Donnerstag, 6. Juni 2019

Great Women # 182: Ida Kerkovius

Auslöser für meine heutige Wahl war ein Ausstellungskatalog, den ich Ostern von meiner überaus kunstsinnigen wie lieben Stillen Leserin Sunni aus Thüringen bekommen habe. Dort, im im Kunsthaus Apolda, gab es nämlich eine Ausstellung. Anlass dafür war - wie kann es in diesem Jahr anders sein! - das Jubiläum des Bauhauses. Denn an diesem hat meine heutige Künstlerin auch studiert. Die Rede ist von Ida Kerkovius.



"Ich bekenne mich zu keiner Kunstrichtung, 
sondern bin immer bestrebt, 
wie am Anfang meiner 
Entwicklung 
den Gefühlen, die in mir leben, 
Gestalt, Qualität und Ausdruck zu geben.

Ida Luitgarde Kerkovius kommt am 31. August 1879 in Riga ( zu diesem Zeitpunkt kaiserlich russisches Gouvernement Livland, ab 1918 dann Lettland ) als viertes von zwölf Kindern der 27jährigen Juliane Christine Charlotte Schulz und ihres vierzehn Jahre älteren Ehemannes Theodor Ferdinand Kerkovius zur Welt. Dessen Vorfahr, ein protestantischer Pastor mit Namen Christopher Kerkow, war im 17. Jahrhundert aus dem märkischen Strausberg ins damalige Kurland, einer historischen Landschaft Lettlands, ausgewandert und er selbst gehört nun im 19. Jahrhundert als Holzhändler zur baltendeutschen Oberschicht. Das livländische Landgut Saaden ( heute Zādzenes Muiža ), auf dem das Mädchen Ida seine Kindheit verbringt, hat der Vater kurz vor ihrer Geburt von einem Schuldner übernommen und sich von da an der Landwirtschaft gewidmet. Der Familie gehören aber auch Häuser in der lettischen Hauptstadt. Ida verbringt ihre Kindheit mit sieben Brüdern und drei Schwestern auf dem Landgut ( eine Schwester ist schon vor Idas Geburt mit einem Jahr verstorben ). 

Saadsen am Ende des 18. Jahrhunderts
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Zuerst wird sie von deutschen Privatlehrern unterrichtet und später dann im etwa vier Stunden entfernten Riga in die Stadttöchterschule eingeschult "deren vollen Kurs sie beendete", so ihr Vater in der Familienchronik. 

Mit achtzehn Jahren wird sie Schülerin der Malschule von Elise von Jung-Stilling in Riga, an der junge Frauen eine künstlerische Ausbildung machen können. Ihr Diplom legt sie 1899 ab und erwirbt gleichzeitig die Berechtigung, als Kunstlehrerin an Mädchenschulen zu unterrichten. Das an dieser Schule vermittelte Kunstverständnis ist ganz an Westeuropa orientiert, so dass Ida mit den künstlerischen Strömungen jener Tage in St. Petersburg nicht in Berührung kommt.

Durch eine Ausstellung im Rigaer Kunstsalon wird Ida 1901 auf Werke von Martha Hellmann aufmerksam, die eine Schülerin von Adolf Hölzel an seiner Dachauer Malschule ( "Neu Dachau" ) ist.
Diese Schule war die größte und bekannteste in der Künstlerkolonie vor den Toren Münchens. Hölzel, der seit 1888 dort lehrte, wird 1906 zum Leiter der „Komponierschule“ an die Stuttgarter Kunstakademie berufen. In den Sommermonaten kehrte er aber immer wieder nach Oberbayern zurück, um private Malstunden zu geben. Seine Ansichten zogen viele Schüler an. In deren Mittelpunkt stand die Malerei als autonomes Element des Ausdrucks, das Bild sollte also alleine aus den gestalterischen Mitteln der Farbe und der Form entstehen.
1902 unternimmt Familie Kerkovius eine Studienreise durch die italienischen Kunstzentren Venedig, Florenz und Rom: Als die Rückreise über Wien erfolgt, nutzt Ida die Gelegenheit, Hölzel in Dachau aufzusuchen und bleibt dort fünf Monate, denn von ihm erhält sie für sie wichtige Impulse, die die Grundlage für ihr weiteres Schaffen bilden werden. Schließlich beordert sie der Vater aber zurück nach Riga, wo er sie sich als Porträtmalerin wünscht. Doch Idas Ambitionen gehen weit über eine solche Beschränkung hinaus. Schon früh versteht sie sich als jenseits des tradierten Rollenverständnisses und der bürgerlichen Konventionen und stellt ihre Kunst über alles, was sie alsbald zu einem Sonderfall im damaligen Kunstakademiebetrieb machen wird.

