Donnerstag, 6. Februar 2020

Great Women # 209: Benoîte Groult

Als ich bei Antonia Baum, ungefähr so alt wie meine Tochter, gelesen habe, wie sie bei ihrer Mutter eine Ausgabe von Benoîte Groults "Salz auf unserer Haut" entdeckt hatte und schockiert war über das Cover und darüber, dass ihre Mutter etwas derartig Obszönes las, war ich prompt in meine besten Jahre zurückversetzt und erinnerte mich an die heißen, von Grillenzirpen erfüllte Provence- Nächte, als ich dieses Buch verschlungen und am Ende auch zu Tränen gerührt war. Da Benoîte Groult vor sechs Tagen ihren hundertsten Geburtstag hatte, fand ich es an der Zeit, an sie zu erinnern.

"Die Frauen waren gerade dabei, 
die Startrampe zu erklimmen,
als ein großes Unglück sie ereilte:
Freud."

"Ich habe eher das Gefühl, 
dass ich viel großzügiger
 mit den anderen geworden bin, 
seit ich mich selbst mag, wie ich bin. "

Benoîte Marie Rose-Nicole Groult wird am 31. Januar 1920 als Tochter der in Frankreich bekannten Modedesignerin Nicole Poiret und des Innenarchitekten André Groult in die gehobene Pariser Mittelschicht geboren. Die Mutter ist die jüngste von drei Schwestern des berühmten Modeschöpfers Paul Poiret, befreundet mit vielen Künstlern und eine Größe im Pariser Künstlermilieu, in der sie selbst auch als Stylistin und Kostümbildnerin des französischen Theaters tätig ist. Mit zwanzig Jahren hat sie André Groult geheiratet, der alsbald als ein führender Designer des Art déco gelten wird. 

Angeblich wird diese Ehe sehr spät vollzogen, denn Nicoles Mutter hat der Tochter gegenüber die männliche Sexualität so dämonisiert, dass diese daran kein Interesse hat. So kommt es, dass ihre erste gemeinsame Tochter Benoîte erst dreizehn Jahre nach der Eheschließung zur Welt kommt. Eigentlich sollte sie auch ein Sohn sein, so der Wunsch der Eltern, und der ausgewählte Name Benoît ( Benedikt ) wird also zur Benoîte...

Marie Laurencin "Femmes à la Colombe"
( Marie Laurencin & Nicole Groult, 1919 )
"Du bist der Vater", erklärt Nicole damals allerdings ihrer Freundin, der Malerin Marie Laurencin, mit der sie im Paris der Belle Époque eine ungewöhnliche Liebesgeschichte verbindet. Als sie sich 1911 im "Salon des Indépendants"  kennenlernen, ist Marie die Geliebte des Dichters Guillaume Apollinaire, den sie im Jahr darauf aber verlässt. Marie Laurencin hat bereits früher Beziehungen zu Frauen gehabt, die für sie gedeihlicher gewesen sind als die zum Dichterfürsten, und auch die mit Nicole scheint sie offen zu leben, aber sie sind beide dennoch Frauen, denen sozialer Status, vom Familienstand abhängig, wichtig ist. So heiratet Marie 1913 einen deutschen Baron, Otto Christian Heinrich von Wätjen, und das Paar wird zur Zeit des Ersten Weltkriegs ins Exil gezwungen. Mit Nicole bleibt nur eine feurige Korrespondenz.

Als Benoîte mit ihrer vier Jahre jüngeren Schwester Flora im 7. Arrondissement von Paris ( dem mit dem Eiffelturm ) aufwächst, hat die Mutter schon längst einen eigenen Couture-Salon, den sie mit großem Erfolg führt. In ihrer Wohnung gehen Künstler wie Picasso und Picabia ein und aus.

