Donnerstag, 24. Januar 2019

Great Women # 169: Marie Juchacz

Über zehn Wochen ist es her, dass ich an dieser Stelle über die Verkündung des Wahlrechts für Frauen vor hundert Jahren berichtet habe. Vor fünf Tagen jährte sich zum hundertsten Mal der Tag der ersten reichsweiten Wahl zur  deutschen Nationalversammlung, bei der Frauen das aktive und passive Wahlrecht ausüben konnten. Und in knapp vier Wochen können wir des Tages gedenken, an dem zum ersten Mal eine Frau nach der Erlangung dieses Rechts als Parlamentarierin gesprochen hat: Marie Juchacz. Hier in Köln ist mir dieser Name immer wieder begegnet, ist sie doch auf dem Südfriedhof begraben, eine Straße in meinem ersten Schulbezirk nach ihr benannt und ein Zentrum für Betreutes Wohnen im Kölner Norden. Gründe genug, ihr meinen 169. Frauenpost zu widmen.
Auf der aktuellen Briefmarke
zum Frauenwahlrecht
ist auch Marie Juchacz abgebildet

Marie Juchazc kommt am 15. März 1879 als Marie Gohlke in Landsberg an der Warthe ( heute Gorzów Wielkopolski in der polnischen Woiwodschaft Lebus ) zur Welt.

Ihre Eltern, der Zimmermann Theodor Gohlke, und Henriette Heinrich, Arbeiterin in einer Mühle, aus einer Tagelöhnerfamilie stammend und eine ernste & schwerblütige Frau, die schon früh Waise geworden war, haben bereits einen Sohn, Otto (1871, weitere Kinder sind gestorben ) und werden später noch eine weitere Tochter, Elisabeth (1888), bekommen. Die Verhältnisse, in die Marie hineingeboren wird, sind materiell bescheiden, aber liebevoll:
"Wenn mein Vater sich unserem Haus näherte, sprang ich ihm gern entgegen und hängte mich in seinen Arm. Ich hatte immer etwas zu fragen, und er antwortete stets so ernsthaft, daß ich mich niemals verletzt fühlte oder später Scheu empfand. ...So erinnere ich mich, ihn einmal gefragt zu haben, warum er nun, trotzdem das große Haus am Markt fertig sei, noch immer kein Geld übrig habe, damit die Mutter mir endlich neue Stiefel kaufen könnte. Auch da leuchtete mir seine Antwort so vollkommen ein..." ( Quelle hier )
Landsberg ist damals, obwohl an die preußische Ostbahn angeschlossen, noch sehr ländlich geprägt. Für ein Mädchen mit einer solchen Herkunft gibt es nur eine kümmerliche Bildung in einer Volksschule.Die in Landsberg hat nur vier Klassen, bietet also kaum Lehrstoff und fordert das intelligente Mädchen nicht. Die ständige Wiederholung des bereits Gelernten bewirkt, dass es in Marie "rebelliert" und "gärt". Doch sie bleibt von Prügel verschont und bekommt ihre obligate "Eins". Da der Vater Mitglied im Gewerbe- und Handwerkerverein ist, kann er dessen Leihbibliothek nutzen und diese Bücher auch seinen Kindern zugänglich machen. So kann Marie ihren Bildungshunger ein wenig stillen...  

Mit vierzehn Jahren ist die Schulzeit beendet. Marie arbeitet nun in den unterschiedlichsten Haushalten. Dann verdingt sie sich in einer Netzfabrik und wird schließlich unter unvorstellbaren Bedingungen Wärterin in der "Provinzial-Landes-Irrenanstalt" in Landsberg. Dieser Lebensperspektive auf Dauer zu entkommen, gelingt in jener Zeit höchstens durch eine Eheschließung...

