Donnerstag, 13. Februar 2020

Great Women # 210: Dacia Maraini

Erst nachdem ich einen Plan - bzw. noch arbeitsaufwändiger: die Collage der nächsten vierundzwanzig "Great Women" - gemacht hatte, fiel mir auf, dass ich im Februar nur Schriftstellerinnen präsentieren werde. Und die heutige begeht in diesem Monat noch nicht einmal einen besonderen Jahrestag. Der einzige Grund für mich war ein Buch, eines meiner liebsten Bücher im historischen Gewand: "Die stumme Herzogin" von Dacia Maraini. Heute mache ich also diese italienische Autorin etwas bekannter, denn es gab mal eine Zeit nach dem Krieg, da hat Italien im Chor der europäischen Kulturschaffenden eine sehr viel prägnantere, bedeutendere Stimme gehabt, als es heute der Fall ist.

"Um sich zu erinnern, 
ist es nötig, die eigene Vergangenheit zu lieben
 und daher auch sich selbst. 
Aber die Frauen wollen lieber sterben
 als sich selbst gegenüber
 Nachsicht und Weichheit zu zeigen."


Topazia Alliata: Selbstporträt
(1933)
Dacia Maraini kommt am 13. November 1936 in Fiesole in der Region Toskana zur Welt. Sie ist die erste Tochter der sizilianischen Prinzessin Topazia Alliata, einer Malerin, und des Anthropologen & Ethnologen Fosco Maraini. Beide Eltern kommen aus spektakulären Verhältnissen: Topazia ist die Tochter des Herzogs von Salaparuta, Enrico Alliata, und der chilenischen Opernsängerin Sonia Ortúzar Ovalle de Olivares, Fosco Sohn der englischen Schriftstellerin Yoï Crosse, deren Geschichte schon alleine wert wäre, sie hier zu erzählen, und des Bildhauers & Kunstkritikers aus dem alpinen Tessin, Antonio Maraini. Welch kulturell vielfältiger Hintergrund!
Topazia Alliata: Fosco Maraini
(1933)
Obwohl Foscos Vater ein begeisterter Anhänger Mussolinis ist, kann sich sein Sohn für den Faschismus so gar nicht begeistern und entflieht dem Aufruhr der Massen, dem Gedröhne und Geplärre der Militaristen und Nationalisten in und um Florenz in die Ost- und Westalpen zum Klettern. In seinem Tourenbuch von 1929 bis 1937 sind schwierige Wände und anspruchsvolle Gipfel verzeichnet.           

Die Dame seines Herzens will er nur wegen der Melodie ihres Namens gewählt haben. Deren alte Adelsfamilie ist über diese Liaison auch nicht gerade begeistert. Und noch weniger von der gezeichneten Hochzeitskarte 1935, die das Brautpaar mit entblößter Rückseite an einem einsamen Strand zeigt.
                
Ein Jahr nach Dacias Geburt, als er sein Studium abgeschlossen hat, begleitet der junge Vater den Tibetologen Giuseppe Tucci 1937 auf eine Expedition nach Tibet. 1938 nimmt Fosco einen Lehrauftrag in Kansai und danach in Kyoto in Japan an,  seine kleine Familie kommt bald nach, und so nutzen sie, die Antifaschisten, die Gelegenheit, ein "Europa betrunken von Rassismus" zu verlassen, so Dacia später im Film ihrer Nichte Mujah Maraini-Melehi. 

Die Eltern Topazia & Fosco 
Die zahlreichen Fotografien des Vaters und die Tagebucheinträge der Mutter erwecken den Eindruck eines angenehmen, idyllischen Lebens. Dacia erinnert sich später an die Wärme in ihrer liebevollen Familie - die Schwestern Yuki und Toni gehören seit 1939 bzw. 1941 dazu -, daran, dass sie als Kind Japanisch fließend und "besser als Italienisch" gesprochen, ein japanisches Kindermädchen & japanische Freunde gehabt und eine japanische Schule besucht hat,  japanisch gegessen und japanisch gekleidet gewesen ist. Außerdem ist ihr die Schönheit der Landschaft, besonders im Winter, im Gedächtnis geblieben, als ihre Mutter sie auf dem Schlitten in den Kindergarten gebracht hat.