Nicole Groult mit ihren Töchtern
Das scheue Mädchen schüchtert noch mehr als diese Prominenz die exaltierte, elegante Mutter ein, und es meint, dass es nie so glänzen werde wie sie. Als Reaktion auf das Lieblingsthema der Mutter, die Sexualität, sperrt sie sich gegen jede Form von Sinnlichkeit, versteckt als Heranwachsende ihren Körper, flirtet nicht und gibt sich gnadenlos burschikos. Zu jener Zeit wird jungen Mädchen aus gutem Haus panische Angst gemacht, keinen Mann abzukriegen, und das gilt für Benoîtes Eltern auch. Die Ehe ist immer noch das einzige Ziel für eine Frau wie zur Jugendzeit der Mutter.
"Ich war so überzeugt, hässlich zu sein, so durchdrungen von der Idee, dass mich keiner haben wollte, dass ich nur noch mehr über meine eigenen Füße stolperte."
Benoîte ist eine fleißige Tagebuch-Schreiberin, aber nicht aufgrund der vielen Bücher, die sie liest, auch nicht wegen Pickel & Co. Es interessiert sie auch nicht, die üblichen gesellschaftlichen Vergnügungen einer höheren Tochter festzuhalten, wie es bei vielen Mädchen ihres Standes & ihrer Zeit üblich ist. Es ist die Aufklärung, welche sich in ihrem Kopf langsam vollzieht...

1940er Jahre
Nach dem Besuch des Lycée Victor-Duruy in Paris nimmt Benoîte 1938 ein Studium an der Sorbonne auf - nicht Medizin, wie sie es sich vorgestellt hat, denn eigentlich braucht sie für sich ein sachliches Gegengewicht zur überspannten Welt der Mutter. Die interveniert aber, also wird es Latein, Griechisch & Literatur, weil das ein Gebiet ist, das die Mutter nicht beherrscht, und Benoîte avisiert den Beruf der Lehrerin ( "Für meine Mutter die klassische Karriere einer alten Jungfer." ) 1943 schließt sie das Studium mit der "Licence de lettres" ab.

Als sie zwanzig ist, haben sich die Zeiten verändert, denn halb Frankreich ist besetzt, da geht es nicht mehr nur darum, besonders elegant zu sein. Benoîte unterrichtet an einer Vorortschule und heiratet im März 1944 den Medizinstudenten Pierre Heuyer, der von der Sexualität ebenso wenig Ahnung hat wie sie. Sie spielt ihre Rolle erst einmal, wie sie sie bis dahin abgeschaut hat:
"... als ich die ersten Wochenenden mit meinem Mann verbrachte. Ich stand vor dem Frühstück auf, um mich zurechtzumachen, weil ich dachte, wenn er mich ungeschminkt sieht, liebt er mich nicht mehr. Wir schämten uns, unserer selbst und unserer Körper wegen."
Acht Monate nach der Heirat stirbt Pierre Heuyer an Tuberkulose.

Wie kann sich so jemand für häßlich halten?


Als Frankreich von den Deutschen befreit ist, ist Benoîte dank ihrer Englischkenntnisse ehrenamtliche Mitarbeiterin des amerikanischen Roten Kreuzes und verbringt viel Zeit in den Pariser Clubs, die alliierte Soldaten & französische Frauen besuchen dürfen, die aber männlichen Franzosen verschlossen sind. Im Offiziersclub "Hotel Crillon" an der Place de la Concorde lernt sie den jüdischen Bomberpiloten Kurt kennen, der schon 1925 als Kind mit seiner Familie Zuflucht vor den ersten Nazi-Umtrieben in Deutschland in den Staaten gefunden und später General Eisenhower um die Welt geflogen hat. Kurt wünscht sich eine ernstere Beziehung, für Benoîte, ganz französische Intellektuelle mit Ambitionen, bietet er lustvolle Erfahrungen, aber keine geistige Nahrung. Doch die ist zu diesem Zeitpunkt auch nicht wirklich wesentlich: "Vier Jahre Besatzung und dreiundzwanzig Jahre Keuschheit ( oder beinahe so viel ) machen gierig. Ich verschlang Eier, die zwei Tage zuvor in Washington gelegt worden waren! In Chicago eingedosten Schinken! Mais, der viertausend Meilen von hier gereift war..."

Nach der Befreiung wechselt Benoîte ins journalistische Fach, arbeitet zunächst für den Rundfunk und erhält als Frau endlich die Möglichkeit der politischen Partizipation, als in Frankreich das volle Stimmrecht für Frauen eingeführt wird.

