter der Organisationsreferats im Bonner Innenministerium beginnt. Dann bietet sich ihr die Möglichkeit, ein Habilitationsstipendium bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft in Bonn zu beantragen. Sie empfindet es durchaus als Luxus, weiter arbeiten zu können an Dingen, die ihr Freude machen, und setzt das Geld ein, um ein Kindermädchen zu bezahlen, denn Großeltern einzuspannen, wie es zu jener Zeit der übliche Fall gewesen ist, als frau/man noch privat eine Lösung finden musste, will das Ehepaar Limbach nicht. Sie sind der Meinung, dass diese ihren Teil geleistet hätten. 

Jutta und Peter Limbach (1993)
"Lieber bescheidener leben und dafür ein Kindermädchen bezahlen", ist also ihre Devise, und das Paar wird das so lange praktizieren wie nötig, um Familie mit Kindern und Berufstätigkeit unter einen Hut zu bringen. Während der Vorbereitung auf ihre Habilitation kommt 1969 nämlich der zweite Sohn Benjamin auf die Welt. Jutta stellt sich schon die Frage, wie sie das alles schaffen soll, die Forschungsgemeinschaft gewährt Mutterschutz und verlängert das Stipendium. Nach Abschluss gehört sie zu den zehn ersten habilitierten weiblichen Rechtswissenschaftlerinnen Deutschlands. 

1971 erhält sie einen Ruf an die Freie Universität in Berlin als Professorin für Bürgerliches Recht, Handels- und Wirtschaftsrecht und Rechtssoziologie. Damit ist die inzwischen 37jährige die erste Professorin der juristischen Fakultät dieser Hochschule, die sechste überhaupt im Land. Sie zieht also nach Berlin, während ihr Ehemann mit den Kindern in Bonn zurückbleibt. Das klassische Familienmodell kehren sie um: Nach seinen Bürostunden kümmert sich Peter Limbach um den Haushalt und die tagsüber im Kindergarten bzw. vom Kindermädchen betreuten Kinder. Jutta verbringt nur etwa jedes zweite, von Freitag bis Montag verlängerte Wochenende mit ihrer Familie. Eine solche Arbeitsteilung wäre selbst heute noch ungewöhnlich, in den Siebzigern ist das ein Novum.

Gedanken darüber, dass sie ihre Kinder verhältnismäßig selten sieht, macht sich Jutta Limbach immer wieder. Sie habe, sagt sie später einmal, ihren Kindern "eine eigenwillige, wechselvolle Lebensweise und mehr Selbstständigkeit als ihren Altersgenossen zugemutet". Ein Schaden sei das nicht gewesen, wird sie das in der Rückschau kommentieren.

Sie wolle sich nicht als feministisches Vorbild präsentieren, weil sie "mit geschlechtsspezifischen Widrigkeiten" nie zu kämpfen gehabt habe, wird sie auch sagen. Und Männer könnten alles, was Frauen können, ganz besonders im Umgang mit Kindern, ihr Mann Peter sei der beste Beweis. Ihr mittlerer Sohn Daniel äußert sich einmal zum Vorteil, mit einem Kindermädchen aufzuwachsen, so: 

"Die war Ansprechperson für die seelischen Nöte und dadurch, dass sie nur zehn oder 15 Jahre älter war als wir, war sie uns eigentlich auch wesentlich näher, meine Mutter war schon als Schülerin und Studentin sehr ehrgeizig und mit jemandem, was ja auch seelisch sein kann, über schulische Nöte zu reden, war dann mit jemandem wie den Kindermädchen, die nicht unbedingt immer die besten Schülerinnen waren, dann wesentlich angenehmer und verständnisvoller, so hat sich das aufgeteilt." ( Quelle hier ) 

Dem gesellschaftlichem Druck habe sie immer standgehalten, so der Sohn außerdem.

Universitätsprofessorin zu sein ist auch in den 1970er Jahren noch kein einfaches Geschäft. Jutta Limbach akzeptiert, dass Studierende Gegebenheiten nicht länger kritiklos hinnehmen und Reformen verlangen. Doch nie gibt sie sich als "Power-Frau", wirkt eher unscheinbar, auf Gruppenfotos ist sie meist die Kleinste, und wird daher anfangs von vielen unterschätzt. 