1904 stellt sie erstmals im Rahmen einer Gedächtnisausstellung für die gerade verstorbene Elise von Jung - Schilling in Riga aus. 

1905 wird während der ersten russischen Revolution das Verwalter- und Herrenhaus in Saadsen niedergebrannt, die umfangreiche Bibliothek des Vaters, Dokumente & Familienerinnerungen zerstört. Der Vater verschmerzt diesen Verlust nur sehr schwer. Ida selbst verlässt Livland 1908, um in Berlin im Atelier von Adolf Mayer tatsächlich "Kopf und Akt" zu studieren, erkennt jedoch schnell, dass dessen naturalistische & akademische Art ihr keinen Lernzuwachs bringt.

Sie bricht das Studium in Berlin also ab und begibt sich nach Stuttgart zu Adolf Hölzel, der dort seit zwei Jahren an der "Königlich Württembergischen Akademie der bildenden Künste" lehrt und weiter an der Vermittlung seiner Theorie der Abstraktion arbeitet. Mit Freuden nimmt er Ida auf, und es beginnt eine lebenslange Freundschaft, ja Symbiose. 1910 wird Ida in die neu eröffnete Damenabteilung der Akademie aufgenommen und 1911 Hölzels Meisterschülerin. Durch seine Vermittlung bekommt sie auch ein eigenes Atelier an der Akademie und unterrichtet dort quasi als seine Assistentin neue Schüler in seiner Lehre: Die ( später ) berühmtesten sind der Schweizer Johannes Itten, der von der Aufnahmekommission der Akademie zuvor abgelehnt worden ist, und Oskar Schlemmer. Sie reist mit Hölzel und seinen Studenten zur Sonderbundausstellung nach Köln, wo Werke der Avantgarde gezeigt werden, und beteiligt sich im Berliner "Sturm" des Herwarth Walden an einer Ausstellung.

Hölzel, ein hervorragender Lehrer, ist wiederum begeistert von Idas Talent, betont zwar immer beider Unterschiede ( "Sie macht meine Lehre, aber komisch, sie macht ganz andere Sachen." ), rät aber Bekannten, frühzeitig ihre Werke anzukaufen. Idas Eltern, sehr traditionell eingestellt, scheinen von der Richtung, in die ihre Tochter sich künstlerisch entwickelt, aber gar nicht begeistert, und es hat wohl "ellenlange Streitereien" gegeben.

Adolf Hölzel und seine Schüler, Ida Kerkovius ist die zweite von links (1914)


1914 ist Ida in Adolf Hölzels sogenanntem Expressionisten-Saal im Rahmen der vom "Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein" in Stuttgart ausgerichteten Kunstausstellung mit einem Werk vertreten. Dann bringt der 1. Weltkrieg erst einmal auch ihr Leben gehörig durcheinander: Aufgrund ihrer baltendeutschen Herkunft wird sie nun gezwungen, die russische Staatsangehörigkeit anzunehmen, was gleichzeitig aber bedeutet, dass ihr ihr Atelier und die Erlaubnis, an der Kunstakademie zu unterrichten, entzogen werden.

Auch zu Hause in Riga kommt erst einmal der kulturelle Aufschwung zum Stillstand, und zur Sicherstellung der russischen Kriegswirtschaft werden etwa 200 000 Einwohner für Rüstungszwecke nach Zentralrussland deportiert. Im Januar 1915 stirbt der Vater, im Dezember die Mutter. In den anschließenden russischen Revolutionswirren verlieren die russischen Wertpapiere der Familie Kerkovius drastisch an Wert. Und 1918 mit der Unabhängigkeitserklärung Lettlands und einer Agrarreform geht sie dann fast ihres gesamten Besitzes verlustig.

