Donnerstag, 11. Juli 2019

Great Women # 186: Olga Havlová

Irgendwie ist mein Verhältnis zu diesem Nachbarland im Südosten immer ein besonderes gewesen, haben doch dort meine Mutter und meine geliebte Oma sowie deren Vorfahren über Jahrhunderte gelebt. Ich weiß noch, wie mich die Zerschlagung des Prager Frühling als 16jährige erschüttert und beschäftigt hat und wie mich die Geschicke des Landes immer wieder interessiert haben. Toll fand ich, dass ein Dichter dort Präsident wurde. Dass er eine besondere Frau an seiner Seite hatte, habe ich erst später erfahren: Olga Havlová, deren 86. Geburtstag wir heute begehen könnten.

"Auch wenn ich nicht religiös bin, 
sind die Zehn Gebote etwas, 
woran ich mich orientiere. 
Ohne daran zu denken, 
dass sie zur Religion gehören. 
Meiner Meinung nach ist es ein Fundament, 
das nicht in Vergessenheit geraten sollte."


Olga Havlová wird also am 11. Juli 1933 als Olga Šplíchalová in Žižkov, seit 1922 der Hauptstadt eingemeindet und damals so etwas wie eine "no go area" in Prag, in eine klassische proletarische Familie, wie es sie besonders in diesem Stadtteil gibt, hineingeboren. Ihre Eltern - der bei Olgas Geburt 34jährige Antonín Šplíchal und seine sieben Jahre ältere Ehefrau Anna - trennen sich, als Olga sechs Jahre alt ist. Sie wächst als Straßenkind auf, ist wild und ungehorsam, wie sie selbst später sagen wird, übernimmt aber auch bald die Verantwortung für die fünf Kinder ihrer elf Jahre älteren Schwester Jaroslawa, die alleinerziehend ist: "Ich konnte schon mit zehn meine Nichten und Neffen baden, füttern und wickeln."

Olgas Mutter mag das Theater und den Film und leistet sich trotz angespannter Finanzen mit ihren Kindern den Besuch von Nachmittagsvorstellungen. Die Liebe zum Theater & Kino teilt sie uneingeschränkt, die politischen Ansichten der Mutter hingegen gar nicht:

Nach Kriegsende und der Befreiung von den Nazis ist es nicht ungewöhnlich, dass sich viele Einwohner des Arbeiterviertels den Kommunisten anschließen - Olgas Mutter ist darunter. Olga  selbst lehnt den Kommunismus ab: Sie wird nicht Junge Pionierin ( "Pionýr" ), tritt nicht in die Jugendunion ( "Svaz mladých komunist ceskoslovenska" ), geschweige denn in die Partei ein. Mit der Mutter und der Schwester gibt es darüber immer wieder Auseinandersetzungen.

Politisch mehr geprägt wird Olga vom Anblick tschechischer Zwangsarbeiterlager bei Příbram in Mittelböhmen, wo ab 1949 der Abbau von Uranerz mittels politischer Gefangener betrieben wird. Auch das Vorgehen gegen die Abgeordnete Milada Horáková, die 1950 in einem regelrechten Schauprozess zum Tod durch den Strang verurteilt wird wegen "antisowjetischer Konspiration", "Hochverrats", "Spionage" und "umstürzlerischem Verhalten" und trotz internationaler Proteste, darunter Albert Einstein, am 27. Juni 1950 in einem Prager Gefängnis unter brutalsten Umständen hingerichtet wird, beeindruckt die Siebzehnjährige zutiefst. Ihren "ernsteren Zugang zum Leben" führt sie später auf diese Erfahrungen zurück, ihre Geduld, ihr Bedürfnis zu helfen, ihre Unbeugsamkeit, ihre Fähigkeit, niemals das Gesicht zu verlieren hingegen auf das Aufwachsen im Milieu von Žižkov.