Marie leistet 1898 sich aber von ihrem Ersparten erst einmal eine Ausbildung in Weißnäherei & Schneiderei und findet in der Werk­statt des Schnei­der­meis­ters Bern­hard Juch­acz ei­ne An­stel­lung. Den heiratet sie 1903 eher aus Pragmatismus, weil sie mit der gemeinsamen Tochter schwanger ist. 1905 bekommt sie noch einen Sohn, Paul. Die Kinder bezeichnet sie später selbst als ihr "großes Glück" in der sonst glücklosen Ehe: Ihr Mann verschwendet die Gelder aus der gemeinsamen Haushaltskasse und wird ihr gegenüber gewalttätig, als sie Rechenschaft verlangt.

Durch Vater & Bruder ist Marie mit der Gedankenwelt der Sozialdemokratie vertraut, liest Bücher wie "Die Waffen nieder!" von Bertha von Suttner und "Die Frau und der Sozialismus" von August Bebel. Die Bekanntschaft mit Wilhelm Paetzel, gebürtig aus Landsberg und dort auch Reichstagskandidat, in der Verlagsbuchhandlung des "Vorwärts" in Berlin angestellt, bietet weitere Anregung.

Im Unterschied zu den meisten Frauen ihrer Zeit mag sich Marie nicht in das übliche Schicksal fügen, sondern tut Unerhörtes: Sie verlässt zusammen mit ihren beiden Kindern 1906 ihren Mann & die Provinz und geht nach Berlin. Dort ist die Freiheit, dort ist die Möglichkeit, sich politisch zu betätigen und Gleichgesinnte zu finden, dort stößt sich keiner daran, dass eine "Geschiedene" für einen schneidert. Dass es schwer werden wird, weiß sie: "Es war unser Ziel, wirtschaftlich Fuß zu fassen, und ich machte mir keinerlei Illusionen."

Marie Juchacz & Elisabeth Röhl 1919 in Weimar

Marie zieht erst einmal mit den Kindern zur großen Familie ihres Bruders Otto, der in der Stralauer Allee in Friedrichshain lebt. Bald kommt die jüngere Schwester Elisabeth, ebenfalls Schneiderin, nach. Die Schwestern leben mit Maries Kindern in einer Wohngemeinschaft zusammen ( ab 1908 in Nixdorf ), verdienen ihren Lebensunterhalt in Heimarbeit und brennen beide für ihre politischen Ziele: die Rechte der Frauen und Arbeiter. 1908 heiratet Elisabeth Gustav Röhl und bekommt selbst einen Sohn, Fritzmichael.

Zuerst besuchen die beiden jungen Frauen in Schöneberg den Frauen- und Mädchenbildungsverein. Solche Bildungsvereine gehören zu den einzigen legalen Möglichkeiten für Frauen, sich über ihre Lage auszutauschen, allerdings immer beobachtet von einem Polizisten, damit nichts "Unzüchtiges" oder "Aufrührerisches" besprochen wird. In Berlin entdeckt Marie in der bis dahin noch verbotenen politischen Frauenarbeit ihr rhetorisches Talent. Wenn sie in ihren Reden von den alltäglichen Plagen der Arbeiter und ihrer Frauen spricht, merkt man: Sie spricht aus ihren eigenen Lebenserfahrungen. 

Im August 1907 wird auf der internationalen sozialistische Frauenkonferenz in Stuttgart das uneingeschränkte allgemeine Frauenwahlrecht gefordert. Ein Jahr später wird das Verbot der Teilnahme an Vereinen und Versammlungen für Frauen tatsächlich aufgehoben, und Marie & Elisabeth dürfen Mitglied einer politischen Partei werden: Sie treten in die SPD ein.

Bald darauf wird Marie ein Sitz im Vorstand des Neuköllner Ortsvereins der Partei angeboten, um dort die sozialistische Frauenbewegung zu organisieren. Ein Jahr später wird sie in den Vorstand des Wahlkreisvereins Teltow-Storkow-Beeskow-Charlottenburg gewählt und damit bereits ein wichtiges Glied in der Parteiorganisation.