Malerei von 1916


Ida muss sich also mit privatem Malunterricht in ihrem neuen, privaten Atelier im 4. Stock in der Stuttgarter Urbanstraße 53 durchbringen. Ihre Freundin aus Dachauer Zeiten, Lily Hildebrandt, wohnt mit ihrem Mann, dem Kunsthistoriker Hans Hildebrandt, ganz in ihrer Nähe.

Urbanstraße in Stuttgart (ca.1943)
Eine ihrer Malschülerinnen ist Hanna Bekker vom Rath, die ihr lebenslang verbunden sein wird, sie über kommende düstere Zeiten unterstützen und ihre erste Galeristin sein wird. Die bescheinigt ihr "auch eine pädagogische Begabung, die ihr immer wieder junge Menschen zuführt."

1916 kann Ida an einer Ausstellung in Freiburg zu "Hölzel und sein Kreis" gemeinsam mit Willi Baumeister, Oskar Schlemmer und Johannes Itten teilnehmen.

Ihrem einstigen Lehrer Hölzel bleibt sie weiterhin verbunden, ist seine engste Vertraute, auch nach dessen Pensionierung als Akademiedirektor 1919, und wichtigste Mitarbeiterin ( so hilft sie ihm zum Beispiel bei seinem Glasfensterauftrag für die Firma Bahlsen in Hannover ). Selbstverständlich nimmt sie an den "Mittwochsabenden" in seinem Privathaus in Degerloch teil, bei denen weiter künstlerische Fragen diskutiert werden und man davon ausgehen kann, dass dort einige Prinzipien des Bauhauses ihren Ursprung genommen haben, denn schließlich werden Johannes Itten und Oskar Schlemmer 1919 bzw. 1920 von Walter Gropius an diese neue Art der Kunstschule als Lehrer berufen.

Die nunmehr Einundvierzigjährige beschließt, ihnen zu folgen: Vom Wintersemester 1920/21 bis Wintersemester 1923/24 wird Ida Kerkovius wieder Studentin, diesmal am Bauhaus in Weimar, "um zu sehen, wie da gelehrt wird." Und: "Ich wollte nicht einseitig sein". Sie belegt Kurse bei Walter Gropius, Lothar Schreyer, ihrem ehemaligen Schüler Johannes Itten, bei Paul Klee und Georg Muche, tritt anschließend als Lehrling in die Klasse der Weberei ein und ist am Anfang begeistert, wie viele der Bauhäusler. Am Ende wird sie allerdings sagen: "Oh, wie sehne ich mich fort von hier."

Von links nach rechts: Adolf Hölzel, Johannes Itten, Oskar Schlemmer & Willi Baumeister, Paul Klee, Wassily Kandinsky

Obwohl sie ihr ehemaliger Schüler als Lehrer angenehm überrascht und sie dem Unterricht anfänglich mit Hingabe folgt, überlegt sie schon im Dezember 1920 zum ersten Mal, das Bauhaus zu verlassen: "Es ist nicht einfach für mich, so ganz auf Schularbeiten eingestellt zu sein, obgleich ich mir immer wieder sage, von welchem Nutzen dies später für mich sein wird." Oft fühlt sie sich körperlich ausgelaugt und stark erholungsbedürftig.

Die stärkste Inspiration in Weimar – künstlerisch wie menschlich – bieten Ida Wassily Kandinsky und vor allem Paul Klee, der bei ihr nun die Betonung der Form in ihren Werken auslöst, nachdem sie bei Hölzel die intensiven &  ausdrucksstarken Farben gefeiert hat.

Webteppich (1921)
Ihre nun stärkere Vorliebe für analytisch - geometrische Entwürfe prägen auch ihre Webarbeit, in die sie von der fast zwanzig Jahre jüngeren Gunta Stölzl eingeführt wird. Bereits in ihrer Stuttgarter Zeit hat die Malerin allerdings schon Interesse an der Textilkunst gezeigt und ist als Gasthörerin an Württembergischen Staatlichen Kunstgewerbe­schule eingeschrieben gewesen.

Neben dem handwerklichen Aspekt gibt es für Ida Kerkovius ganz pragmatische Überlegungen: Sie ist gezwungen, sich neue Erwerbsquellen zu erschließen, nachdem die Familie alles verloren hat, und die reine Malerei in jenen Zeiten kein echtes Standbein sein kann, was den Lebensunterhalt anbelangt. 1922 erhält sie sogar den Auftrag, für den Empfangsraum von Walter Gropius einen Teppich zu weben. Auch Paul Klee tauscht ein eigenes Bild gegen einen Teppich von ihr, was einer echten Anerkennung ihrer Kunst gleichkommt ( ein besonders schönes Exemplar, heute in Schweizer Privatbesitz ). .