1948, nach dem Abschluss der Mittelschule, nimmt Olga eine Lehre bei der verstaatlichten Schuhfabrik Baťa auf. Als eine Presse während der Arbeit blockiert, versucht die damals 16jährige die Maschine selbst wieder in Gang zu setzen und verliert dabei vier Finger ihrer linken Hand. Diese Tragödie zwingt sie nicht in die Knie, im Gegenteil, sie beweist ihren besonders starken Lebenswillen. Sie bekommt zwar eine Invalidenrente zugesprochen, arbeitet aber weiter, benimmt sich wie zuvor und verfeinert ihre Geschicklichkeit mit nur einer Hand. Es gelingt ihr, ihr Handicap in Zukunft unter einem Handschuh oder einem Taschentuch zu verbergen. Mal ist sie tätig als Verkäuferin in einem Strumpfgeschäft, mal einem Buchladen als Lagerverwalterin oder als Buchhalterin - was ihre Arbeit anbelangt, ist Olga nicht sehr beständig, aber in ihrer Liebe zum Theater:

Mit zwanzig Jahren absolviert sie einen Schauspielkurs, spielt Laientheater und in Filmszenen und genießt die Amateurszene im "Divadlo Na Slupi", eine seit 1925 bestehende Theaterbühne. Dabei scheint Olga noch anziehender als die bloße Schauspielerei die Möglichkeit zu finden, am Theater ihre eigene Bildung und ihren kulturellen Status zu vervollkommnen: Sie mag es, sich unter gebildeten Menschen zu bewegen und Zugang zur Literaturwelt zu haben.

1958
Im 1953 lernt sie im legendären "Slavia", einem Schriftstellercafé gegenüber des tschechischen Nationaltheaters, den aus einer wohlhabenden Familie stammenden, drei Jahre jüngeren Intellektuellen Václav Havel kennen. Äußerlich ist er ein pausbäckiger und altkluger Junge, doch ist er schon Mittelpunkt eines literarischen Kreises.

Ein bisschen peinlich berührt ist Olga zunächst von dem gepflegten und verwöhnten Bürgerssohn. Doch ist er damals als einfacher Arbeiter genau wie Olga ( in seinem Fall als Chemielaborant ) tätig, denn als Kind einer Familie des Klassenfeindes wird ihm eine höhere Schulbildung & ein Studium versagt. Das Abitur holt er am Abendgymnasium nach, ein anschließendes Studium der Verkehrswirtschaft darf er nicht vollenden.

Olga ist damals mit dem Schauspieler Ladislav Trojan zusammen, und Václav kann bei ihr nicht sofort landen. Aber sein Blick auf die Welt, sein Wissen, seine Kontakte zu verbotenen Schriftstellern und seine Begeisterung beeindrucken sie auf Dauer. Und weil sie seine Lebensphilosophie bald teilt, wird die selbstbewusste, distanzierte Olga - sehr zum Missfallen der bildungsstolzen Mutter Václav - drei Jahre später seine Freundin. Ein Mädchen ohne Bildung, dazu noch so forsch und energisch wie Olga, eine unverwechselbare "Tochter aus Žižkov" kommt für die Eltern Havel als Schwiegertochter eigentlich nicht in Frage.

In den 1960er Jahren
Die Hochzeit findet schließlich auch erst im Juli 1964 statt, mit einer bescheidenen Zeremonie. Nach Standesamt und einem Mittagessen kehrt das frischgebackene Ehepaar abends auf seine Arbeitsplätze am Theater zurück: Olga ist fast die gesamten 1960er Jahre Platzanweiserin im "Na Zábradlí", einer weiteren Bühne der Stadt, Václav zunächst der dortige Bühnentechniker, später dann Dramaturg und Autor.

Das Paar lebt zunächst bei Havel's Familie am Rasinovo nabrezi, dem Flusskai im Zentrum Prags. Aber das Zusammenleben ist nicht störungsfrei. Die Schwiegermutter wird die Schwiegertochter nie annehmen können...