Der Vater ist verantwortlich für die Erforschung einer Bevölkerungsgruppe im Norden Japans , der Ainu, ihrer traditionellen Kunst und Religion und veröffentlicht seine Ergebnisse 1942 in Tokio. Deshalb lebt die Familie Maraini auf der Insel Hokkaido in einem kleinen Holzhaus in Sapporo - bis 1943, als japanische Beamte in ihrem Haus auftauchen und die Eltern auffordern, Papiere zu unterschreiben, in denen sie ihre Treue zur neu eingesetzten Republik Salò erklären sollen, jenem von Mussolini angeführten und von Nazideutschland kontrollierten Marionettenstaat auf italienischem Boden.

In Sapporo
Sowohl Fosco als auch Topazia weigern sich & gelten nun als Verräter. Kurz darauf wird die Familie, einschließlich der Kinder, in ein japanisches Konzentrationslager gebracht, wo sie bis Kriegsende bleiben müssen. Ab da sind sie Hunger, Kälte, Folter und täglichen Demütigungen ausgesetzt, und der Vater muss Zwangsarbeit verrichten. Ihre Mutter Topazia hält die erniedrigenden Zustände im Lager in einem Tagebuch fest und beschreibt die Schwierigkeit, unter diesen Umständen ihre drei Töchter am Leben zu erhalten.
"Es war eine traumatische Erfahrung. Ich erinnere mich, wie ich mich wunderte, dass ich jeden Abend noch am Leben war. Ich spürte die Beleidigungen und den Hunger der Polizei. Ich habe mich vergiftet, indem ich Ameisen gegessen habe. Hin und wieder schlich ich mich an dem Stacheldraht vorbei und sammelte die Blätter der Seidenraupenbäume, um mich zu ernähren", so Dacia, die zu diesem Zeitpunkt knapp sieben Jahre alt ist. 
Erst als Fosco Maraini, von einem Wärter beleidigt, sich in perfekter Samurai-Tradition mit einem Beil das oberste Glied des linken kleinen Fingers abhackt und es ihm gegen die Brust wirft, um zu zeigen, dass er keine Angst hat, ändert sich etwas. Zwar wird der Vater von kaiserlichen Militärkräften erst einmal geschlagen und in eine Zelle geworfen, aber nach ein paar Tagen frei gelassen. Die Geste, ein wichtiges Ritual in der japanischen Kultur, ausgeführt durch einen Mann aus dem Westen, bewirkt, dass die Familie Maraini mit mehr Respekt behandelt wird.

Die Schwestern Maraini in Tokio
Als der Krieg mit der Niederlage Japans endet, bringen Amerikaner die Familie in das dem Erdboden gleichgemachte Tokio. Es dauert ein halbes Jahr, bis sie mit dem Schiff nach Italien zurückkehren können.

Die Familie findet Aufnahme in dem in Bagheria gelegenen "Landhaus" der Alliata, der Villa Valguarnera, damals eher einer Ruine ähnlich.

Hunger und Armut verfolgen sie auch dort, denn Großvater Enrico Alliata, der Herzog von Salaparuta, ein außergewöhnlicher Mensch, Feind aller Vorurteile, Anthroposoph, Vegetarier, Anhänger  von Freikörperkultur und Theosophie des Krishnamurti, aber wenig lebenstüchtig, hat die Familie wirtschaftlich ruiniert.

Dacias Vater arbeitet als Fotograf, und Mutter Topazia engagiert sich zunächst in der "Casa Vinicola Duca di Salaparuta", dem Weingut der Familie. Dacia selbst besucht ab 1947 drei Jahre lang das "Collegio Santissima Annunziata", das erste Internat für Mädchen in Florenz, bevor sie wieder in die beengten Lebensverhältnisse auf dem verfallenden Adelssitz - eine Tante gesteht ihnen nur zwei Räume im Schloss zu - und die der sizilianischen Traditionen zurückkehren muss:
"Die Lebensjahre von 10 bis 18 waren reine Jahre des Überlebens. Wir waren arm, die Gesellschaft eine geschlossene, ich war eine Gefangene in dieser repressiven Mentalität, die nicht nur katholisch war, sondern auch arabisch geprägt. Ich erinnere mich, das eine Schulkameradin in Sizilien jeden Tag von ihrem Vater nachmittags ans Bett gekettet wurde. Das wurde als normal angesehen. Zu Hause war ich frei, aber nicht in der mich umgebenden Gesellschaft. Wenn ich allein das Haus verließ, blickten die Leute hinter ihren geschlossenen Fensterläden auf mich herab und verurteilten mich als Hure." ( Quelle hier )
Während dieser jungen Jahre beginnt Dacia zu schreiben.