Die Weberei stellt sich tatsächlich für Ida als Glücksgriff dar, obwohl ihr die Arbeit körperlich zusetzt, die Enge in der Werkstatt und die Spannungen unter den Lehrerinnen ebenso. Ihre aus allen erdenklichen Materialien – Seide, Wolle, Stoffstreifen, Bast – angefertigten Decken und Teppiche kommen aber so gut an und bringen ihr später reichlich Kundschaft, so dass sie sich mit dem Verkauf ihrer Gobelins und Bildwebereien, eingangs noch dem Bauhaus verpflichtet, später dann frei in den folgenden Jahrzehnten durch manche Finanzkrise retten kann. Der Verkauf eines "Bodenteppich ( abstrakte Komposition" ( heute in Hofheim/Taunus ) an Paul Bekker, Ehemann ihrer Freundin Hanna, ermöglicht es Ida 1925, einen großen Webstuhl zu erwerben und und im Stuttgarter Atelier zu installieren.

Im Oktober 1923 entzieht sich Ida Kerkovius dem "despotischen Zwang" am Bauhaus endgültig, der von Gropius und ihrem ehemaligen Schüler Itten ausgeübt wird und kehrt erschöpft nach Stuttgart zurück. Mit dem Bauhaus ist sie sozusagen fertig, aber mit den Lehren Klees & Kandinskys beschäftigt sich aber weiter. Die folgenden Jahre scheinen hochproduktiv & glücklich zu sein:

Es entstehen zahlreiche Gemälde, Zeichnungen, Aquarelle und Pastelle ( vor allem auf Reisen ). In den folgenden Jahren kann sie an zahlreichen renommierten Ausstellungen teilnehmen, unter anderem in Berlin, Paris, Dessau, Stuttgart, Düren und bekommt sogar 1930 ihre erste große Einzelausstellung im Württembergischen Kunstverein. Ihre leuchtende Farbgebung, der eher ungewöhnliche Aufbau ihrer Bilder und ihr Abstraktionsvermögen begeistern Publikum wie Fachwelt .
Durch Paul Bekker, damals Intendant am Staatstheater Kassel, vermittelt, kann sie Kostüme für eine "Turandot" - Aufführung entwerfen. Auch die Bekanntschaft mit Alexej Jawlensky kommt durch die Bekkers zustande, der Ida attestiert: "Sie ist ganz Kunst." Es wird auch eine Zeit des Reisens, u.a. mit Adolf Hölzel in die Eifel und an die Nordsee. Sie selbst äußert sich 1926 in einem Brief an ihre Freundin Hanna:
"Ich bin fleißig und glücklich, weil ich male. Ein großes Bild - Landschaft ist entstanden, die Gestaltungsart recht abstract, aber doch mit einer neueren Note den früheren gegenüber, entschieden ein Fortschritt [...] Ich komme wieder viel mehr zu mir selbst, weil ich die Ausdrucksmittel immer mehr beherrsche. So ist das Leben schön u. nie langweilig." ( Quelle hier )
"Landschaft Monschau" (1929)
Stuttgart und seine Umgebung reizen sie ebenso stark wie die Landschaften auf Reisen zur Gestaltung. Doch darf man nie von einer 1:1 - Darstellung mit Wiedererkennungswert ausgehen:

Die Malerin nimmt "... nur die Elemente in das Bild hinein, die funktionell notwendig sind. Alles Zufällige und Nebensächliche schalte ich aus. So kann es passieren, dass in einem Bild Dinge enthalten sind, die überhaupt nicht in meinem Blickfeld lagen, die mir aber für ein gebautes Bild unentbehrlich waren." ( Quelle hier ) Diese Auffassung ist am Bild "Monschau" gut nachzuvollziehen, auf dem die Stadtkirche und das Rote Haus stark abstrahiert zu erkennen sind, das Bild aber vor allem mit blauen Formen gefüllt worden ist und nur ein stilisierter Hügel mit spitzem Haus links oben einen Kontrapunkt setzt.