Als Václav Havel in den 1960er Jahren beginnt, ein angesehener Dramatiker und Schriftsteller zu werden - 1963 wird sein Drama "Das Gartenfest" aufgeführt, 1965 "Die Benachrichtigung", beide in der Tradition des absurden Theaters - kommt Olga immer stärker in Kontakt mit bedeutenden Intellektuellen und einflussreichen Persönlichkeiten. Obwohl sie es nicht von zu Hause gewohnt ist, bewegt sie sich in dieser Gesellschaft sehr selbstsicher, spürt, wann es richtig ist, den Mund aufzumachen und wann es besser ist zu schweigen und bringt ihre Erfahrungen aus dem Leben der einfachen Menschen ein. Sie wird die aufmerksame erste Leserin ihres Mannes und Kritikerin seiner Essays und dramatischen Werke, die gegen Ende der 1960er in vielen Ländern gespielt werden.

1967 kauft sich das Paar ein Ferienhaus in Hrádeček im Riesengebirge, das sie zu ihrem persönlichen Wohnsitz ausbauen.

Während des "Prager Frühlings" 1968 ist Václav Vorsitzender des "Klubs unabhängiger Schriftsteller" und gehört zu den 150 Unterzeichnern eines offenen Briefes an das Zentralkomitee der tschechischen Kommunistischen Partei ( KPČ ) mit Forderungen nach mehr Demokratie. Er wird Wortführer der nichtkommunistischen Intellektuellen, die den von Alexander Dubček eingeleiteten Reformprozess unterstützen.

Einwohner von Prag mit tschechoslowakischer Flagge
vor einem zerstörten sowjetischen Panzer (1968)
Mit dem Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes in die Tschechoslowakei im August des gleichen Jahres widersetzt sich Olgas Mann der Gleichschaltungspolitik und wird daraufhin mit einem Aufführungs- und Publikationsverbot im gesamten Ostblock belegt und nach und nach aus allen kulturellen Aktivitäten seines Landes gedrängt. In der Prager Wohnung sind Abhörgeräte installiert...

Gemeinsam zieht sich das Paar nun ganz in das Haus in Hrádeček zurück. Es wird eine Zufluchtsstätte für Dissidenten und Untergrundangehörige, aber auch dort sind sie immer unter Aufsicht. Als Olgas Hund Junge zur Welt bringt, ist unschwer zu erkennen, wer deren Vater ist: Der Polizeihund. Von einem Privatleben, wird sie später sagen, kann man seitdem eigentlich nicht mehr sprechen.

Václav verdingt sich zwischenzeitlich als Hilfsarbeiter bei einer Brauerei, sie entwickelt sich zur Pilzsammlerin und Gärtnerin, kümmert sie sich häufig um Mädchen und Jungen anderer Dissidenten, die ihre Ferien in ihrem Haus verbringen und ist eine wichtige Stütze für ihren Mann, der immer wieder von der Geheimpolizei verfolgt, verhaftet und verhört wird.

Während international seine Bekanntheit als Dramatiker und Hörspielautor wächst, schreibt das Paar ab 1972 im eigenen Land im Untergrund für eine von ihnen mitbegründete Untergrundzeitung, deren Herausgeber Václav bis 1977 bleibt. 1975 gründet er die "Edition Expedice", eine Samisdat-Ausgabe mit tschechischer Originalprosa, Gedichten und Dramen, Anthologien, Übersetzungen sowie philosophischen, wissenschaftlichen und theologischen Schriften, die jeglicher Meinung Raum gibt und später dreihundert Bände umfassen wird.