"Es hatte sich herumgesprochen, dass da zwei Frauen waren, die reden konnten", wird später Elisa­beths Sohn über seine Tante Marie und seine Mutter Elisabeth schreiben, und die beiden Frauen werden oft eingeladen, auf Versammlungen zu reden. Die Heimarbeit zur Sicherung des Lebensunterhaltes muss aber weiter geleistet werden. Die inzwischen nachgezogene Mutter betreut derweil die Kinder. Der Zusammenhalt unter Frauen, allen widrigen Umständen zum Trotz, erweist sch als tragfähiges Modell & Kraftzentrum: "Die Kinder mussten ernährt und erzogen werden. Das war wirtschaftlich schwer für eine einzelne Frau. Für zwei Frauen, die sich ergänzten, wurde es schon etwas leichter“, schreibt sie später in ihren Aufzeichnungen.

1911 - die Scheidung von Bernhard Juchacz ist nun amtlich -  geht Marie auf Versammlungsreisen, sozusagen in die "weite Welt" nach Sachsen, Thüringen, Frankfurt am Main, Bayern, Hamburg und in die obere Rheinprovinz. Ihr Bekanntheitsgrad wächst und wächst...

Von links nach rechts:
Marie Juchacz, Emil Kirschmann, Elisabeth Röhl
1913 wird ihr dann auf Vermittlung von Lui­se Zietz, der ein­zi­gen Frau im SPD-Vor­stand, der Posten als Sekretärin für Frauenfragen im SPD-Bezirk "Obere Rheinprovinz" in Köln angeboten. Dort soll sie Arbeiterinnen für die Sozialdemokratie begeistern.

Politik ist nun also immer mehr ihr Beruf. Möglich wird der Wechsel durch die Bereitschaft der Schwester, die vorläufig in Berlin die Kindern betreut.

Nach vier Monaten kommt Elisabeth nach Trennung von ihrem Mann mit den drei Kindern dann doch nach Köln. Sie wird dort den Sozialdemokraten Emil Kirschmann kennenlernen, den sie 1922 heiraten wird. Auch für Marie wird dieser ein treuer Freund & Vertrauter fürs ganze Leben werden...

Nach Beginn des Ersten Weltkriegs arbeitet Marie in der "Heimarbeitszentrale" mit und ist Mitglied der Lebensmittelkommission. Sie richtet Suppenküchen und Nähstuben ein, besucht nach Feierabend Soldatenwitwen und deren Kinder, verwaltet und organisiert die Verteilung lebensnotwendiger Güter wie Kleidung oder Möbel aus Hilfsfonds. Dafür kooperiert sie auch mit dem "Nationalen Frauendienst", von bürgerlichen Frauen betrieben, und dem "Stadtverband Kölner Frauenvereine". Auch die eigene Familie lernt Hunger & Not kennen. Eines ihrer Kinder ist unterernährt, das andere leidet an einer chronischen Blasenkrankheit. Marie begreift: Die Verbesserung der Lage der Frauen ist nicht ohne eine Lösung der sozialen Frage machbar.

1916 gerät die SPD in eine politische Krise mit anschließender Spaltung der Partei, und der Parteivorsitzende Friedrich Ebert bietet Marie die Stelle einer Frauensekretärin an, weil Luise Zietz sich nach der Spaltung der USPD angeschlossen hat. 1917 kehrt sie also nach Berlin zurück. Als "Zentrale Frauensekretärin" der SPD ist Marie gleichzeitig Mitglied des Parteivorstands und hat nun eine echte, bezahlte Vollzeitstelle.

Für die Querelen um die richtige politische Ausrichtung der Partei hat sie allerdings wenig übrig, denn nach den Erfahrungen im Rheinland mit dem ganzen Elend der Arbeiterschaft ist sie besessen von der Idee einer Wohlfahrtsorganisation der Partei. Die bittere Armut der Frauen & Kinder, der Kriegsheimkehrer und Invaliden soll in Zukunft nicht mehr durch Almosen und bürgerliche Hilfsorganisationen gelindert werden, sie setzt auf Solidarität, soziale Arbeit für die Alten, Bildungschancen für die Jungen und die  Möglichkeit der "sozialen Selbsthilfe" - ihr Leitmotiv! 