So ist man auch erstaunt, dass sie sich 1988 um die Präsidentschaft an der Freien Universität erwirbt und dabei kundtut, Mitglied der Sozialdemokratischen Partei zu sein. Mit der Präsidentschaft wird es nichts, aber als im Januar 1989 Walter Momper mit der Berliner SPD die Senatswahlen gewinnt, erinnert er sich an die Professorin und will sie unbedingt in seiner Regierung haben. Dieter Schröder, Politikwissenschasftler & Kollege an der FU, der ihr in ihrem Universitätsbüro das Angebot unterbreitet, wird um eine Bedenkpause gebeten.

Jutta hält also erst einmal Familienrat. "Mutter, für die Politik bist du viel zu moralisch", soll die 35jährige Anna Caroline, heute selber Richterin, gesagt haben, der Ehemann aber findet einen Perspektivwechsel vom Professoren- zum Senatorensessel gut: "Da seht ihr einmal, was für folgenlose Sachen ihr in eurer Wissenschaft immer macht." Schließlich kommt Jutta selbst zu dem Schluss: "Nun, meine Großmutter würde es wohl von mir erwarten."

Mompers Senat, Jutta Limbach ganz links vorn

Dem am 16. März 1989 vereidigten Senat, einer Koalitionsregierung aus SPD und "Alternative Liste", gehören fünf Männer und acht Frauen an – darunter Jutta Limbach als Justizsenatorin. Gleich nach ihrem Amtsantritt muss sie sich mit den Hungerstreiks von inhaftierten Terroristen der Roten Armee Fraktion auseinandersetzen. Durch ihre Haltung der Verständigungsbereitschaft – sie sieht das Problem mit frischen Augen, setzt auf Dialog und trifft zwei inhaftierte Frauen zum Gespräch – trägt sie maßgeblich zur Beilegung bei. "Ich finde, Politiker dürfen menschlich denken", findet sie und plädiert für eine partielle Zusammenlegung. Die Berliner CDU sieht sie daraufhin als "Sicherheitsrisiko".

Dass sie wenig später verantwortlich sein würde für die heiklen Ost-Prozesse, das kann damals noch niemand ahnen. Am Abend des 9. November 1989 sitzt sie in einer Veranstaltung mit europäischen Parlamentariern, als ein Saaldiener zu ihr tritt und flüstert: "Senatssondersitzung. Sofort!" Gegen 22 Uhr kommt sie ins Schöneberger Rathaus. Drei Stunden vorher hat Günter Schabowski in einer live übertragenen Pressekonferenz einen Beschluss des DDR-Ministerrats verlesen, die Grenzübergänge zu öffnen.

Bereits nach den Kommunalwahlen in der DDR am 6. Mai 1990 bilden Westberliner Senat und  Ostberliner Magistrat eine gemeinsame Stadtverwaltung. Jutta Limbach löst die Politische Abteilung der Berliner Staatsanwaltschaft auf und lässt alle Ostberliner Richter suspendieren und nur diejenigen wieder als Richter zu, die sich nicht von der Politik haben missbrauchen lassen. ( In den ostdeutschen Ländern bleiben die Richter nach der Wiedervereinigung bis zur Überprüfung ihrer Urteile im Amt. )

Nach den ersten Wahlen zum Gesamtberliner Abgeordnetenhaus am 2. Dezember 1990 muss Walter Momper aber schon wieder sein Amt an seinen Vorgänger Eberhard Diepgen abgeben, der Jutta Limbach als Justizsenatorin im neuen Senat, einer Großen Koalition, behält.

"Seit sie eine Person des öffentlichen Interesses ist, hat die Rechtsprofessorin ihre Umwelt immer wieder dadurch verblüfft, daß sie genauso ist, wie sie aussieht, aber entschieden anders, als man denkt," schreibt der "Spiegel" 1992 über sie.

Sie ist nun zuständig, die Strafverfolgung der früheren DDR-Staatsspitze wegen des Schießbefehls an der innerdeutschen Grenze zu beaufsichtigen, kritisiert die Freilassung von Erich Honecker 1993. Dabei lässt sie sich von der Auffassung leiten: "Wer wirklich zu dem Ergebnis kommt, was gestern Recht war, kann heute nicht Unrecht sein, müßte auch der Umkehrung dieser These zustimmen: Was gestern Unrecht war, muß auch heute Unrecht sein." Die Senatorin Limbach hat allerdings dem Gericht keine Vorschriften zu machen, die SPD-Politikerin Limbach kann sich jedoch eine eigene Meinung leisten. 