Fosco Maraini & Topazia Alliata mit ihren drei Töchtern
Ihr Vater entflieht den sizilianischen Zuständen, indem er einige Male nach Japan zurückkehrt, was einer der Gründe für die Trennung der Eltern ist, die 1955 endgültig vollzogen wird. Er geht nach Rom zurück, um Orientalistik zu studieren.

Dacia bleibt zunächst bei ihrer Mutter in Palermo, um mit ihren beiden Schwestern die Schule zu beenden. Doch sie leidet sehr unter der Trennung vom Vater, zu dem sie eine sehr enge Bindung hat ( ihre ersten Gedichte widmet sie ihm ). Mit 18 Jahren entscheidet sie sich, zu ihm in seine elende Wohnung auf der Piazza Bologna zu ziehen.

Da der Vater noch nicht wieder einen Lehrstuhl in seinem Fach hat und als freier Autor vom Schreiben von Büchern lebt, fängt Dacia an als Sekretärin das erste Geld zu verdienen und schließlich als Hostess bei PanAm zu arbeiten. 1956 bekommt sie Kontakt zu italienischen Literaturkreisen, als sie die Zeitschrift "Tempo di letteratura" in Neapel mitbegründet.

1959 heiratet sie Lucio Pozzi, einen Maler und Konzeptkünstler in ihrem Alter. Die Ehe wird nur vier Jahre dauern. Dacia ist schwanger, als Lucio sich entschließt zu gehen. Sie verliert ihren Sohn im siebten Monat, und ihre Welt bricht erst einmal zusammen.
"Eine große Leere entsteht. Ich dachte, ich hätte keinen Sinn mehr im Leben. Ich fühlte mich nutzlos. Ich bin morgens aufgewacht in der Hoffnung, dass es schon Nacht war. Es war schwer, sich zu erholen. Ich fing an, alleine zu leben und zu schreiben. Ich schrieb meinen Debütroman und brachte ihn zum Verleger Lerici. Er sagte zu mir: 'Mein Kind, wenn du willst, dass ich es veröffentliche, musst du das Vorwort eines großen Schriftstellers haben.' Eines Tages wurde mir in einer Bar Alberto Moravia vorgestellt. Ich erinnerte mich an Lericis Bitte. Ich fragte ihn schüchtern, ob er mein Manuskript lesen wolle. Er mochte es. Von da an begann unsere lange Geschichte der Zärtlichkeit und Liebe".
( Über die schmerzhafte Erfahrung der Totgeburt wird sie allerdings erst 1996 ein Buch - "Un clandestino a bordo" - veröffentlichen. )


Dacias Hinwendung zur Literatur ist kein Zufall, denn sie kommt ja aus einem entsprechenden Milieu: Ihre Großmutter Yoï Crosse hat Reisebücher, ihr Großvater Enrico Alliata Philosophie-Bücher und Abhandlungen über die vegetarische Kultur, der Vater ethnologische Berichte und ein Onkel, Mann ihrer Tante mütterlicherseits, Gianni Guaita, Romane und Theaterstücke geschrieben und ihre jüngere Schwester Toni verfasst Erzählungen und Gedichte. Dacias erstes Buch "La vacanza, das sie bereits im Alter von 16 Jahren verfasst hat und die sexuelle Suche einer jungen Frau und die Leere der italienischen bürgerlichen Gesellschaft während des Krieges beschreibt, kommt also 1962 heraus ( auf Deutsch "Tage im August" erst 2003 ).