1946 heiratet sie den elf Jahre älteren Rundfunkjournalisten Georges de Caunes und bekommt mit ihm im gleichen Jahr die Tochter Blandine, 1948 dann Lison. 1951 lässt sie sich von dem auch ihr gegenüber übergriffigen Macho scheiden, heiratet aber sofort wieder, diesmal den fast gleichaltrigen Schriftsteller Paul Guimard. Das kommentiert sie in einem Gespräch mit Katja Riemann so:
"Ich weiß, was Sie meinen: Ich hatte zwei Kinder, und das erste, was ich tat, nachdem ich frisch geschieden war und endlich frei: heiraten und wieder ein Kind bekommen! Das war aber 1951. Da gehörte es sich nicht, mit einem Mann ohne Trauschein zusammenzuleben. Man hatte einen schlechten Ruf und wurde nirgendwo eingeladen."
Und in einem anderen Interview:
"Er war ein attraktiver Mann, sah gut aus und hatte einen verführerischen Intellekt. Nach meiner Erfahrung kann eine Beziehung rein sexuell sein – aber umgekehrt scheint es mir schwierig, zu einem tieferen geistigen Einverständnis vorzudringen, ohne irgendwann zusammen im Bett zu landen. Mit meinem Mann verband mich ein tiefes gedankliches Verstehen. Wir liebten dieselben Bücher, Filme und Theaterstücke. Mit ihm konnte ich mich wunderbar unterhalten. Wir hatten so viele gemeinsame Interessen: Die Liebe zur Kultur und auch zur Natur, wir gingen zusammen fischen."
Schon zu Anfang ihrer Ehe bricht ihr Paul das Herz, weil er nebenher noch eine andere liebt. Doch er hat ihr schon vorher offenbart, dass er künftig nicht auf andere Beziehungen verzichten wird und ihr einen Ehevertrag à la Sartre-Beauvoir vorgeschlagen. In ihre Eheringe lassen sie eingravieren: "Freiheit, Gleichheit und Treue".

Ihren beiden Töchtern ist Paul ein zuverlässiger & zärtlicher Vater, das bestätigen diese auch noch im späten Alter. 1953 bekommt Benoîte mit Paul noch eine dritte Tochter, Constance. Ihre Arbeit als Radioreporterin gibt sie 1955 zugunsten journalistischer Arbeit bei verschiedenen Zeitschriften wie "Elle", "Marie-Claire" und "Parents" auf. Immer wieder wird sie schwanger - und ihr Mann beschwert sich auch noch darüber -, aber Franzosen, so Benoîte, kommen in jenen Jahren nicht auf die Idee, ein Kondom zu benutzen. Das benutzt man in Frankreich nur, wenn man zu einer Hure geht:
Mit Paul Guimard (1957)
"Drei- oder viermal habe ich einen Haufen Geld für eine Abtreibung bezahlt, die in irgendeinem schmutzigen Hinterzimmer vorgenommen wurde. Und danach habe ich es lieber selbst gemacht, mit Stricknadeln. Allein auf meinem Bett. Schrecklich. Ich habe es auch bei meiner Schwester gemacht. Aber alle taten es, auch Frauen aus gutbürgerlichen Familien." ( Quelle hier )
Das waren ihre ersten feministischen Taten, denn das Gesetz wird in Frankreich erst geändert, nachdem 443 prominente Frauen im Land öffentlich bekannt haben: "Ich habe abgetrieben!" - "Ihr feministisches und literarisches Engagement kam mit der Reife, es hat sich im Laufe der Jahre entwickelt. Jung war sie ziemlich unterwürfig", so urteilt später ihre älteste Tochter Blandine.

So ist sie schon über vierzig, als Benoîte Groult zur Schriftstellerei findet, ermuntert von ihrem Ehemann. Sie beginnt mit ihrer Schwester Flora "Tagebuch vierhändig" zu schreiben, welches 1963 veröffentlicht wird, in dem sie sich an die Kriegszeit und die Zwänge erinnern, denen sie als Frauen  jener Jahre unterworfen gewesen sind. Diesen Blick auf das Maß an Freiheit bzw. Unfreiheit für Frauen wird sie ab da in all ihren Veröffentlichungen beibehalten.

Flora & Benoîte an ihrer Schreibmaschine
Das Buch ist sofort ein Erfolg. Zwei weitere gemeinsame Bücher folgen: "Le Féminin pluriel" ( dt. "Juliette und Marianne. Zwei Tagebücher einer Liebe", 1965 ), mit dem sich Benoîte von ihrer Eifersucht auf die Geliebte ihres Mannes heilen will, und "Il était deux fois" ( dt. "Es war zweimal", 1968 ).