Im Januar 1977 initiieren Olga & Václav mit anderen Dissidenten die Menschen- und Bürgerrechtsbewegung "Charta 77", die die Herrschaft der tschechischen Staatspartei, der KPČ, mit Veröffentlichungen im Ausland kritisiert und in Frage stellt:
"Charta 77 ist eine freie informelle und offene Gemeinschaft von Menschen verschiedener Überzeugungen, verschiedener Religionen und verschiedener Berufe, verbunden durch den Willen, sich einzeln und gemeinsam für die Respektierung von Bürger- und Menschenrechten in unserem Land und in der Welt einzusetzen … Charta 77 ist keine Basis für oppositionelle politische Tätigkeit. Sie will dem Gemeininteresse dienen wie viele Bürgerinitiativen in verschiedenen Ländern des Westens und des Ostens."
Diese Verlautbarung erscheint überall zur gleichen Zeit in der Weltpresse, darunter die "Neue Zürcher Zeitung", der "Guardian" oder die "Frankfurter Allgemeine". Menschen aus dem ganzen Spektrum der tschechischen Gesellschaft haben die Charta unterschrieben: ehemalige Kommunisten, ehemalige Trotzkisten, Protestanten wie Katholiken, alles ist dabei, und man verschreckt das Regime, das plötzlich alle gegen sich hat, ohne dass der Staatssicherheitsdienst die Tätigkeit der Bürgerrechtler vorhergesehen hat.

Und es reagiert mit einer wüsten Diffamierungskampagne in stalinistischer Manier, die Unterzeichner werden schikaniert, verhaftet oder ausgebürgert. Auch Václav ist darunter. 1978 wird er zunächst wegen fortgesetzter Aktivitäten als Bürgerrechtler und wegen der  "Edition Expedice" unter Hausarrest gestellt. Von der Gründung des "Komitees zur Verteidigung der zu Unrecht Verfolgten" im gleichen Jahr lassen die Havels  sich nicht abhalten.

1979 erfolgt eine weitere Verhaftung und die Verurteilung Václavs zu viereinhalb Jahren Gefängnis wegen "Aufruhrs" und "antisozialistischer Umtriebe" . Das Regime unterbreitet ihm ein Ausreiseangebot, aber Václav tritt die Haft an. Auch Olga trägt seine Entscheidung mit -  eine andere Frau hätte wahrscheinlich ein leichteres Leben im Westen vorgezogen.

Olga bei der Arbeit an der "Edition Expedice"
Jetzt schlägt ihre Stunde: Mit dem Bruder ihres Mannes setzt sie die Herausgabe der "Edition Expedice" weiter fort. Auch sie wird strafrechtlich verfolgt, z.B. wegen des Transports verbotener Drucksachen, die die "Republik untergraben".

Immer wieder wird sie von der "Státní bezpečnost", also dem Staatssicherheitsdienst, befragt, viele Male erleidet sie Hausdurchsuchungen. Ihren sozialen Abstieg, die Schikanen, Verhöre über all die Jahre erträgt Olga mit Noblesse und Stolz. Die gemeinsame Sache ist für sie von Bedeutung, nicht ihre individuelle Leistung:

Gefragt, wie sie das alles ausgehalten habe, sagt sie an dieser Stelle:
"Also man überschritt eine bestimmte Grenze, wenn man bereit war, für die Freiheit zu bezahlen, aber gleichzeitig wurde man dadurch bereichert. Wenn einem die Polizei etwas wegnahm, etwa ein schönes Buch, das man noch nicht zu Ende gelesen hatte; hatte man überhaupt nicht das Gefühl, dies sei etwas Schreckliches. Man sagte sich, es gibt ja noch andere... Tausende schöner Bücher. Es gibt Menschen, die dazu allerdings überhaupt nicht fähig sind. Sie haben dauernd Angst vor etwas und wollen davor weglaufen. Die Hauptsache ist, die innere Freiheit zu erlangen, dann kann man auch etwas für die anderen tun."
Während der Haft schreibt Václav die berühmten "Briefe an Olga" voller philosophischer und existenzieller Überlegungen, die nicht nur für sie bestimmt, sondern auch für einen Kreis von Freunden, die ähnlich denken. Zu dieser Zeit befindet sich die persönliche Beziehung der Beiden schon in einer Krise: Olga hat sich während Václavs Haftzeit in den Schauspieler Jan Kašpar verliebt, der sie auch bei ihrer Arbeit unterstützt.