Für ihr zweites Buch "L'età del malessere" ( dt. "Zeit des Unbehagens", 1963 ) erhält sie dann gleich den angesehenen Literaturpreis "Formentor". Die Tatsache, dass Alberto Moravia in der Jury sitzt, mit dem Dacia wenig später eine Beziehung eingehen wird, ruft die Kritiker auf den Plan und die veröffentlichen wütende Kommentare und sprechen von unzulässiger Protektion. "An das Talent der Dacia Maraini glaubt heute nur noch der 56jährige Moravia, der inzwischen mit der anmutigen 27 jährigen am Tiberufer Wohnung und Leben teilt", hat Dieter Zimmer damals in der "Zeit" geschrieben.
Alberto Moravia, eigentlich Alberto Pincherle, 1907 in Rom in eine jüdisch-katholische Familie - der Vater ein venezianischer Jude, Architekt und Maler, die Mutter eine Katholikin aus Ancona - geboren, erkrankt als Kind an Knochentuberkulose und verbringt viel Zeit in Sanatorien, wo er zum Vielleser wird. Nach seiner Entlassung beginnt der 18jährige mit dem Schreiben seines ersten Romans "Gli indifferenti" ( dt. "Die Gleichgültigen" ), veröffentlicht 1929, und arbeitet anschließend als Auslandskorrespondent für italienische Tageszeitungen. 1936 lernt er die Schriftstellerin Elsa Morante kennen, die er fünf Jahre später heiratet. Da lebt er schon, durch das faschistischen Regime unter Benito Mussolini mit Schreibverbot belegt, auf Capri. Nach der Besetzung Italiens durch die Deutschen in Lebensgefahr, versteckt er sich in den Bergen und verfasst dort einen Roman, der nach dem Krieg veröffentlicht wird. "La Romana" wird vom Vatikan wegen Obszönität auf den Index gesetzt. Mit "La noia" ( dt. "Die Langeweile", 1960 ) hat der inzwischen preisgekrönte Autor noch einmal einen Welterfolg. Elsa Morante hat ihn schon verlassen, als er mit Dacia zusammenkommt.
Ab da wird die junge Schriftstellerin und ihre Beziehung kritisch von den Medien und der Literaturkritik beobachtet. Sie gilt halt als Protektionskind des "Amoralisten" Moravia und erregt fast automatisch Anstoß. Immer wieder ist sie auch aus anderen Gründen Anfeindungen ausgesetzt, so beispielsweise als ihr Gedichtband "Crudèlta all`aria aperta" (1966), der lange erotische Passagen enthält, beschlagnahmt wird. Durch die Veröffentlichung zahlreicher weiterer Werke in den folgenden Jahren kann Dacia sich aber durchsetzen und einen eigenen Namen machen.

Zwischen Pasolini links und Moravia rechts
(1963)
Sie genießt die Zeiten in den 1960er Jahren, als sich die Schriftsteller & Künstler, darunter Italo Calvino, Pier Paolo Pasolini, Luchino Visconti und Federico Fellini, an ihnen genehmen Plätzen treffen, um zu diskutieren und sich auszutauschen, z.B. im "Caffè Rosati" in Rom oder "Le Giubbe Rosse" in Florenz oder in den billigen Restaurants "Gigetto" oder "La Campana", wo jeder auch noch selbst seine Rechnung bezahlt, denn reich ist damals noch keiner von ihnen. Allen gemeinsam ist auch der kritische Blick auf die italienische Gesellschaft.

Mit Moravia alleine kann Dacia wiederum stundenlang nebeneinander sitzen und lesen ohne zu sprechen. Und mit ihm und dem wichtigen Freund Pier Paolo Pasolini unternimmt sie große Reisen nach Afrika ( Senegal, Mali, Uganda, Kongo, Kenia, Elfenbeinküste ), nach Indien und dem Jemen: "Damals war Afrika noch elender als heute, aber in dieser Armut herrschte große Freiheit."  Außerdem haben sie ein gemeinsames Ferienhaus am Meer, in Sabaudia, der Retortenstadt des italienischen Faschismus. Zehn Jahre ist Pasolini "ein idealer Reisegefährte, unermüdlich, anspruchslos, bescheiden" bis zu seinem gewaltsamen Tod 1975.