Und während die Pariser Elite schon feministische Essays verfasst, agiert sie noch. Erst 1975, mit Mitte fünfzig, verfasst Benoite Groult ihr großes Manifest "Ainsi soit-elle" ( dt. "Ödipus Schwester"),  das die Geschichte der körperlichen Selbstbestimmung der Frau erzählt. Abtreibung, Verhütung und Clitoris-Beschneidungen kommen darin vor.

Den französischen Feministinnen ist sie nicht philosophisch genug, den deutschen hingegen zu literarisch. Die lesen lieber authentische Berichte. "Der kleine Unterschied und seine großen Folgen", von Alice Schwarzer im selben Jahr wie Benoîtes Buch herausgekommen, macht diesen unterschiedlichen Zugang deutlich. Darin kommen die Stimmen der Betroffenen zu Wort, es basiert auf Interviews und beackert das Feld bundesrepublikanischer Erfahrungen. Damit kann das Publikum hierzulande mehr anfangen. 

Zwei Jahre später das nächste Buch "Le féminisme au masculin" ( dt. "Gleiche unter Gleichen. Männer zur Frauenfrage" ). Es kommt in Deutschland erst 1995 heraus.

Auf den Vorwurf der Männer, warum plötzlich alle Frauen zu schreiben begännen, was sie denn so Wichtiges zu sagen hätten, kontert Benoîte, die hätten sich doch auch nie gefragt, warum Männer seit zweitausend Jahren schreiben und was die noch zu sagen hätten. Besonders hart geht sie mit Sigmund Freud zu Gericht:
"Wenn ich daran denke, was Freud alles über die Frauen von sich gegeben hat! Er wollte uns vernichten, mit seinem Gerede vom Penisneid und der Behauptung, wir hätten eine schwache Libido und unser einziges Verlangen sei es, den Männern Freude zu bereiten. Bis vor zehn Jahren waren die meisten Psychoanalytiker Männer, die Frauen ein Schuldbewußtsein eingeredet haben. Zu meiner Zeit war der Körper einer Frau etwas Schreckliches, das man verstecken mußte." ( Quelle hier )
1978 gründet sie mit Claude Servan-Schreiber das "F-Magazin", der Versuch einer politischen Zeitschrift nur für Frauen, finanziert von Claudes Ehemann Jean - Claude, der aber nach ein paar Jahren dazu keine Lust mehr hat, und so ist 1982 schon wieder Schluss damit.

Im Alter von 65 Jahren fängt sie dann den Roman an, mit dem ihr Name für immer in Verbindung gebracht werden wird: "Les vaisseaux du cœur", im Französischen: "Schiffe des Herzens" ( dt. "Salz auf unserer Haut" ). Als der 1988 herauskommt, gilt er als pornografisches Skandalbuch. Doch in der Pornografie gibt es keine Liebe. Um nichts anderes geht es aber im Buch, und zwar um eine sehr leidenschaftliche Liebe zwischen einer Pariser Intellektuellen und einem einfachen bretonischen Fischer. Dabei hat sie "den Part der Frau aus der weiblichen Perspektive beschrieben. Daraufhin haben mir männliche Kritiker vorgeworfen: Benoîte Groult bringt die Leute zum Erröten. Wenn man sich die pornographische Literatur ansieht, dann ist diese Behauptung scheinheilig. Als Feministin und als Bourgoise gestattete man mir gewisse Gefühle und Aussagen nicht." 

Auf der Frankfurter Buchmesse 1989

















Inzwischen ist es Allgemeinwissen, dass zum bretonischen Fischer Gauvain des Buches Benoîte Groult der jüdische Bomberpilot Kurt inspiriert, den sie damals nach der Befreiung von den Nazis kennengelernt und den sie ein paar Jahre nach Beginn ihrer dritten Ehe mit Paul in New York wieder getroffen hat. Diese Rendezvous behält sie bei, trifft sich mit ihm, wann immer es sich einrichten lässt zwischen dem Schreiben, dem Hüten der drei Enkelinnen, den Fahrten zwischen ihren diversen Domizilen in Südfrankreich, der Bretagne, Irland und Paris. Nach Irland kommt der amerikanische Freund auch gerne, natürlich auch in die anderen Häuser während Pauls Abwesenheit, aber immer mit dessen Einverständnis.