Bei der ersten Wahl der jungen Republik nach dem Ende des 1. Weltkrieges, wird Marie Juchacz auch als eine von 37 Frauen in die Weimarer Nationalversammlung gewählt:

Die weiblichen Abgeordneten der SPD der ersten Weimarer Nationalversammlung:
Elisabeth Röhl ganz links stehend, Marie Juchacz ist die Dritte von rechts, sitzend
© Historisches Museum Frankfurt, Foto: Horst Ziegenfusz




Von Freiheit und Wahlrecht lässt sich aber weder Brot kaufen noch Kinder erziehen, so ihre Ansicht. Noch 1919, am 13. Dezember, gründet Marie Juchacz die Arbeiterwohlfahrt ( die in diesem Jahr also auch ihr hundertjähriges Jubiläum begehen darf ). Dazu muss sie sich den Segen des SPD-Vorstands holen, kann diesen aber überzeugen und so glückt ihr ein erster Etappensieg.  

Es ist auch Marie Juchacz, die die erste Rede einer Parlamentarierin in der Deutschen Nationalversammlung hält. Man muss darüber spekulieren, ob die immer wieder als bescheiden beschriebene Frau diese Situation genießt, ungeheuerlich ist es für jene Zeit allemal: Da spricht nicht nur eine Frau, nein, eine geschiedene, alleinerziehende, sozialdemokratische Frau mit ganz eigenem eigenem Kopf!
"Meine Herren und Damen! (Heiterkeit). Es ist das erstemal, daß in Deutschland die Frau als Freie und Gleiche im Parlament zum Volke sprechen darf, und ich möchte hier feststellen, und zwar ganz objektiv, daß es die Revolution gewesen ist, die auch in Deutschland die alten Vorurteile überwunden hat. (Sehr richtig! bei den Soz.) Die Frauen besitzen heute das ihnen zustehende Recht der Staatsbürgerinnen. Gemäß ihrer Weltanschauung konnte und durfte eine vom Volke beauftragte sozialistische Regierung nicht anders handeln, wie sie gehandelt hat. Sie hat getan, was sie tun mußte, als sie bei der Vorbereitung dieser Versammlung die Frauen als gleichberechtigte Staatsbürgerinnen anerkannte. (Sehr richtig! bei den Soz.) 
Ich möchte hier feststellen und glaube damit im Einverständnis vieler zu sprechen, daß wir deutschen Frauen dieser Regierung nicht etwa in dem althergebrachten Sinne Dank schuldig sind. Was diese Regierung getan hat, das war eine Selbstverständlichkeit: sie hat den Frauen gegeben, was ihnen bis dahin zu Unrecht vorenthalten worden ist. (Sehr richtig! bei den Soz.) 
Wollte die Regierung eine demokratische Verfassung vorbereiten, dann gehörte zu dieser Vorbereitung das Volk, das ganze Volk in seiner Vertretung. Die Männer, die dem weiblichen Teil der deutschen Bevölkerung das bisher zu Unrecht vorenthaltene Staatsbürgerrecht gegeben haben, haben damit eine für jeden gerecht denkenden Menschen, auch für jeden Demokraten selbstverständliche Pflicht erfüllt. Unsere Pflicht aber ist es, hier auszusprechen, was für immer in den Annalen der Geschichte festgehalten werden wird, daß es die erste sozialdemokratische Regierung gewesen ist, die ein Ende gemacht hat mit der politischen Unmündigkeit der deutschen Frau. (Bravo! bei den Soz.) Durch die politische Gleichstellung ist nun meinem Geschlecht die Möglichkeit gegeben zur vollen Entfaltung seiner Kräfte. Mit Recht wird man erste jetzt von einem neuen Deutschland sprechen können und von der Souveränität des ganzen Volkes...." ( Originalton hier zu hören )
Die erste Parlamentsrednerin wird auch in den "Ausschuss zur Vorbereitung des Entwurfs einer Verfassung des Deutschen Reichs" gewählt. Sie spricht sich bei der Abfassung des Paragraphen 9 für die Formulierung "Männer und Frauen haben die gleichen staatsbürgerlichen Rechte" aus, aber vergebens: Das Gleichheitsgebot wird durch die Einfügung des Wortes "grundsätzlich" verwässert. 