Mit Pasolini verfasst sie auch das Drehbuch zu "Erotische Geschichten aus 1001 Nacht" in nur einer Nacht während eines Urlaubs in Sabaudia. In diesen Jahren beginnt Dacia auch mit ihrer Theaterarbeit: Zusammen mit Moravia und anderen Autoren hat sie schon 1966 das "Teatro del Porcospino" gegründet, das nur italienische Neuheiten präsentiert. 1973 initiiert sie das "Teatro della Maddalena",  ein reines Frauenensemble, das insgesamt dreißig Stücke spielen wird, darunter als prominenteste der von ihr verfasste "Dialogo di una prostituta con un suo cliente" (1978) und "Maria Stuarda" (1980), die auch internationale Erfolge sind. Mit diesem Ensemble zieht sie durch Dörfer und Städte, schreibt nicht nur die Stücke und führt Regie, sondern sie schneidert auch Kostüme, putzt und repariert, und stürzt sich in Schulden. Gespielt wird auf der Straße, in Schulen oder auf Märkten.
"Die Kluft zwischen Frauenherzen und roher Realität wiederholt sich poetisch in Dacia Marainis reichhaltiger Theaterproduktion, die sich in politischen, feministischen, historischen und sozialen Texten äußert, die nach Jahren überall vertreten, übersetzt und fortlaufend reproduziert werden", schreibt Michela Turra über die Theaterfrau Maraini hier, die beim Theater ihre Leidenschaft mit ihrer fröhlichen Ausdruckskraft kombiniert.
1972 hat sie "Memorie di una ladra"( "Erinnerung einer Diebin", auf Deutsch erst 1994 veröffentlicht ) herausgebracht, ein Roman, aus dem Monica Vitti im Jahr darauf einen ihrer erfolgreichen Filme macht: Darin wird die Odyssee der unkonventionellen Teresa erzählt, die ihr Überleben als Diebin und Tagelöhnerin in Rom sichert. Dacia hat sie im Frauengefängnis von Rom kennengelernt  und ihr eine Stimme verleihen wollen.

1980 entsteht das Drehbuch zu "Storia di Piera" in Zusammenarbeit mit der Schauspielerin Piera degli Esposti über deren intensive Jugend - ein Filmerfolg für Marco Ferreri mit Isabelle Huppert, Marcello Mastroianni und Hanna Schygulla, die bei den Filmfestspielen von Cannes 1983 als beste Schauspielerin ausgezeichnet wird.

Während der 1970er Jahre hat sich Dacia Maraini der italienischen Frauenbewegung angeschlossen, nachdem sie in den Staaten 1964 mit dem Feminismus in Kontakt gekommen ist. Sie wird Mitglied der "Rivolta femminile" & des "Movimento femminile romano", nimmt an Hausbesetzungen und Demonstrationen teil. Ihr Hauptanliegen ist & bleibt die Auseinandersetzung mit patriarchaler Gewalt, der Verformung der weiblichen Sexualität und Psyche durch die gesellschaftlichen Verhältnisse und die Suche nach Möglichkeiten, aus diesen Beschränkungen auszubrechen. Diese Phase findet besonders ihren Niederschlag im Roman "Donna in guerra" (1975).

Dacia Maraini spricht auch in den folgenden Jahren als erste Schriftstellerin Italiens Themen wie Vergewaltigung, Inzest, Prostitution, lesbische Liebe und häusliche Gewalt in ihren Werken an und stellt die Rolle der Frau in unterschiedlichen Lebensbereichen dar. Viele ihrer Bücher bis in die Mitte der 1980er Jahre werden aber erst gar nicht ins Deutsche übersetzt und bei uns veröffentlicht. Ihre Schilderungen von Erotik und Sexualität haben schon gleich bei ihrem ersten Buch zu Empörung geführt und Dacia insgesamt über die Jahre fünf Prozesse eingebracht. Beirren lässt sie sich von all den Attacken ihrer Kritiker aber nie.

Anfang der Achtziger Jahre geht auch die Beziehung zu Alberto Moravia zu Ende, der 1986 eine um 47 Jahre jüngere Spanierin heiratet. Nach seiner Meinung habe Dacia ihn verlassen, sie sieht das genau umgekehrt. Sie bleiben sich aber nach wie vor verbunden: 1986 bringt sie ein Buch über den mittlerweile 79jährigen heraus: "Il bambino Alberto" ( dt.: "Der Junge Alberto. Gespräche mit Alberto Moravia. Das Mädchen und der Träumer." )  Darin interviewt sie ihn zu seiner Kindheit und Jugend. Bis heute leitet sie das Moravia-Archiv in Rom, aber auch bis heute wird ihr immer das Etikett "Lebensgefährtin Moravias" angeheftet, bei allem, was sie schreibt oder was über sie geschrieben wird.

An den Tag, bevor er 1990 stirbt, erinnert sie sich gut: "Er war am Tag vor der Gehirnblutung zu mir gekommen und hatte mich gefragt, ob ich ihn nach Sabaudia begleite, um ein paar Schuhe zu holen, die er im Haus am Meer vergessen hatte. Er hatte sich freudig in einem frühlingsrosa Hemd präsentiert und sah jünger aus als je zuvor." Sie freut sich darauf, zumal sie "seine Begeisterung, die Fakten des Tages zu untersuchen" immer noch liebt.