Wie autobiographisch dieser Roman ist, wird auch in ihren Tagebüchern deutlich. Am Ende wird sie aber weder Paul verlassen, noch Kurt eine dauerhafte Perspektive eröffnen: "Seien wir ehrlich: So berauschend ist die Aussicht nicht, einen Ehemann mit knotigen Krampfadern und Hängebacken gegen einen Liebhaber einzutauschen, der das auch hat und außerdem neun Jahre älter ist", schreibt sie und vertuscht keineswegs ihren unerbittlichen Blick aufs Altern. Kurt stirbt schließlich 2001, Paul 2004. Gauvain selbst lässt sie am Ende des Romanes sterben, was viele verstört. Ihre Erklärung dafür:
"Weil sich keiner darüber gewundert hätte, wenn die Frau gestorben wäre. Keiner fragt sich, warum eigentlich Emma Bovary Selbstmord begeht – das ist 'normal'... Die Frauen werden systematisch dafür bestraft, dass sie zu viel geliebt haben... Auf diesen Schluss habe ich Wert gelegt, weil ich es leid war, all diese Unglücklichen, Verführten und Verlassenen, Betrogenen, Frigiden, zu Elend, Schande, Einsamkeit und Wahnsinn Verdammten zu beweinen.
Im selben Interview, zwanzig Jahre nach seinem Erscheinen in Deutschland, gesteht sie:
"... ich war damals 68 Jahre alt, nicht unbedingt das Alter, um einen rasenden Liebesroman zu schreiben –, frage ich mich, wie ich damals die Kühnheit haben konnte, so was zu schreiben, und wie Paul die Eleganz haben konnte, es zu akzeptieren. Mir war aufgefallen, dass ich es noch nie gewagt hatte, das Thema Sinnenfreude zu behandeln. Ich wollte es auf durchaus feministische Weise angehen, Schluss machen mit der überlieferten Vorstellung weiblicher Hingabe beziehungsweise Selbstaufgabe, und den Egoismus im Liebesakt herausstreichen. Und vor allem auch darüber sprechen, ohne auf poetische Metaphern zurückzugreifen, und stattdessen die Dinge beim Namen nennen..." 
Und an anderer Stelle:
"... war es das Wichtigste auf der Welt, die Leidenschaft zu beschreiben, das heißt etwas Unvernünftiges, was man vom Intellekt her nicht verstehen kann, was man mit der Vernunft verwirft, etwas, das uns aber im tiefsten Inneren unseres Seins ereilt, dort, wo wir auf elementare, echte, unverbildete Kräfte stoßen. Es ist ungeheuer spannend, die Macht des sinnlichen Begehrens in Worte einzufangen."
Dass ihr da etwas gelungen ist, beweisen die Zahlen: Das Buch wird in Deutschland über drei Millionen Mal verkauft und steht nach dem Erscheinen zwei Jahre lang auf der Bestsellerliste. Zehnmal häufiger geht es über den Ladentisch als in Frankreich. Auch in den Niederlanden und in Skandinavien inklusive Finnland erreicht es Rekordzahlen. Im Schlagschatten dieses Erfolges findet dann auch das schon 1983 erschienene "Leben will ich" ( frz. "Les trois quarts du temps" ) seine Leserinnen, weil es einen positiven, sinnlichen Feminismus widerspiegelt.

1991 veröffentlicht sie die Lebensgeschichte der französischen Feministin des frühen 19. Jahrhunderts, Pauline Roland, aber erst ihr übernächstes Buch von 1997 "Histoire d’une évasion" ( dt. "Leben heißt frei sein", 1998 ), einer Art Autobiographie zusammen mit Josyane Savigneau verfasst, findet wieder größeres Interesse bei uns. Ihr darin beschriebenes Leben erscheint exemplarisch für eine ganze Frauengeneration zu sein, zeigt es doch die Entwicklung von der scheuen Höheren Tochter, deren Lebensziel die Heirat sein sollte, zur selbständigen Frau, die eigenes Geld verdient und sich neben der Ehe jahrelang eine weitere leidenschaftliche Liebe erlebt.