"Ich erinnere diese Zeit nach 1989 als eine Zeit, in der das, was ich als Privatperson dachte und fühlte, manchmal sehr wohl in Widerspruch zu dem stand, was ich als Justizsenatorin meinte für richtig halten und dann auch dementsprechend entscheiden zu sollen. Heute, in der Rückschau, würde ich nicht sagen, dass wir alles bestens gemacht haben. Was mich vor allem verwundert hat, und das ist ein Vorwurf, der sicherlich auch an mich selbst gerichtet ist: dass wir so unvorbereitet in diese Wiedervereinigung gegangen sind! " ( Bayrischer Rundfunk 2009 ) 

Obwohl sie damals bei zahlreichen Entscheidungen also in der Kritik gestanden hat und manches Mal aus allen Rohren auf sie geschossen worden ist, sind in der Rückschau alle, die damals mit ihr zu tun gehabt haben, auch die politischen Gegner in den Parteien und den Medien der Meinung, Jutta Limbach habe ihr Amt mit Bravour geführt. Sie hat zwar für Aufregung gesorgt und sich viele Gegner gemacht, aber irgendwann ist immer der Zeitpunkt gekommen, an dem ihr diese Gegner aus der Hand gefressen haben, so die "Süddeutsche Zeitung" am Ende ihrer Amtszeit in Berlin.

Als die Reihe an der SPD ist, einen frei werdenden Richterstuhl des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe zu besetzen, macht sich die Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Frauen dafür stark, eine Frau zu nominieren. Herta Däubler - Gmelin wird nominiert, nachdem Jutta ihr Interesse wohl allzu deutlich gemacht hat. Doch die ist der CDU nicht genehm, also zieht sie zurück und für Jutta Limbach ist der Weg frei in den Olymp der deutschen Justiz: Das Verfassungsgericht, oberstes juristisches Organ, welches über die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen und Urteilen wacht. Am 4. März 1994 wird sie einstimmig gewählt. Knapp sechzig Jahre ist sie da und siedelt wieder in eine neue Stadt, diesmal Karlsruhe. 

Als Roman Herzog zum Bundespräsidenten gewählt worden ist, rückt schon am 18. November des gleichen Jahres Jutta Limbach zur Präsidentin des Bundesverfassungsgerichtes auf. Jetzt bekleidet eine Frau das fünfthöchste Staatsamt der Bundesrepublik Deutschland. 

Jutta Limbachs Amtszeit steht zu Beginn unter keinem günstigen Stern. Das Gericht ist in die schwerste politische Krise seiner Geschichte geraten. Steine des Anstoßes sind vier Urteile des Ersten Senats gewesen, gegen die das konservative politische Lager im Land Sturm läuft: 

Einmal ist es der Beschluss der dritten Kammer des Ersten Senats vom 19. September 1994, der unter dem Schlagwort "Soldaten sind Mörder" durch die Medien gepeitscht wird. ( Ein entsprechender Aufkleber mit dem Tucholsky-Zitat gilt nach der Auffassung des Senats durch das Recht auf freie Meinungsäußerung gedeckt. ) Zum anderen geht es um die Frage, ob die Kruzifixe in bayrischen Klassenzimmern auf Verlangen von Schülern oder Eltern entfernt werden müssen.

Jutta Limbach erkennt, dass die Bevölkerung einen Anspruch auf einen Ansprechpartner im Bundesverfassungsgericht hat, der bei kontroversen Urteilen einen Dialog führen und Sachverhalte allgemeinverständlich erklären kann. Auf ihre Initiative hin stellt das Gericht ihre frühere Pressesprecherin Uta Fölster aus Berlin als Kontaktperson nach außen ein - heute eine Selbstverständlichkeit, damals eine kleine Revolution! Aber auch die Präsidentin selbst gilt als "eine Meisterin der öffentlichen Kommunikation", die stets ruhig und sachlich argumentiere, auch mal ironisch werden könne, und dort, wo Männer laut werden, nur eine Augenbraue hochziehe und damit mehr erreiche.

Auch ihr erster eigener Fall, das Verfahren über den Einsatz von Bundeswehrsoldaten im Ausland, einer der bedeutsamsten Entscheidungen in der Geschichte des Bundesverfassungsgerichts, bringt ihr wieder Lob wie Tadel ein. Auch den öffentlich ausgetragenen Krach zwischen dem Ersten und dem Zweiten Senat um die ärztliche Haftung für behinderte Kinder kann Jutta Limbach nicht verhindern. In der Folge schafft sie es aber wieder einmal, ein Klima der Versöhnung und des produktiven Miteinanders zu entwickeln.