1990 ist auch das Jahr, in dem sie "La lunga vita di Marianna Ucrìa" herausbringt, das zweite Buch überhaupt, das von ihr vier Jahre später auf Deutsch ( "Die stumme Herzogin" ) erscheint ( "Zug nach Helsinki" hat der auf Italien spezialisierte Rotbuch - Verlag schon 1985 publiziert ).

Filmstill
"La lunga vita di Marianna Ucrìa" greift das Schicksal einer ihrer Verwandten im Sizilien des 18. Jahrhunderts auf, die nach einer Vergewaltigung durch ihren Onkel im Kindesalter ihre Stimme verloren hat, als Dreizehnjährige mit ihm verheiratet wird und die sich nach seinem Tod mehr und mehr aus Abhängigkeiten befreit und ein eigenes Leben beginnt. Faszinierend ist, wie Dacia Maraini es literarisch löst, dass ihre stille, da stumme Beobachterin, die sich ja nicht austauschen kann und alles alleine in ihrem Inneren auskämpfen muss, "zu Wort kommen" lässt. Das Buch wird 1996 verfilmt und gilt der Autorin selbst als ihr größter Erfolg.
Im nächsten Buch - "Bagheria" ( dt.: "Bagheria. Eine Kindheit auf Sizilien" ) schildert Dacia die schwierige Rückkehr an den Ort ihrer Kindheit in Sizilien und verbindet die Erzählung über ihre Beziehungen zu den Familienmitgliedern mit der Reflexion der gesellschaftlichen Situation und den politischen Machenschaften der Mafia auf der Insel. "Die gesamte sizilianische Geschichte ist eine Geschichte der Niederlagen." ( Im Einakter "Ich heiße Antonino Calderone" wird sie 2016 das Thema wieder aufgreifen. )

Im Jahr 1994 folgt "Voci" ( dt. "Stimmen" ), laut "Spiegel""... ein Musterbeispiel sensibler Suche in den Abgründen verletzter Seelen." Das Buch gilt als Krimi mit literarischem Anspruch, der in Deutschland und anderen Ländern einen großen Leserkreis findet. Der WDR gestaltet eine Hörpielversion, ebenso gibt es ein Hörbuch.

Aber erst Dacias übernächster Roman "Buio" über Gewaltverbrechen an Kindern ("Kinder der Dunkelheit", 1999 ) ist wieder in einer deutschen Übersetzung erhältlich. Es sind ungeheuer produktive Jahre, diese letzen beiden Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts, denn es entstehen neben den Romanen, Erzählungen, Lyrik, Kinderbücher und Theaterstücke. Dacias Leben pendelt zwischen fiebriger Aktivität und Phasen absoluter Zurückgezogenheit, in denen sie zum Schreiben kommt.

Mit Guiseppe Moretti
Auch eine neue Liebe hat seit 1996 wieder einen Platz in ihrem Leben: Giuseppe Moretti, Schauspieler, Regisseur und Komponist mit Leidenschaft für Poesie und Musik. Mit dem 25 Jahre Jüngeren unternimmt sie wieder Reisen nach Südafrika, Kenia, Argentinien, Brasilien, Uruguay, Mexiko und die USA, bis er an Leukämie erkrankt und nach zwei Jahren 2008 im Alter von 47 Jahren stirbt.

Mit der Figur des "Träumers" Nani Sapienza schafft sie in ihrem Buch "La bambina e il sognatore" ( dt.: "Das Mädchen und der Träumer" ) von 2015 eine liebevolle und liebenswürdige Männerfigur, zu der sie Moretti inspiriert haben könnte. Man meint, Gesprächsfetzen aus den zwölf gemeinsamen Jahren, Seite an Seite, zu vernehmen. Es steckt aber auch ein bisschen Dacia Maraini in der männlichen Hauptperson, die die Kraft hat, eine schwierige Situation zum Positiven zu wenden. Tiefe Melancholie schwingt mit, wenn es um Nanis Verlust der eigenen Tochter geht, die ebenfalls an Leukämie gestorben ist.

Sie habe in diesem Buch aber besonders die Labyrinthe der männlichen Psychen sondieren wollen, sagt die Autorin, denn es geht auch um den Entführer eines 8jährigen Mädchens, das über zwei Jahre lang verschwunden bleibt. Die Polizei, die Eltern geben auf, nur der Lehrer Nani nicht. Aus ihrer Zusammenarbeit mit Amnesty International weiß Dacia, dass "verschwundene Kinder" im Sumpf des Kinder- bzw. Menschenhandels landen.