Nicht dass ihr Mann nicht schon früher seine Techtelmechtel gehabt hätte - Olga hat sie ausgehalten: Als er im März 1983 nach heftigen Protesten aus dem westlichen Ausland wegen seiner angeschlagenen Gesundheit vorzeitig aus der Haft entlassen und von Olga mit der neuen Situation konfrontiert wird, erträgt er diese Nachricht nur sehr schwer. Freunde empfehlen ihm eine Psychotherapeutin, die er aufsucht und in die er sich verliebt - Jitka Vodňanská - und mit der er bald eine Beziehung haben wird. Überraschenderweise funktioniert dieses Quartett mehrere Jahre lang, selbst als Jan Kašpar 1988 nach einem Unfall gelähmt ist. Offensichtlich bleibt Olga für Václav weiterhin Halt und Stütze. "Sie konnte nicht ohne ihn leben, weil sie es brauchte, daß er sie brauchte", so ihr Biograf Pavel Kosatik. Doch aus ihrem Munde erfährt man darüber nichts:
"Ich spreche schrecklich ungern über persönliche Gefühle. Ich hab nie so mit Freundinnen getuschelt und verschiedene Vertraulichkeiten mitgeteilt, das mag ich nicht. Über diese Dinge spreche ich nicht." ( Quelle hier )
Olga wendet sich wieder vermehrt ihrer alten Leidenschaft, dem Theater, zu, wird Organisatorin einer Vielzahl von kulturellen und sozialen Aktivitäten und initiiert 1985 die Gründung des Theatermagazins "O Divadlo", das sie als Redaktionsmitglied vor allem in Wirtschafts- und Produktionsfragen unterstützt.

1987 ist sie auch an der Einrichtung eines Untergrundvideomagazins beteiligt, welches offen über die politische und kulturelle Situation in der Tschechoslowakei informiert. Dabei konzentriert sie sich hauptsächlich auf ökologische Themen, denn die Zerstörung der Natur durch die Schwerindustrie im Land ist immens, und es liegt damals an der Spitze der Luft- und Wasserverdrecker Europas.

Als Václav zu Beginn des Jahres 1989 eine Gedenkveranstaltung für den Studenten Jan Palach, der sich 1969 aus Protest gegen die Besetzung des Landes selbst verbrannt hat, mitorganisiert, wird er wieder einmal festgenommen und wegen "Aufwiegelung und Störung der öffentlichen Ordnung" zu neun Monaten verschärfter Haft verurteilt, aber schon bald nach Protesten aus dem Ausland wieder frei gelassen.

Großdemonstration auf dem Wenzelsplatz am 27. November 1989
Eine Demonstration mit über 50.000 Teilnehmern in Prag leitet im November 1989 die "samtene Revolution" und damit eine politische Veränderung in der Tschechoslowakei  ein.  Zuvor ist Václav Havel Vorsitzender des neu gegründeten "Bürgerforums" geworden, das mit der slowakischen Schwesterorganisation "Öffentlichkeit gegen Gewalt" die Bildung einer neuen Regierung durchsetzt.

Olga ist überhaupt nicht begeistert und widerspricht zunächst einer Kandidatur ihres Mannes für das Amt des Staatspräsidenten. Sie fürchtet um ihre in den letzten Jahren zurückeroberte Unabhängigkeit. Die erfolgreiche Wahl als Kandidat des Bürgerforums am 29. Dezember 1989 in der Föderalversammlung nimmt sie zunächst mit widersprüchlichen Gefühlen auf: Ihr widerstrebt die Rolle der First Lady, denn sie ist sozusagen eine Anti - Zelebrität, das einfallsreichste Gegenteil von "Berühmtheit". Sie hasst es, vielen Leuten die Hand geben und sich vor dem Abendessen einige Höflichkeitssätze anhören zu müssen. Und sie trägt lieber Jeans als formale Kleidung, ist lieber natürlich und locker. Am Ende akzeptiert sie es mit der Demut, mit der sie ihr ganzes Leben neben Václav Havel verbracht hat und schickt sich in die Rolle der ersten Dame des Landes.