1920 tritt Marie für die SPD erneut bei der Reichstagswahl an, wird gewählt und dem Reichstag bis 1933 angehören. Sie wird sich in diesen Jahren um sozialpolitische Fragen und Themen wie der Reform des Ehescheidungsgesetzes & des Paragrafen 218 StGB,  um den Müt­ter- und Wöch­ne­rin­nen­schutz, die Ju­gend­hil­fe und ei­ne Än­de­rung der Rechts­stel­lung nicht­ehe­li­cher Kin­der kümmern.

Schon im Januar 1920 hat Ma­rie, un­ter­stützt von der preu­ßi­schen Land­tags­ab­ge­ord­ne­ten Hed­wig Wachen­heim, den "Haupt­aus­schuss für Ar­bei­ter­wohl­fahrt" (AWO) ins Le­ben gerufen. Die AWO ent­wi­ckel­t sich un­ter ih­rem Vor­sit­z zu ei­ner mächtigen Or­ga­ni­sa­ti­on mit Schu­lungs­ein­rich­tun­gen für So­zi­al­ar­bei­ter, Kin­der­gär­ten und Er­ho­lungs­hei­men. Bis zu ih­rer Auf­lö­sung 1933 wird sie 135.000 eh­ren­amt­li­che Mit­glie­der in 2.600 Orts­aus­schüs­sen mit 1.414 Be­ra­tungs­stel­len haben! 

Die Grund­idee der AWO ist ei­ne vom de­mo­kra­ti­schen Geis­te und der Nächs­ten­lie­be ge­präg­te Wohl­fahrts­pfle­ge. Ein Ziel ist die Verbesserung der staatlichen Fürsorge, die nicht mehr unterscheidet, ob jemand der Hilfe würdig ist oder nicht wie bisher,  sondern alles, was heilbar ist, heilt und das, was unheilbar ist, versorgt. Die Bekämpfung der Ursachen der Armut hingegen bleibt die Aufgabe der Politik. 

In den folgenden Jahren pendelt Marie Juchacz zwischen Parlament, Partei und Arbeiterwohlfahrt hin und her. Ihre spätere Weggefährtin in New York, Eva Pfister, wird später über sie sagen: "Die Liebe und Hingabe an ihre eigenen Kinder trat in den Hintergrund gegenüber der Sorge um das Schicksal aller Kinder." Doch Lotte und Paul dürften sich wohl aufgehoben gefühlt haben in der Gemeinschaft, die sie mit ihrer Tante Elisabeth, deren Ehemann und ihrem Cousin im 1926 von Marie im Stadtteil Köpenick erworbenen Siedlungshaus gebildet haben. Bald nimmt Lotte auch ein Jurastudium auf und Paul wird Landwirtschaftlicher Verwaltungsassistent und sie verlassen das "Nest".

© AdsD / Friedrich-Ebert-Stiftung 
Besonders stolz ist Marie auf die ab Oktober 1928 von der AWO in Berlin betriebene Wohlfahrtsschule, in der Frauen und Männer aus der Arbeiterschaft zu Fürsorgerinnen und Fürsorgern ausgebildet werden. 
Schon zwei Jahre zuvor ist die erste Ausgabe der Fachzeitschrift "Arbeiterwohlfahrt" erschienen - Federführung: Marie Juchacz. Die Herausgabe einer eigenen Schriftenreihe und eines Lehrbuchs für die Wohlfahrtspflege folgen alsbald. Marie verbreitet in diesen Schriften fortschrittliche Ansichten und eine aufklärerische Haltung, auch in puncto Sexualität und Verhütung. So trägt sie Unschätzbares zur Modernisierung und Professionalisierung der sozialen Berufe in Land bei. 

Im Februar 1930 wird Marie zusätzlich noch zur Vorsitzenden der Internationalen Arbeiterwohlfahrt gewählt, doch die zuversichtliche Stimmung wandelt sich, einmal aufgrund der Entwicklung der politischen Verhältnisse in der Endphase der Weimarer Republik, aber auch durch einen persönlichen Schicksalsschlag: Schwester Elisabeth stirbt überraschend im September 1930, 42jährig, in Köln. Das ist ein riesiger Einschnitt in Maries Leben: "... das ständige kameradschaftliche Zusammensein mit Elisabeth (war) die am stärksten wirkende Kraft in meinem Leben."