Mit ihrem Ehemann Paul teilt Benoîte eine andere Leidenschaft: das Fischen. Das Paar hat sich deshalb ( und weil die Schwester Flora mittlerweile dort verheiratet ist ) schon 1977 an der irischen Westküste ein Haus zugelegt. Fünfundzwanzig Sommer verbringen sie an diesem Platz und fahren  täglich bei Wind und Wetter aufs Meer. Im Kampf mit Kälte, Regen, Gischt und Wellen legen sie Netze und Reusen aus, um Garnelen, Hummer und Taschenkrebse zu fangen. Doch den Eindruck einer harmonischen Ehe rückt sie im oben erwähnten Interview zurecht:
"... das ist leicht gesagt. 54 Ehejahre können nicht ohne Dissonanzen verlaufen, ohne Momente der Entmutigung oder sogar der Verzweiflung. Oder aber einer der Partner hat alles in sich erstickt, was dem anderen missfallen könnte." 
In den letzten  gemeinsamen Jahren ist Paul Guimard sehr krank, und Benoîte kümmert sich sehr um ihn, will ihn nicht ins Heim geben: "Die Hälfte meiner Energie habe ich darauf verwendet, ihm Kraft zu geben." Nach seinem Tod benötigt sie ein halbes Jahr, um sich wieder an den Schreibtisch zu setzen. Zwei Jahre sitzt sie dann an "Salz des Lebens" ( frz. "La touche étoile" ) einsam & allein, nur mit Papier und Stift. Anschließend fühlt sie sich befreit.
"Ich möchte nicht mehr mit einem Mann zusammenleben. Aber ich hätte gern einen Gefährten, mit dem ich reisen könnte, mit dem ich ins Kino oder in ein Restaurant gehen würde... Aber ansonsten will ich mein Leben so leben, wie ich es will."
Um die Jahrtausendwende wird ihre vier Jahre jüngere Schwester von der Alzheimer Krankheit heimgesucht. Das Thema Alter und Tod nimmt nun einen großen Raum in ihrem Leben & Denken ein:
"Wer behauptet, das Älterwerden ist eine einfache Sache, der lügt. Ich kenne keine Frau, der es angenehm ist, Falten zu kriegen und das, was man an äußerlicher Attraktivität einbüßt, durch sogenannte innere Werte zu ersetzen. Unsere Jugendkult-Gesellschaft hat keinen Respekt vor dem Alter."
Mit welch humorvoller Distanz sie ihren eigenen Umgang damit aber auch sieht, beweist sie mit dieser Aussage zu ihrem ersten und ihrem zweiten Lifting: Über das erste: "Man rückt die Gesichtszüge wieder an ihren Platz." Über das zweite: "Man erschafft ein Gesicht wieder, das es so vorher nicht gab." In ihrem Tagebuch beschreibt sie ihr widersprüchliches Lebensgefühl dann so:
"Nachts kommen mir die Dinge so trostlos vor. Man könnte auch sagen: So, wie sie ab einem bestimmten Alter nun mal sind. Morgens empfinde ich dann wieder diese kopflose, körperliche Lust zu leben. Und bin so verrückt, Pläne zu schmieden. Als gäbe es keinen Tod."
Zunehmend spürt sie, dass sie das Schicksal der Schwester erleiden wird, beobachtet sich sehr genau, registriert die täglichen Veränderungen, hadert mit ihnen. Schon früher hat sie entschieden, den Zeitpunkt ihres Todes selbst zu bestimmen und ist der Vereinigung "Das Recht, in Würde zu sterben" beigetreten. Ob sie am 20. Juni 2016 in Hyères auf die "Sterntaste" gedrückt hat, weil sie gemerkt hat, "keine Butter mehr zu essen, keine Schokolade, keinen Whisky mehr genießen zu können" und das in ihren Augen kein Leben mehr gewesen ist, weiß ich nicht. 96 Jahre alt ist sie da.

Ihre älteste Tochter Blandine de Caunes gibt posthum "Vom Fischen und von der Liebe. Mein irisches Tagebuch (1977-2003)" herauszusammengestellt aus drei Journalen ihrer Mutter, einem offiziellen, einem unzensierten und einer Art Fischereilogbuch und fügt so ein weiteres Werk zu den zwanzig Büchern, die diese geschrieben oder mitverfasst hat.