Auf dem Balkon der Prager Burg nach den ersten freien Wahlen am 8. Juni 1990


Es ist schwer für Olga, mit dem Staatsbeamten fertig zu werden. Noch schwerer fällt ihr, die Erwartung zu erfüllen, Ehrenvorsitzende für zwei- bis dreihundert neu entstandene Organisationen zu werden. "Ich mag aber passive Rollen nicht", so gut kennt sie sich. Und sie hat nach wie vor das Bedürfnis, den Nächsten zu helfen, etwas, dass in den Jahren zwischen 1945 und 1989 in der Tschechoslowakei völlig ins Hintertreffen geraten ist. So gründet sie 1990 das "Komitee des Guten Willens":
"Olga Havlová hatte eine klare Vision: Menschen aus den Sozialeinrichtungen wegzubekommen, die dort nichts zu suchen haben, um ein Leben zu leben, wie alle anderen Menschen. Es war nicht ihr einziger Wunsch. Sie setzte sich auch dafür ein, dass möglichst viele Kinder aus Kinderheimen in ihren eigenen oder Pflegefamilien leben können. Kurzum: Allen, die ein körperliches oder soziales Handicap haben, die Möglichkeit zu geben, ihr Leben so zu leben, wie alle anderen auch", so beschreibt  ihre damalige Mitarbeiterin und heutige Stiftungsleiterin, Milena Černá, an dieser Stelle ihre Motivation.
Nun nutzt sie ihre Position und ihren Einfluss hauptsächlich für die Zwecke des Komitees, sucht auf ihren häufigen Reisen hauptsächlich nach Spenden und nützlichen Kontakten. Zunächst arbeitet sie mit der österreichischen UNICEF zusammen, später werden in einigen europäischen Ländern und in Übersee Zweigniederlassungen gegründet, um die Hauptziele der Stiftung zu unterstützen.

Eine ganz andere Seite der hervorragenden Organisatorin zeigt sich bei der Renovierung und Wiedereinrichtung der arg vernachlässigten Prager Burg. Mit Freude richtet sie die Säle mit historischen Möbeln und Gemälden ein und erstellt ein neues Schlossprotokoll.

Am fünften Jahrestag der Gründung des "Komitees für guten Willen" beschließt sie, dass dieses bzw. die "Olga Havel Foundation" jährlich einen Preis - den "Olga Havel Award" - an eine Person mit einer Behinderung vergibt, die entscheidend an der Verbesserung der Lebensbedingungen von Menschen mit Handicap gearbeitet hat. Olga Havlová kann an dieser Preisverleihung nur beim allerersten Mal dabei sein:

Wann sie die ersten Anzeichen ihrer Erkrankung wahrgenommen hat, ist nicht bekannt. Das letzte Mal tritt sie im Herbst 1995 bei der Eröffnung der Ausstellung eines Fotografen - Freundes in der Öffentlichkeit auf. Sie arbeitet aber weiterhin für das Komitee. Im November 1995 erhält sie den Titel "Frau des Jahres" ( den ihr Norwegen schon 1991 verliehen hat ).

Anfang Januar 1996 wird in Prag bekannt, dass sie schwer an Krebs erkrankt ist - die Anteilnahme der Bevölkerung ist daraufhin nicht zu übersehen. Sie stirbt am 27. Januar 1996 zu Hause in der Dělostřelecká in Gegenwart ihres Mannes, einer Krankenschwester und ihres Schnauzer Dule mit 62 Jahren.

Wie sehr sie von ihren Landsleuten verehrt wird, zeigt sich auch nach ihrem Tod, als die Menschen in einer endlosen Schlange stehen, um Blumen in der Kapelle des südlichen Flügels der Prager Burg abzulegen und sich in die Kondolenzbücher einzutragen.