Als die Nationalsozialisten die Macht übernehmen, wird das Leben vollends gefährlich für die prominente SPD-Abgeordnete & Frauenrechtlerin, die am 24. März 1933 im Reichstag noch gegen das "Ermächtigungsgesetz" gestimmt hat. Die Hauptgeschäftsstelle der AWO wird am 12. Mai besetzt, Guthaben & Güter konfisziert. Die meisten Mitglieder des Parteivorstandes der SPD gehen ins Exil nach Prag, fordern Marie allerdings nicht auf mitzukommen, was sie enttäuscht.

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Marie verschlägt es mit dem Witwer ihrer Schwester und dessen neuer Lebensgefährtin Käthe Fey nach Saarbrücken, wo sie einen Mittagstisch in ihrer Wohnung einrichtet, der zur Anlaufstelle für alle neuen Geflüchteten wird. Praktische Nächstenliebe auch unter diesen widrigen Umständen ist ihr wichtig.

Als sich 1935 die Bevölkerung des Saarlandes beim Volksentscheid für Nazideutschland entscheidet, weicht Marie nach Mühlhausen im Elsass aus. Bei Ausbruch des Zweiten Weltkrieges "säubern" die Franzosen den Elsass von deutschen Flüchtlingen. Marie kommt via Paris nach Marseille und von da gelangt sie nach einigen Wirrungen 1941 mit einem Notvisum auf einem Frachter über Martinique nach New York.

Dort kommt sie erst einmal in einem Quäkerheim in Iowa unter, wo die 62jährige Englisch lernt, bis sie zu dem inzwischen schwer erkrankten Emil Kirschmann & der mit ihm jetzt verheirateten Käthe Fey ziehen und andere Flüchtlinge betreuen kann. Eva Pfister erinnert sich an dieser Stelle an die  "Wärme und Anteilnahme und ihre Stärke", die Marie im Kreis der New Yorker Exilanten ausgestrahlt hat.

1945 gründet sie die "Arbeiterwohlfahrt USA – Hilfe für die Opfer des Nationalsozialismus", die mit Paketsendungen nach Kriegsende Menschen im zerstörten Deutschland unterstützt. Marie wird schließlich deren Präsidentin und mit einer anerkennenden Feier verabschiedet, als sie sich im Januar 1949 in Richtung Deutschland aufmacht:
"Ein restloses Glücksgefühl ist es nicht, wieder heimgekommen zu sein. Politisch enttäuscht bin ich nicht. Wir drüben haben ja immer gewußt, daß die Entwicklung einen langsamen, schweren, mühseligen Weg hier in Europa und in Deutschland gehen muss." Das schreibt sie an die New Yorker Freundin Eva Pfister.

Sie wohnt zuerst bei ihrem Sohn Paul und dessen Kindern, genießt das Zusammensein mit ihren Nachkommen, aber ein Omaleben auf dem Lande ist nichts für die Siebzigjährige. Im Oktober 1949 wird sie Ehrenvorsitzende der Arbeiterwohlfahrt -  das ist eher der Platz, auf dem sie sich wohl fühlt. Sie besucht Berlin, nimmt an Konferenzen teil, wie der sozialdemokratischen Bundesfrauenkonferenz 1951, schreibt ein Buch "Sie lebten für eine bessere Welt - Lebensbilder führender Frauen des 19. und 20. Jahrhunderts", bis sie 1955 schwer an Krebs erkrankt. Sie lebt  dann bei Käthe Veith - Kirschmann in Düsseldorf, die sie pflegt.

Landesfrauenkonferenz Fulda 1951
Marie Juchacz in der Mitte; ganz rechts spricht Elisabeth Selbers
© AdsD / Friedrich-Ebert-Stiftung - mit freundlicher Erlaubnis




















Dort stirbt Marie Juchacz am 28. Januar 1956, also vor 63 Jahren, und findet ihre letzte Ruhestätte im Grab der Schwester Elisabeth auf dem Kölner Südfriedhof.