Ihr Roman um das weibliche Begehren ist inzwischen ein Klassiker und hat, indem er Neuland betrat, eine Tradition gestiftet, auf die sich zu besinnen in jedem Falle lohnt. Damals nach den - in der Rückschau - freudlosen Jahren mit düsteren Beziehungsgesprächen und unendlichen Gruppentherapien – hat sie von leidenschaftlichem und purem Sex erzählt, ganz ohne Fußnoten und analytischem Drumherumgerede.  Damit hat die "Feministin wider Willen" den Frauen meiner Generation viel ermöglicht. Was der Roman jungen Frauen von heute zu sagen hat, hat Antonia Baum in einem Essay zur Neuausgabe formuliert.




7 Kommentare:

  1. Sehr spannend finde ich den Essay von Antonia Baum und u.a. ihre eigenen Erfahrungen mit dem Buch als Mädchen mit ihrer Mutter und heute.
    Ich habe es damals auch gelesen und war sehr verwundert, dass die Autorin der gleiche Jahrgang war wie meine Mutter.
    Benoite Groults Leben und ihre Erfahrungen mit Sexualität, so wie ich es heute bei Dir gelesen habe, scheinen mir irgendwie extrem. Von "eigentlich ein Junge hätte werden sollen" bis "eine eigene, weibliche Sprache für Sexualität entwickeln" ist ja alles da. Und diese schrecklichen Erfahrungen mit ungewollten Schwangerschaften und dramatischen Abbrüchen, allein das ist schon extrem. Frauenleben in diesen Zeiten war alles andere als einfach.
    Und ihres währte richtig lange, 96 Jahre und entschieden bis in den Tod.
    Du hast das sehr plastisch recherchiert und beschrieben. Danke!
    GlG Sieglinde

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  2. Danke Dir! Ich fand die Reaktion der Männer immer besonders interessant. Selbst die "Wichtigsten" sind doch manchmel nur arme Würstchen.
    Hab's fein!
    Magdalena

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  3. Sehr interessant. Ich glaube mich zu erinnern, dass ich das Buch damals auch gelesen habe. Das Selbstbild der jungen Frau ist wirklich sehr traurig stimmend.
    Liebe Grüße
    Andrea

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  4. Liebe Astrid,
    Salz auf der Haut habe ich Anfang der 90iger verschlungen, ich war damals Ende 20, hatte 2 Kinder und führte zu meinem Verdruss eine Wochenendehe. Auch den Film mochte ich. Vor ein paar Monaten habe ich das Buch nochmals gelesen und den Film zusammen mit dem Herrn K. angesehen.
    Geschockt hat mich echt, dass Benoîte Groult Abtreibungen an sich selbst durchgeführt hat.
    vielen Dank für Dein ausführliches Frauenportrait
    Grüße Margot

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    1. Liebesromane lese ich normalerweise nicht, aber "Salz auf unserer Haut" und "Die Brücken am Fluss" habe ich vor Jahren verschlungen. An einigen Stellen kommen mir heute noch die Tränen. Die Abtreibungen haben mich allerdings auch schockiert.
      LG
      Sigi

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  5. natürlich habe ich das buch auch verschlungen und auch zum schluss geheult wie ein schlosshund. mir erschien es damals überhaupt nicht als pornografie, sondern als eine ganz große liebesgeschichte. ich glaube, ich werde es noch einmal lesen. von ihrer geschichte wusste ich so ganz und gar nichts und bin - wie so oft bei deinen frauenporträts - sehr betroffen von vielem, was sie erleben musste.
    liebe grüße
    mano

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  6. Vor einigen Tagen hatte ich dieses tolle Portait schon gelesen, bin aber vorm Kommentieren abgelenkt worden. Was wieder sehr interessant, das wollte ich dir noch schnell sagen.
    Liebe Grüße Ulrike

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Danke, dass du dir für ein paar liebe Worte Zeit nimmst!

Ich wünsche mir allerdings nach wie vor, dass ein Name am Ende des Kommentars steht.
Da die anonymen namenlosen Kommentare zuletzt wieder zugenommen haben, hier der ausdrückliche Hinweis:

Ich werde sie ab jetzt wieder konsequent NICHT freischalten.

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