Das Jahr 1933 markiert dann erneut eine wichtige Zäsur im Leben der inzwischen 54jährigen Malerin:

"Landschaft mit Figuren, Baum und Haus"
(1943)
Für sich persönlich schafft sie einen künstlerischen Durchbruch, indem sie ein erstes völlig gegenstandsloses Ölbild malt. Gleichzeitig wird sie in der Kunstwelt "eliminiert", weil ihre Bilder von den an die Macht gekommenen Nationalsozialisten aus öffentlichen Sammlungen wie der Kunsthalle Karlsruhe und der Staatsgalerie Stuttgart entfernt werden. In der berühmt - berüchtigten Ausstellung "Entartete Kunst" von 1937 in München wird dann auch ein kleines Bild von ihr - "Bild I" (Visionen)  aus dem Karlsruher Museum - präsentiert.

Auch wird über sie Ausstellungsverbot verhängt, allerdings kein Berufsverbot. So verschwindet Ida Kerkovius zwar aus dem öffentlichen Leben, kann aber weiterhin malen, darunter inzwischen reine Phantasiebilder. Das Gestalten mit Farben und Formen gewinnt an Priorität über das Gestalten von Erlebnissen, Natureindrücken und Gefühlen.

Nach dem Tode Hölzels 1934 unternimmt die Malerin jeden Sommer bis 1939 ausgedehnte Reisen nach Norwegen, Italien, Belgien, Frankreich, Bulgarien, Konstantinopel und immer wieder in die baltische Heimat. Die Reisen finden sich in ihrer Malerei wieder, meist als Aquarell oder Pastell, Techniken, mit denen man die Farben besonders zum Leuchten bringen kann.

Ihren Lebensunterhalt bestreitet sie primär weiterhin mit ihren Webereien. Dabei ist ihre ehemalige Schülerin und Freundin Hanna Bekker vom Rath behilflich, die heimlich u.a. auch mit der Kunst der Ida Kerkovius handelt und sie darüberhinaus  umfassend finanziell fördert. Daneben gibt die Malerin nach wie vor Malunterricht. Ihr Stil ist spielerisch & phantasievoll und Ausdruck einer permanenten Ideenfindung. So bemalt sie alles, was ihr unter die Finger kommt, auch Tapeten oder Postkarten.

1939 wird die deutschstämmige Familie Kerkovius im besetzten Riga wegen der Bestimmungen des Deutsch-Sowjetischen Grenz- und Freundschaftsvertrags nach Polen in den so genannten Warthegau umgesiedelt. Dabei gehen frühe Werke Idas verloren. Auch die künstlerische Isolation wiegt immer schwerer.

1946
1944 wird dann auch noch das Atelier in der Urbanstraße bei einem Bombenangriff zerstört, so dass ihr Œuvre aus der Zeit vor 1945 noch größere Lücken erfährt. Ida Kerkovius ist zunächst völlig verstört, findet aber im Reiheneckhaus ihres ehemaligen Schülers Albert Haberer zusammen mit dessen Schwestern einen Unterschlupf. An ihn schreibt sie:
"Der Schlag der mich getroffen hat war mit der härteste meines Lebens. Nie werde ich diese Nacht vergessen, da meine ganze Hoffnung in Schutt und Asche sank. Gerettet wurde nur das, was ich schon selbst früher bei Seite gebracht hatte: der große Webstuhl, viele Bilder, der alte Sekretär, meine Bücher und Kleider und Wäsche. Dagegen verbrannten sämtliche Möbel. In der Schreckensnacht wurde nicht ein Stück aus der brennenden Wohnung gerettet. Ich traure um jedes Stück, die mir so ans Herz gewachsen waren, als hätte ich liebe Freunde verloren,..." ( Quelle hier )
Erholung sucht sie bei der Freundin Hanna in Hofheim im Taunus. Dort schöpft sie wieder neuen Lebensmut - immerhin ist sie schon 65 Jahre alt - und hofft, wieder der "alte Mensch" zu werden.

Ein heiteres kleines Webwerk von 1949
Nach dem Krieg gewährt ihr der befreundete Geschäftsmann und Kunstsammler Erich Schurr mit seiner Frau Margarete, einer ehemaligen Schülerin Idas in den 1930er Jahren, Unterkunft  und Familienanschluss in einem der zwei auf dem Grundstück seiner Eltern in Degerloch ( Nägelestraße 5 ) befindlichen "Behelfsheimen".