Sie wird im Familiengrab der Havels auf dem Prager Vinohrady-Friedhof beigesetzt.
"Ich habe in Olga genau das gefunden, was ich brauchte: eine mentale Reaktion auf meine mentale Unsicherheit, eine nüchterne Korrektur meiner verrückten Ideen, eine private Unterstützung für meine öffentlichen Abenteuer", würdigt Václav Havel die Frau, die vierzig Jahre an seiner Seite gestanden hat.
Auffällig an der Lebensführung Olga Hávlovas wie auch anderer Dissidentinnen ist, dass so ganz anders als im Westen die massive Kritik am Patriarchat fehlt. Dabei hat besonders das legendäre Minerva - Gymnasium in Prag ( siehe auch dieser Post über Milena Jesenská ) eine ganze Generation selbstbewusster Frauen hervorgebracht, und die tschechische Verfassung war die erste in Europa, die explizit die Gleichheit von Männern und Frauen formuliert hat. Dem totalitären Regime in der Tschechoslowakei war es nach der Hinrichtung der Frauenrechtlerin Milada Horáková gelungen, feministische Gedanken zu ihrem Nutzen zu manipulieren: Gesetzlich herrschte die Gleichheit von Mann und Frau, aber nach der Arbeit blieb die alltägliche Plackerei Frauensache, und in der Politik hielt man sie außen vor.

In der Gegengesellschaft der Kritiker des Regimes, in der der Anteil von Frauen ungewöhnlich hoch war, saßen Männer wie Frauen im gleichen schwankenden und gefährdeten Boot und suchten nach Momenten der Ruhe und des Ausgleichs in ihrem Familien- und Freundeskreis. Die zur gleichen Zeit im Westen wirkmächtige Forderung nach Selbstverwirklichung erschien den tschechischen Frauen als "Luxus". Und die historischen Erfahrungen im totalitären System machten keinen Appetit auf Nachahmung und Mitwirkung.

Für mich war dieses Eintauchen in eine so ganz andere Erfahrungswelt sehr aufschlussreich.


7 Kommentare:

  1. Die Frau an Havels Seite ist mir ganz neu. Welch gute Voraussetzungen sie mitgebrachte mit ihm die schlimmen Jahre durchzustehen durch ihre Erfahrungen in Kindheit und Jugend und durch ihre Unbeugsamkeit! Dass sie dann nicht so gern First Lady geworden ist, kann ich gut verstehen. Feminismus haben viele Frauen im Osten nicht verstanden, sie dachten, sie leben ja Gleichberechtigung. Leider ein Irrtum.
    Den Prager Frühling und den August 1968 habe ich noch sehr lebhaft in Erinnerung. Wir waren im August am Gardasee in Familien-Urlaub und ein guter Schulfreund nach dem Abi bei der Bundeswehr eingezogen in Deutschland und nun in Alarmbereitschaft! Krieg erschien auf einmal ganz nah und möglich. Es war irgendwie surreal.

    Wieder einmal hast Du eine beeindruckende Frau vorgestellt, die eine unglaubliche Stärke hatte und zeigte, was alles möglich ist, auch wenn die Voraussetzungen nicht ideal sind.
    Toll recherchiert und geschrieben!
    Danke sagt Sieglinde




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  2. Liebe Astrid,
    wieder ein so fesselndes Porträt über eine bemerkenswerte Frau, die mir bislang unbekannt war.
    Danke dafür und einen lieben Gruß, Marita

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  3. Danke, dass Du mal wieder ein neues Fenster aufgestossen hast. Was für eine interessante Frau!
    Liebe Grüße
    Andrea