So ganz nebenbei ist auch von der Verfinsterung Europas in jenen Jahren die Rede, fragt sie sich, wohin unsere immer mehr fragmentierte Gesellschaft steuert, denn Dacia ist, wie alle Literaten ihrer Generation, eine, die sich als Intellektuelle nicht im "Elfenbeinturm" verschanzt. Aber anders als sonst, schreibt sie mehrere Jahre an diesem Buch. Und - das ist neu für Dacia Maraini - es hat ein Happy End.



Politisch aktiv ist sie auch noch in den beiden Dekaden des 21. Jahrhunderts: So schließt sie sich 2011 den Protesten der Frauen gegen Berlusconi und sein seit Jahren frauenverachtendes Bild in den Medien und in der Politik an. Sie protestiert auch gegen die schlechten Chancen auf dem Arbeitsmarkt, die mangelnde finanzielle und politische Unterstützung ( der Frauenanteil im italienischen Parlament inzwischen allerdings größer als bei uns ), sie protestiert gegen die Diskriminierungen auf dem Arbeitsmarkt sowie den Mangel an Kinderbetreuungsmöglichkeiten.

Sie nutzt dafür auch die Möglichkeiten ihrer Kolumne im Mailänder "Corriere della Siera". Der damalige Kardinal Joseph Ratzinger & sein Frauenbild kriegt sein Fett weg, der globale Markt der Prostitution, der Umgang der EU mit den Flüchtenden aus Afrika:
Der Westen "hat Afrika ausgeraubt. Belgier, Franzosen und Briten (... ) plünderten Ressourcen. Und unterstützten die Diktatoren, die ihnen erlaubten, Geschäfte zu machen. Jetzt kommen die Afrikaner mit den Booten zu uns und als Laie sage ich, dass eine christliche Begrüßung sofort notwendig ist", sagt sie.
Eine Auswahl von Artikeln, die sich explizit mit dem Thema "Frauen" beschäftigen, sind in ihrem Buch "I Giorni di Antigone"von 2007 abgedruckt.

2017 kommt ihr bisher letztes Buch - "Tre donne" ( dt. "Drei Frauen. Eine Geschichte von Liebe und Mangel an Liebe" ) heraus.

Der Roman unterstreicht die Freiheit, in jedem Lebensalter zu lieben, durch die Geschichte dreier Protagonistinnen aus unterschiedlichen Generationen, die im selben Haus leben: Da ist die 60-jährige Geusina, die früher Schauspielerin gewesen ist, ihre Tochter Maria, eine vierzigjährige intellektuelle, professionelle Übersetzerin, die an Flauberts Roman "Madame Bovary" arbeitet, und Lori, ein trotzig - rotziger Teenager, Tochter Marias. Das Buch sei "ganz auf der Höhe ihrer künstlerischen Glanzleistungen aus jüngeren Jahren", schreibt Gerhard Beckmann hier.

Dacia Maraini gehört zu den wichtigsten Intellektuellen Italiens, wird seit Jahren für den Nobelpreis gehandelt, ist aber auch so schon vielfältig gewürdigt worden: Premio Fregene (1985), Premio Campiello (1990), Premio Strega (1999) und Premio Benedetto Croce, Ehrendoktorin der Universität Middlebury, des Colleges von Vermont und der Università degli Studi di Foggia. Seit 2011 ist sie Ehrenbürgerin der Stadt Marsi und 2013 Ehrenbürgerin von Pescasseroli, ihrem Wohnort in den Abbruzzen ( Provinz L’Aquila ). Dort hat sie ein Festival ( "Pesscasseroli liest" ) ins Leben gerufen, bei dem im Hochsommer auf dem quadratischen Platz im Zentrum tagelang aus den in den Vorjahren erschienen  Büchern vorgelesen wird.

Manchmal wird Dacia Maraini als "die zornige Frau der italienischen Literatur" bezeichnet, gilt sie doch seit einem halben Jahrhundert als das unüberhörbar "weibliche", aufgeklärte "Gewissen" der italienischen Gesellschaft. Aber wer sie erlebt, merkt alsbald, dass sie keine eifernde Predigerin ist, sondern eine "Femme de Lettres", die ihre Standpunkte besonnen & unaufgeregt und mit viel Geduld vorbringt, immer mit einem großen Maß an feministischer Haltung & einem Schuss undogmatischer, linker Überzeugung, authentisch, zugänglich, verantwortungsbewusst.