Geehrt wird sie nach ihrem Tod, indem in etlichen Städten Straßen nach ihr benannt werden, zwei Briefmarken herausgegeben ( 1996 und 2003 ), ein Sitzungssaal im Reichstagsgebäude, ein weiterer im Stadtrat von Weimar sowie ein ICE ihren Namen tragen. Im Sommer 2017 erhält die Gründerin der Arbeiterwohlfahrt am Kreuzberger Mehringplatz ein Denkmal. Für dieses Jahr hat die SPD aus Anlass des hundertjährigen Jubiläums des Frauenwahlrechtes einen einmaligen Marie-Juchacz-Preis ausgelobt, für den sich Menschen zwischen 16 und 27 bewerben können, die "innovative zivilgesellschaftliche Projekte" betreiben "sowie Initiativen, die sich gemeinnützig für mehr politische Beteiligung von Frauen engagieren.

Keine schlechte Idee, an diese initiative großartige Frau zu erinnern, die auch ein Vorbild sein könnte:

Marie Juchacz steht bis heute vor allem für eins: Sie lebte bedingungslos für eine bessere Welt. Ihre Hingabe an die gemeinsame Sache hatte ihre Wurzeln in ihrer Überzeugung und der Gemeinsamkeit mit anderen, die ihre Ideen teilten. Das traditionelle Aufstiegsversprechen der alten Sozialdemokratie traf in ihrer Person auf einen unbändigen Selbstverbesserungswillen, etwas, das ich heute bei manchen Zeitgenossen vermisse.  Ich denke da manchmal an das viel beschworene Scheibe - Abschneiden...



17 Kommentare:

  1. Wieder bringst Du uns ein bewegtes Frauenleben näher. Wie immer, sehr interessant und ja, Scheibe abschneiden - auch selber.
    Liebe Grüsse
    Nina

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  2. Ich denke, dass du eine würdige Preisträgerin für den Marie-Juchacz-Preis wärest.

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    1. Danke, liebe Doro, viel zu viel der Ehre! Wenn ich nur einen Bruchteil dessen geleistet hätte für andere, wäre ich schon froh.
      LG

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  3. Liebe Astrid, vielen herzlichen Dank für diesen wunderbaren Text. Gleich der erste Link hat mich fast um die Pünktlichkeit zu einem Zahnarzttermin gebracht. Das werde ich heute abend alles lesen. Eine wunderbare starke Frau! Beste Grüße von Rela

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  4. Die AWO spielt(e) in unserer Arbeiter-Stadt immer eine große Rolle. Da hat Marie Juchacz eine große Wirkkraft bis heute. Auch wenn die Arbeiter-Stadt inzwischen keine mehr ist. Das Bewußtsein dafür gibt es immer noch und eine SPD-Stadtregierung im schwarzen Bayern auch...
    Danke für das Vorstellen dieser kraftvollen Frau, die selbst Geschichte geschrieben hat und doch von der Geschichte und vom Leben sehr gebeutelt wurde. Aber niemals aufgegeben hat und immer eine Vision und ein Ziel hatte. Davon können wir uns wirklich eine Scheibe abschneiden.
    Herzlichst, Sieglinde

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  5. Liebe Astrid,
    welch bemerkenswerte Frau. Wenn ich von solchen Frauen lese, denke ich oft: "Was bin ich doch für ein kleines Licht."
    Ich fände es so toll, wenn Du ein Buch mit all Deinen Frauenportraits herausgeben würdest, ich würde es an meine engsten Freundinnen verschenken.
    viele Grüße Margot

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  6. Da sage ich nur "Hut ab, vor dieser Frau!"
    LG Heidi

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  7. den Gedanken ein Buch zu entwerfen mit all den wunderbaren Biografien nehme ich gerne von der lieben Margot auf!! das wäre herrlich. Überlegst du es dir???
    Und der Post zu Marie Jucharz hat mich wieder etwas Neues gelehrt. Das sie die Arbeiterwohlfahrt gegründet hat wußte ich nicht. Ich habe mich auch bis heute nicht mit ihrer Biofrafie beschäftigt, obwohl wir in unserer Stadt eine Marie-Jucharz-Strasse haben, gleich im Anschluß an die Konrad-Adenauer-Brücke
    Danke für dieses Frauenporträt.
    Gruß zu dir nach Kölle ( bald geht es los!! )
    heiDE