Gegen Ende ihrer Amtszeit - mit 68 Jahren ist Schluss - veranstaltet Jutta Limbach ein "Bürgerfest" zum 50-jährigen Bestehen des Gerichts und diese Veranstaltung am 7. Juli 2001 ist für sie ein Erfolg, denn die Menschen kommen in Scharen und bezeugen damit den Bewusstseinswandel gegenüber dieser staatlichen Institution, die Jutta Limbach aus der Isolation der juristischen Expertendiskurse - "entgegen viel Etepetete aus unseren Kreisen ", so in der Gedenkrede nach ihrem Tod - in die Öffentlichkeit zu überführen vermocht hat. Es ist ihr Verdienst, dass heute das Karlsruher Gericht das höchste Vertrauen aller demokratischen Institutionen genießt. 

Auf Jutta Limbach wartet anschließend schon die nächste Aufgabe: als Präsidentin des Goethe-Instituts. Ab dem 21. Mai 2002 steht sie - wiederum als erste Frau - an der Spitze des bedeutendsten deutschen Kulturinstituts. Auch hier beweist sie, wie klug sie mit Öffentlichkeit umzugehen weiß. Aber sie arbeitet auch in diesem Ehrenamt noch mehr als zuvor als Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts. In knapp sechs Jahren besucht sie 51 Goethe-Institute in der ganzen Welt, immer mit ein, zwei Vorträgen im Gepäck, und es gelingt ihr zudem, die Talfahrt durch ständige Kürzungen der Bundeszuschüsse zu stoppen und die Einrichtung wieder in den Aufwind zu bringen. Bei ihrer Verabschiedung aus dem Amt 2008 sagt der damalige Außenminister Steinmeier: "Johann Wolfgang von Goethe hat durch Frau Limbach wieder Luft zum Atmen bekommen."

Von 2003 an ist sie überdies Vorsitzende der nach ihr benannten Kommission zur Rückgabe von Raubkunst aus der NS-Zeit vor allem aus jüdischem Besitz. Auch hier zeigt sie ihre beharrliche Führungsqualität: "Ein Bild lässt sich abhängen, Schuld nicht" sagt sie dazu in einem Interview 2014.

Doch wirklich in den Ruhestand  geht sie - ein echter Workaholic - auch nach ihrem Ausscheiden aus dem Goethe-Institut nicht. "Es müsste mir nur noch besser gelingen, Familie, Muße und Arbeit glücklich zu verbinden. Das alte Lied, die altbekannten Vorsätze, würde mein Mann sagen, denn das war zeitlebens mein höchstpersönliches Problem", formuliert sie es an dieser Stelle

Sie hat immer geschrieben. So hat sie als Vorsitzende des Deutschen Sprachrats in dessen Auftrag das Buch "Ausgewanderte Wörter" (2008) herausgegeben. Ihr letztes Buch "Wahre Hyänen" über ihre Urgroßmutter gelingt ihr noch zu vollenden, da ist sie schon sehr krank. Am 10. September 2016 erliegt Jutta Limbach 82jährig im Kreise ihrer Familie in Berlin ihrem Krebsleiden. Sie wird auf dem Waldfriedhof Zehlendorf bestattet.

"Ich bin eine heitere Frau, aber Zorn ist mir nicht fremd", hat sie einmal über sich selbst gesagt. Und: "Bei mir sind Zorn und Willensstärke eins." Was sie damit erreicht hat, hat mich bei der Recherche und beim Schreiben sehr beeindruckt, obwohl es doch in einer Zeit geschah, in der ich das alles mitverfolgen konnte.




10 Kommentare:

  1. Vor allem ihren letzen Aussrpch, mit dem Du dieses wieder einmal beeindruckende Portrai beschließt, mag ich sehr! Heiter sein, aber trotzdem Zorn kennen. Die Befremdlilchkeiten, das eine Frau in den 70ern arbeiten geht, kenne ich durch meine Mutter auch. Gerade auf dem Land. (Ich war ein sogenanntes Schlüsselkind* und fand das ganz toll, meine Lehrerin schaute aber ganz anders. Mal eine Stunde ganz allein daheim...:) Das Spagat, dass meine Mutter da geschafft hat, verdient noch heute meine Hochachtung)
    Eine schöne Woche Euch und liebe Grüsse
    Nina

    AntwortenLöschen
  2. Ein Vorteil von Jutta Limbachs war, dass sie oft unterschätzt wurde. So brav und bieder wie sie aussah, wurde sie nicht so gefürchtet von Männerseite.
    Dass sie eine blitzgescheite und ergeizige Frau war, die ihre Chancen ergriff, war unser aller Glück. Die Zeit, die sie als Politikerin und Verfassungsrichterin arbeitete war ja eine höchst schwierige Zeit für unsere Demokratie, ähnlich der jetzigen. Sie hat es geschafft durch "heiteren Zorn" Vieles auf den richtigen Weg zu bringen.
    Eine ganz besondere Frau mit einer ganz besonderen Frauen-Biografie von der Urgroßmutter bis hin zu ihr selbst.
    Danke fürs Vorstellen dieser tollen Frau sagt Sieglinde