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  4. Wieder einmal eine Frau, die nun erst durch dich und deine Recherchen in meinen Fokus rückt. Wie sie sich Bildung erschlossen und ihre Plätze im Leben geschaffen oder angenommen und ausgefüllt hat, auch unter widrigsten Umstände, ist wirklich sehr beeindruckend. Und dann musste sie zu früh gehen. Und ja, für mich auch ein Wiederbegegnen mit unseren Gedanken und Gefühlen als damals junge Frauen im Osten. Danke und liebe Grüße Ghislana

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  5. Liebe Astrid, wieder eine Frau,
    die im Hintergund gewirkt hat und der Mann
    ist der den man kennt.
    Tolle Biografie!
    Ganz liebe Grüße Urte

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  6. Olga Havlovas Leben war mir unbekannt. Danke für das ausführliche Portrait. Ja, das eintauchen in eine so ganz andere Erfahrungswelt - das ist, was oft Deine Portraits ausmacht und uns nahbringt. Sei es eine "Ostfrau", sei es eine historische Persönlichkeit, Du trägst ihr Leben zusammen und machst uns Türen auf. Danke - und genieß Deine Blogpause! Lieben nach-dem-fünften-Gewitter-guß-Gruß! Eva

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  7. Liebe Astrid,
    zu diesem Nachbarland habe ich ebenfalls einen historischen Bezug, da die Großeltern meines Vaters von dort nach WIen kamen. Mein Vater hat seine fast nur tschechisch sprechende "Wawa" geliebt und mir immer wieder mal von ihr erzählt. Von Olga Havlová kannte ich bisher nicht viel mehr als ihren Namen; es war interessant, ihre Lebensgeschichte zu lesen. Und ich musste (obwohl der Hindergrund nicht lustig ist) lachen über den Polizeihund als Vater der Welpen... Doch die Zeiten der Unterdrückung haben immer wieder Persönlichkeiten stark werden lassen, ihren Widerspruchsgeist erweckt...
    Rund um den Satz "Sie setzte sich auch dafür ein, dass möglichst viele Kinder aus Kinderheimen in ihren eigenen oder Pflegefamilien leben können." fällt mir noch etwas ein, das ich vor kurzem von einer ungarischen Bekannten gehört habe: Sie erzählte mir von einer jungen Frau, die gerade am Krebs stirbt. (In Ungarn wird offenbar immer wieder mal großflächig gegen Stechmücken gespritzt, kurz danach sterben dann die Bienen - und Krebsfälle gibt es auch auffällig viele...) Diese junge Frau ist in einem Kinderheim aufgewachsen und hat nun niemanden, der sie im Krankenhaus besucht, außer ihre ehemalige Pflegemutter. Die ist aber zeitmäßig völlig überfordert, denn sie betreut ALLLEIN eine WG von 15 Kindern und Jugendlichen im Alter von Kleinkind bis knapp unter 18 und darf ihre Schützlinge eigentlich nie unbeaufsichtigt lassen. Es wird kaum noch Personal zur Betreuung von Waisenkindern bezahlt zu Orbans Zeiten und auch das SOS-Kinderdorf wird aufgelöst, weil angeblich kein Geld da ist. Ab 18 landen viele ehemalige Heimkinder auf der Straße. Theoretisch dürfte die Pflegemutter nicht einmal mit den Kleinen auf den Spielplatz gehen, während die Großen den Vormittag verpennen, weil es nicht zu rechtfertigen wäre, wenn da etwas passiert. So wird also lt. meiner Bekannten mit "sozialen Problemfällen" im heutigen Ungarn umgegangen - und Viktor Orbán ist immerhin ein großes Vorbind der anderen Rechten... u.a. von Strache, der vermutlich trotz allem noch nicht weg vom Fenster ist...
    Alles Liebe nochmal, Traude

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Danke, dass du dir für ein paar liebe Worte Zeit nimmst!

Ich wünsche mir allerdings nach wie vor, dass ein Name am Ende des Kommentars steht.
Da die anonymen namenlosen Kommentare zuletzt wieder zugenommen haben, hier der ausdrückliche Hinweis:

Ich werde sie ab jetzt wieder konsequent NICHT freischalten.

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