In dieser für sie wichtigen Geborgenheit kann sie endlich wieder ihre künstlerischen Vorstellungen umsetzen. 1954 wird dann auf diesem Grundstück ein eigenes Gartenhaus für sie errichtet.  Nach dem Krieg entsteht in diesem Stadtteil oberhalb des südlichen Stuttgarter Kesselrandes eine Art Künstlerkolonie.

Trotz all der widrigen Erfahrungen im Dritten Reich setzt Ida Kerkovius ihr Schaffen mit unglaublicher Energie fort: "Das Jahr 1948 ist das ereignisreichste für mich", denn die Freundin Hanna Bekker vom Rath richtet ihr im Frankfurter Kunstkabinett und der Württembergische Kunstverein in Stuttgart jeweils Einzelausstellungen aus und bahnen damit die Rückkehr der Künstlerin in die Kunstwelt Nachkriegsdeutschlands an ( insgesamt 70 Ausstellungen sollen es dann noch insgesamt werden ). Schon zu Beginn der 1940er­ Jahre sind ihre Werke allerdings bestens in den privaten Kunstsammlungen im Stuttgarter Raum vertreten, doch in anderen Gegenden der jungen Republik hat es bis dahin weniger Nachhall gegeben...

Als eine der wenigen Überlebenden der Klassischen Moderne wird Ida auch aufgefordert, über ihre Kunst zu schreiben, und so verfasst sie 1949 den Text: "man will dass ich über mich schreibe". 1954 bringt Kurt Leonhard eine Biografie über die Malerin heraus, in der sie Rückschau hält: "Ich habe mich immer entwickeln können", erzählt sie ihm. Schwermut sei ihr keinesfalls fremd gewesen, aber sie habe nie "eine jener depressiven, unschöpferischen Perioden ( durchlitten; Erg. durch mich ), "über die so viele Künstler klagen".

1954, als 75jährige
Zwischen 1950 und 1965 reist sie  auch wieder ausdauernd – 1952 und 1954 nach Ischia, 1954 in die Bretagne, 1956 nach Südfrankreich und 1965 zum neuen Ferienhaus der Familie Haberer am Gardasee, bei der sie sogar von einem Filmteam des Südwestfunks begleitet wird.

1958 erhält sie aus der Hand des Bundespräsidenten Theodor Heuss das Bundesverdienstkreuz und ein Professorentitel wird ihr verliehen, ihr, die weiterhin Unterricht bis ins hohe Alter gibt.

Kerkovius - Fenster im Festraum des Stuttgarter Rathauses
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Sie wird Ehrenvorstandsmitglied des Deutschen Künstlerbundes,  erhält öffentliche Aufträge, darunter für Glasfenster im Stuttgarter Rathaus & Sozialamt, für das Landesgewerbemuseum und für den Andachtsraum der Universitätsklinik in Tübingen. Sie wird ausgezeichnet mit dem 1. Preis der Ausstellung "Ischia im Bilde deutscher Maler" in Heidelberg, verbunden mit einem vierwöchigen Aufenthalt auf der Insel. ( 1962 kommt dann die Ehrenmitgliedschaft der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste, Stuttgart dazu, im Jahr darauf Ehrenvorstandsmitgliedschaft des Deutschen Künstlerbundes zu ihren Meriten dazu. )

Aber erst die große Retrospektive im Württembergischen Kunstverein zu Ehren ihres 80. Geburtstags im Sommer 1959, bei der Johannes Itten die Eröffnungsansprache hält, markiert den Beginn des medialen Interesses an ihrer Person und ihrer Kunst, das in Zeitungen, Rundfunk und Fernsehen seinen Niederschlag findet. Die "letzte Grande Dame der Klassischen Moderne" ist lange unterschätzt worden, so wie man Frauen im Kunstbetrieb generell wenig eigenes Potential zutraut. Hinzu kommt bei Ida Kerkovius, dass ihre Malerei sinnlich und lebensfroh ist: "Man spürt ihre Lebenslust in ihren Bildern", schwärmt Velten Wagner, Museumsdirektor in Engen, wo 2017 eine Ausstellung mit ihren Werken stattgefunden hat. Und genau das habe ihr in einer eher strengen, intellektuell geprägten Kunstszene lange Zeit zum Nachteil gereicht.