    AntwortenLöschen
  3. Ihr Name ist mir noch geläufig, die spannende Geschichte, die damit verbunden ist, kannte ich jedoch nicht. Bewundernswert wie die ganze Familie (da zähle ich sie natürlich dazu) das gemeinsam gestemmt hat.
    Liebe Grüße
    Andrea

    AntwortenLöschen
  4. von Helga:

    Liebe Astrid,

    tolles Portrait wieder von Dir. Ich bin ja nicht so die, die damit viel anfangen kann, aber meine Schwiegertochter als zweite Bürgermeisterin (SPD) freut sich darüber zu hören.Als 1970 Geborene und in früher Jugend schon in der Juso tätig, wird es sie sehr interessieren.

    Liebe Grüße in den Tag von Helga

    AntwortenLöschen
  5. werde erst nächste woche lesen... schnell nur... wir sind brillenschwestern...! liebe grüsse

    AntwortenLöschen
  6. Ein bewegtes und intensives Leben,mit drei Kindern eine tolle Leistung.Frauen in der Politik und Öffentlichkeit werden noch mehr beäugt,als ihre männlichen Artgenossen.Wie ich oft finde haben Frauen ein größeres diplomatisches Geschick.
    Viele Grüße, Karen

    AntwortenLöschen
  7. welch eine Biographie ! liebe Astrid...
    hochinteressant zu lesen!
    Gerade vorher hatte ich die Gelegenheit/ und das Bedürfnis) mich dazu zu äußern was lange Textpassagen wie Biographien und Lebensläufe angeht und hörte dass viele Leser/innen solche eher meiden würden, weil es so anstrengend sei dies am PC statt in einem gebundenen Buch zu tun.
    Dein Blog sticht aus den üblichen Blogs stark hervor weil du nicht nur Wissen und Bildung vermittelst sondern weil man spürt welche Herzensangelegenheit dir dies ist.
    Bewundernswert dass dein Interesse daran nie erlahmt und die Biographien deiner so überaus interessanten Frauenlebensläufe möchte ich nicht einen Tag missen müssen.
    Dieses Leben einer ganz besonderen Frau in vielerlei Hinsicht - war wieder einmal herausragend interessant verfolgen zu dürfen, dafür herzlichen Dank....
    angelface

    AntwortenLöschen
  8. wirklich eine beeindruckende Frau
    sehr geprägt durch das Elterhaus geht sie beharrlich ihnen Weg
    präsent und unaufgeregt
    sie hat viel bewirkt und bewegt
    ein großartiges Portrait

    liebe Grüße
    Rosi

    AntwortenLöschen
  9. Eine Geschlechtsgenossin, die mir imponiert, die so unverrückbar wusste was sie wollte und es mit Kraft, Ausdauer und Esprit umsetzte. Es waren ja keine leichten Zeiten. Wir wissen es... Das Sich-Durchsetzen für die Frau verlangte noch wirklich die Energie, das berufliche wie private im Plan zu vervollständigen.

    Ein wundervolles Porträt, das mir - wie die vielen anderen - wieder gut gefällt. Chapeau, Astrid!

    Frühlingsfrohe Grüße von Heidrun

    AntwortenLöschen
  10. Da hast du wieder eine gute Wahl getroffen. Sie war eine sehr kluge und besonnene Frau. Mein Mann und der älteste Sohn hatten beruflich mit ihr zu tun und waren von ihrer humorvollen Sachlichkeit und großen Kompetenz beeindruckt.
    LG
    Magdalena

    AntwortenLöschen

Danke, dass du dir für ein paar liebe Worte Zeit nimmst! Ich setze allerdings voraus, dass am Ende eines anonymen - also von jemandem ohne Google- Account geposteten - Kommentars ein Name steht. Gehässige, beleidigende, verleumderische bzw. vom Thema abweichende Kommentare werde ich nicht veröffentlichen.

Mit dem Abschicken deines Kommentars akzeptierst du, dass dieser und die personenbezogenen Daten, die mit ihm verbunden sind (z.B. User- oder Klarname, verknüpftes Profil auf Google/ Wordpress) an Google-Server übermittelt werden. Mehr Informationen dazu erhältst du in meiner Datenschutzerklärung und in der Datenschutzerklärung von Google.