10 Kommentare:

  1. Liebe Astrid, tolles Portrait! Ich kannte den Namen und fragte, als ich familiär bedingt mehrfach in der Toskana war. Leider dort ohne große Resonanz. Wunderbar finde ich das große Fotos von ihr und habe voller Erstaunen wieder einmal festgestellt, dass viele ältere Damen in Italien diese Wirkung eines älteren Gesichtes haben.Herzlich, Sunni

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  2. Was für eine beeindruckende Schriftstellerin mit einem wahrhaft turbulenten Hintergrund von Anfang an! Und stets steht die Frau in ihrer Literatur im Vordergrund. Ich sollte mal eines ihrer Bücher auf meine Liste setzen.
    Liebe Grüße
    Andrea

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  3. Eine großartige Schriftstellerin! Danke für das Portrait. Jaja, ich müsste sie mal wieder lesen. Ein Schiff nach Kobe, das japanische Tagebuch ihrer Mutter, mag ich sehr. Was ein Leben. Liebe Grüße, Eva

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  4. Hallo liebe Astrid,
    soviel Mühe hast du dir gemacht und ich kannte sie nicht. Sehr beeindruckend und auch so toll geschrieben.

    Ich wünsche dir einen schönen Abend.
    Liebe Grüße Eva

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  5. Liebe Astrid, vielen Dank für die tollen Berichte über bemerkenswerte Frauen. Du kannst das so gut erzählen, das ich jedesmal voll in die Geschichte eintauche und ich das Gefühl habe ich bin mitten drin. Danke dafür.
    Eine sehr starke Frau.
    Lieben Gruß Sylvia

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  6. von Helga:

    Liebe Astrid,

    da sah ich doch heute Deine Grand Dame der ital. Literatur und war gerade im Aufbruch zum Stadtteilbuchlädchen um meine Bestellung abzuholen. Das Mädchen und der Träumer hab ich gleich bestellt und freue mich es bald lesen zu können. Von dieser großartigen Frau hatte ich noch nie etwas gehört, das hat sich aber nun geändert. Danke für diese Vorstellung und den Mühen die damit verbunden sind. Grüße von Helga

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  7. Liebe Astrid, ein Kniefall vor diesem Porträt. Ich liebe Dacia Maraini - sie steht selbstredend gelesen in meinem Bücherschrank - zwischen Lugi Malerba und Daphne de Maurir. Vieles aus ihrer Biografie wusste ich nicht und danke dir für deine so sauber recherchierten Informationen.
    Schöne Zeit und liebste Grüße
    Elisabeth

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  8. mal wieder habe ich dein portrait atemlos durchgelesen und werde sicher nochmal an einige stellen zurückkehren. ich kannte dacia maraini gar nicht - nur an den film "geschichte der piera" kann ich mich noch schwach erinnern. ich bin jetzt gespannt, ob meine gut sortierte stadtbibliothek etwas von ihr beherbergt!
    liebe grüße
    mano

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  9. Moravia und Pasolini sind mir bekannte Namen aus dem elterlichen Bücherschrank, Dacia Maraini (noch gar) nicht. Wird sich ändern, habe sogleich Die stumme Herzogin bestellt. Ein wieder so tiefgründiges Porträt, mit Geschichtsunterricht. Was für eine aktive und gesellschaftskritische Frau, ich hab sie durch dein Porträt sofort ins Herz geschlossen. Lieben Gruß Ghislana (Hab mir heute vorgenommen, über den Tag die auf mich noch wartenden ungelesenen Porträts deiner Reihe in den vergangenen Jahren nachzulesen)

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  10. Sehr beeindruckend.
    Waren die Leute früher aus anderem Holz geschnitzt?
    Bei den jüngeren Generation ist so viel "mimimimimi" - wobei für mich die jüngeren Generationen ab Geburtsjahr in den 60ern anfangen. Ich zähle mich also selber auch dazu...

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Danke, dass du dir für ein paar liebe Worte Zeit nimmst!

Ich wünsche mir allerdings nach wie vor, dass ein Name am Ende des Kommentars steht.
Da die anonymen namenlosen Kommentare zuletzt wieder zugenommen haben, hier der ausdrückliche Hinweis:

Ich werde sie ab jetzt wieder konsequent NICHT freischalten.

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