Schon der Ehemann der Freundin Lily, Hans Hildebrandt, hat 1928 über sie geschrieben: "... so viele, viele Frauen, manche der besten, feinstorganisierten, intelligentesten ( seien nichts anderes; Erg. durch mich ) als große, große Kinder." "Kindhafte Freude am Spiel mit Farben" bescheinigt ihr denn auch 1948 die "Frankfurter Neue Presse". Sie sähe die "Welt mit Kinderaugen ... staunend, vereinfachend, verklärend",  meint noch 1964 der Kunsthistoriker Karl Diemer. Und immer haftet ihr das heiter-naive, farbtrunkene "Mädchen vom Baltikum" an. Als ob es weniger kunstvoll wäre, den Menschen mit der Kunst Heilung durch Form und Farbe zu bringen! Warum ist es weniger wert "im besten Sinne einer optimistischen Weltsicht" ( Till Briegleb an dieser Stelle ) zu malen?

Der Bilderschatz, den Ida Kerkovius den Menschen hinterlässt, macht zudem deutlich, dass sie sich keiner Kunstrichtung zugehörig gefühlt hat und Ismen ihr ziemlich schnurz sind. Einen Eindruck von der lebendigen, lernbegierigen, aufnahmebereiten, der so ganz besonderen Persönlichkeit der Ida Kerkovius erhält man über ihre zahlreichen Schüler, die auch das Credo der Künstlerin -  nicht das fertige Werk ist entscheidend, sondern der Weg dorthin - verinnerlicht haben. Ihr einstiger Schüler, der heute in Köln lebende bekannte Architekt Godfried Haberer, der nach 1945 an ihrem Unterricht im Malraum seines Elternhauses teilgenommen hat, äußert sich in Apolda so:
CC BY-SA 3.0 DE
"Sie war selbstbewusst, doch wie alle großen Meisterinnen und Meister, uneitel und bescheiden, stand ihr Werk im Mittelpunkt. Sie erschien immer sofort im Raum als Künstlerin, die Gewicht und etwas zu sagen hatte, ohne sich in den Vordergrund zu spielen. Denn sie hörte auch gut zu und hat nie Kritik geübt an den Arbeiten anderer oder ihrer Schüler, sondern bei ihnen nur Anregungen gegeben, wie sie aus ihrer Sicht ihr Bild weiterentwickeln würde. Sie strahlte immer Begeisterung aus, wenn sich in der Stille und Konzentration beim Malen Bilder allmählich entfalteten..." ( Quelle hier )

Nach langer und schwerer Krankheit, zuletzt an den Rollstuhl gefesselt, stirbt Ida Kerkovius am 8. Juni 1970 im Alter von neunzig Jahren in Stuttgart. Ihr letztes Werk, das Ölgemälde "Bel Vue" hat sie da nicht mehrfertigstellen können. Sie findet ihre letzte Ruhestätte auf dem Stuttgarter Waldfriedhof.

Eine ganze Reihe ihrer Nachkriegswerke kann man hier anschauen, über ihr gesamtes Schaffen gibt es einen tollen Überblick auf dieser Seite. Und ein Video über die Ausstellung in Engen gibt es auch, in dem viele schöne Bilder zu sehen sind . Es lohnt sich, meine ich, Ida Kerkovius neu zu entdecken.
Danke an Sunni für diese Anregung!





10 Kommentare:

  1. Man kennt so viele Künstlerinnen überhaupt nicht, Danke für diese interessante Vorstellung wieder. Das bunte Fenster ist wirklich ganz besonders schön. Und vielleicht hätte sie etwas weniger bescheiden sein sollen.
    Liebe Grüsse
    Nina

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  2. Liebe Astrid, sehr gern geschehen! Und du hast so ein tolles Portrait daraus gemacht, wunderbar. Ich empfand die Ausstellung als sehr bereichernd. Wie übrigens alle, die ich bisher in Apolda im kleinen Kunsthaus gesehen habe, und das sind wirklich viele. Was dort ein Kunstverein mit durchaus beschränkten Mitteln auf die Beine stellt, kann nicht genug gelobt werden. Auch das ist Osten! Sunni

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  3. Liebe Astrid,
    wer an der Kunstakademie in Stuttgart studiert hat, kennt Ida Kerkovius, dort ist sie fester Bestandteil des Unterrichts.
    Ich kannte sie sogar schon als Kind.
    Meine Schwester und mein Schwager haben einige Bilder von ihr in der Wohnung hängen, die sie schon in den früher 50er und 60er Jahren gekauft haben. Damals noch nicht so bekannt.