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  8. Danke für dieses wunderbare Portrait einer so tatkräftigen und unermüdlichen Frau. Was hatte sie für einen Willen, eine Energie und Liebe zu den Mitmenschen!
    Liebe Grüße
    Andrea

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  9. Sie machen einfach Mut, deine Frauenporträts! Danke! Zu sagen gibts auch heutzutage viel. Der österreichische Innenminister hält die EU Menschenrechts-Konvention für "so was Altes aus den 50er". Wir gebildete, herzliche, starke Frauen müssen widersprechen. Auch heute noch. Sonst bekommen Sie Oberhand, die ewig Gestrigen.

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  10. Eine tolle Frau! In ihrem Denken ihrer Zeit ganz weit voraus. Wenn ich bedenke, dass noch in meiner Jugend eine geschiedene Frau wie ein Paria behandelt wurde. Ich lese Deine Frauenporträts so gerne.
    Liebe Grüße
    Sabine

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  11. Ihr Lieben, die Buch - Idee wird immer wieder an mich herangetragen. Ich forsche allerdings lieber und schreibe mit Begeisterung neue Frauenleben auf, als dass ich mich mit rechtlichen Fragen und Druckvoraussetzungen usw. herumschlage. Ein Freund hat mir allerdings zum Geburtstag Kontakte zur Kölner Verlagsszene avisiert und die Übernahme all der mir unangenehmen Arbeiten. Schaun mer mal.
    LG

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  12. heute morgen kurz nach dem erwachen gelesen. ich musste schlucken. danke dafür! danke dafür, dass man zwischen den zeilen auch immer deine großartige bewunderung für diese frauen und dein herzblut für diese serie herausliest.
    liebst,
    jule*

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  13. ich bin begeistert von marie juchacz. und ein bisschen entsetzt, dass ich nichts über sie wusste. da hab ich viele jahre mit der awo zusammengearbeitet und kannte nicht mal ihre gründerin. wie gut, dass sie - auch durch die gute aktion des marie-juchacz-preises und das 100jährige bestehen der awo - wieder mehr in den mittelpunkt gerückt wurde.
    wenn ich mir allerdings die neusten zahlen des frauenanteils in den länderparlamenten anschaue, frage ich mich, was da heute immer noch nicht stimmt. beispiel niedersachsen: frauenanteil 26,3 % und nrw 27,1 %. da gibt es wohl noch viel zu tun!
    liebe grüße - und die daumen sind gedrückt für eine veröffentlichung deiner tollen great-women-portraits.
    mano

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  14. Wiedermal eine tolle Frau und ein tolles Porträt. Auch weil ich erst die Tage begriffen habe, wie viel Arbeit in ihnen steckt (ich sage nur Urheberrecht!). Vielen Dank Astrid

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  15. Danke für deine Mühe, uns wieder mal eine tolle Frau vorzustellen. Anscheinend gibt es so viele die wir noch nicht kennen, weil Frauen doch oft im Verborgenen wirken!

    Liebe Grüße
    Augusta

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  16. wieder eine bemerkenswerte Frau
    die viel bewirkt hat und sich nicht beirren ließ
    und wer immer noch sagt.. ach ich alleine kann doch nichts bewirken..
    der sollte sich einmal all die Portraits dieser großartigen Frauen anschauen
    "Eine" und oft gegen den Rest der Welt
    sie schufen Bleibendes ..

    liebe Grüße
    Rosi

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Danke, dass du dir für ein paar liebe Worte Zeit nimmst!

Ich wünsche mir allerdings nach wie vor, dass ein Name am Ende des Kommentars steht.
Da die anonymen namenlosen Kommentare zuletzt wieder zugenommen haben, hier der ausdrückliche Hinweis:

Ich werde sie ab jetzt wieder konsequent NICHT freischalten.

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