    Auf den Stuttgarter Waldfriedhof gehe ich demnächst, denn mit der historischen Seilbahn da rauf zu fahren und den Friedhof zu besuchen ist immer ein Erlebnis. Ja, das hat Stuttgart auch und noch viel mehr.
    Lieben Gruß Eva,
    danke für diesen Post über diese großartige Frau und Künstlerin, wer sie kannte, weiß, wie sie war.

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    1. Jetzt habe ich was vergessen liebe Astrid und mußte schmunzeln,
      Ida hatte wohnte in der Nägelestraße 5 und das Büro Eisenlohr befand sich in der Nägelstraße 7 und dort ist es heute auch noch.
      Ich bin jetzt ganz begeistert von deinem Bericht.
      Da kommen bei mir schöne Erinnerungen auf.

      Lieben Gruß Eva

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  4. Liebe Astrid,
    ich finde deine E-Mail nicht und schreibe dir auf diesem Wege, du mußt es ja auch nicht veröffentlichen.

    Das Bild auf dem der angebliche Ministerpräsident sein soll, ist Dr. Fiedler aber Dr. Fiedler war niemals Ministerpräsident von Baden-Württemberg und mir kam das schon komisch vor.
    Das Bild ist von hier:

    https://archiv.ub.uni-heidelberg.de/artdok/6058/1/Huber_Die_Sehnsucht_nach_der_Kunst_2014.pdf

    Die Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg kenne ich und den kannte ich nun wirklich nicht.

    Nicht böse sein, aber das stimmt so nicht.
    https://www.baden-wuerttemberg.de/de/regierung/ministerpraesident/ministerpraesidenten-seit-1952/

    Übrigens der Kunstsammler Schurr war ein enger Freund meiner Eltern.

    LG Eva

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    1. Schon geändert! In puncto baden-württembergische Ministerpräsidenten kennst du dich sicher besser aus, hab das Ländle ja schon mit acht Jahren verlassen 😉

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  5. Sie scheint wirklich ganz Kunst gewesen zu sein und selbstbewusst und eigenständig durch das Jahrhundert gewandert zu sein.
    Liebe Grüße
    Andrea

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  6. von Helga:

    Liebe Astrid,

    wie immer bewundernswert Deine Wiederbelebung von Künstlern, die keiner mehr kennt oder niemals gekannt hat. Ich kann das nur lesen, verinnerlichen, dazu etwas schreiben wäre Wasser in den Rhein getragen, Du sagst es alles ganz wunderbar und ich kann nur staunen. Meine 100 Frauen aus Deinem Buch für mich, sind bei Nr. 19 angekommen. Ich arbeite weiter daran und bedanke mich bei Dir und Deinem Blog. Alle guten Wünsche und herzliche Grüße von der Helga

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  7. Wie schön, dass du ein so tolles Porträt über sie gemacht hast.Ist es nicht unglaublich, dass die meisten Itten kennen, aber sie, deren Lehrer sie war, kaum oder nicht.Es zeugt schon von Charakater, dass sie sich noch mal ans Bauhaus begeben hat, obwohl sie schon so weit war.Sehr traurig finde ich, das so viel auch verloren ist.
    Mit welch Prädikaten kreative Frauen bedacht worden sind von Männern, die sich als Kritiker der hehren Kunst produzieren, ist immer wieder aufs neu erstaunlich bzw. unfassbar!
    Viele Grüße, Karen

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Danke, dass du dir für ein paar liebe Worte Zeit nimmst!

Ich wünsche mir allerdings nach wie vor, dass ein Name am Ende des Kommentars steht.
Da die anonymen namenlosen Kommentare zuletzt wieder zugenommen haben, hier der ausdrückliche Hinweis:

Ich werde sie ab jetzt wieder konsequent NICHT freischalten.

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