Donnerstag, 6. September 2018

Great Women # 153: Inge Aicher - Scholl

Die von mir heute porträtierte Frau ist in mein Blickfeld gerückt, als ich mich mit ihren jüngeren Geschwistern beschäftigt habe, denn in typischer Große - Schwester - Manier hat sie sich lebenslang um sie "gekümmert" und die Erinnerung an sie bewahrt & bestimmt. Dass sie darüber hinaus auch mir wichtige andere Schwerpunkte in ihrem Leben gesetzt hat, hat sie mir noch interessanter gemacht, so dass ich sie auf meine lange Liste interessanter Frauenpersönlichkeiten gesetzt habe. Die Rede ist heute von Inge Aicher - Scholl.

Inge Scholl kommt am 11. August 1917 in Ingersheim-Altenmünster ( heute zu Crailsheim gehörig ) als erstes von sechs Kindern der Magdalena "Lina" Müller und des Wirtschaftsprüfers Robert Scholl zur Welt.

Da die Familie, in die Inge hinein geboren wird, eine ganz besondere Familie der Zeitgeschichte ist, werde ich auch immer ein paar Schlenker in diesem Porträt zur Gesamtfamilie unternehmen:
Inges Vater, ein Verwaltungsfachmann, stammt aus einer Bauernfamilie im Hohenlohischen und hat im Ersten Weltkrieg als Sanitäter gearbeitet. Als er die furchtbaren Verwundungen der Soldaten erlebt, kommt ihm die Erkenntnis, dass Krieg als Mittel zur Lösung von Konflikten einfach nicht taugt. Daraus erwächst eine liberale & pazifistische Grundhaltung und ein Verantwortungsbewusstsein, das motiviert, sich in kommunalen Strukturen einzubringen. 1917 wird Robert Scholl Schultheiß in der damals noch selbstständigen Gemeinde Ingersheim-Altenmünster.
Da ist er schon ein Jahr mit Lina verheiratet, einer stark pietistisch beeinflussten, aber warmherzigen, zehn Jahre älteren Frau aus Künzelsau, die er als Diakonisse in einem Lazarett in Ludwigsburg kennen und lieben gelernt hat. Ein glückliches Paar, trotz der weltanschaulich - religiös divergenten Anschauungen, denn beide halten nichts vom "mainstream". Von diesen Eltern werden die Kinder später lernen, "zu denken und zu glauben." ( Robert M. Zoske hier )
Noch in Ingersheim bekommt Inge 1918 einen Bruder, Hans. 1920 zieht die Familie weiter von der Jagst an den Kocher nach Forchtenberg. Dort wirkt der Vater wieder als Schultheiß bis 1930 ( so lange war dieser Begriff im Württembergischen für den Bürgermeister auch noch üblich ). Dann wird er nicht mehr wieder gewählt, obwohl er den Forchtenbergern einen Bahnanschluss und ein Sportzentrum verschafft hat, denn Robert Scholl ist nicht der übliche "Viertelestrinker", meidet also den Stammtisch, und passt mit seiner liberalen Einstellung nicht wirklich in eine Gemeinde, in der die NSDAP schon im Juli 1932 über 70 Prozent der Stimmen holen wird.

Die Scholl - Familie in Forchtenberg
© Elisabeth Hartnagel
Nach einem kurzen Zwischenspiel als Leiter der Handwerkskammer Stuttgart mit Wohnung in Ludwigsburg lässt sich Robert Scholl 1932 als Steuerberater und Wirtschaftsprüfer in Ulm nieder. Inzwischen ist die Familie auf sieben Personen angewachsen, und Inge hat noch in Forchtenberg die Geschwister Elisabeth (1920), Sophie (1921), Werner (1922) und Thilde (1925), die allerdings schon mit neun Monaten an Masern verstirbt, bekommen. Dazu gehört noch Ernst Gruele, zwei Jahre älter als Inge, aus einem vorehelichen Verhältnis Robert Scholls. Die große Geschwisterschar scheint einen sehr guten Zusammenhalt zu haben und genügt sich oft selber. 
"Eines Morgens hörte ich ein Mädchen auf der Treppe der Schule einem anderen sagen: "Jetzt hat Hitler die Regierung übernommen." Radio und Zeitungen versprachen: "Jetzt wird es in Deutschland bessere Zeiten geben. Hitler ist am Ruder.Zum ersten Mal war die Politik in unser Leben getreten. Hans war zu der Zeit fünfzehn, Sophie zwölf. Wir hörten viele Reden über das Vaterland, die Kameradschaft, die Einheit des Volkes und die Liebe zum Vaterland. Das war beeindruckend, und wir haben genau zugehört, als wir in der Schule und auf der Straße so etwas gehört haben." ( Quelle hier )
Inge, Schülerin an der Mädchen-Realschule Ulm, wird bald nach der Machtergreifung "Ringführerin" bei den "Jungmädel" (BDM) in Ulm. "Mit Leib und Seele gehöre ich Hitler", schreibt sie am 15. Mai 1933 in ihr Tagebuch. Ihr Bruder Hans - seit 1931 Mitglied beim "Christlichen Verein junger Männer"(CVJM) - tritt in die "Hitler-Jugend" (HJ) ein und übernimmt gegen den Willen der Eltern dort eine Leitungsposition. Auch Sophie wird im Januar 1934 Mitglied im BDM. Sie geht völlig in den Aktivitäten ihrer Jungmädel-Gruppe auf und bringt es bis zur Scharführerin. Werner, das jüngste der fünf Scholl-Kinder, ist der Erste, der gegen das Dritte Reich aufmucken wird: Im Alter von 15 Jahren verbindet er die Augen der Justitia vor dem Landgericht in Ulm mit einem Hakenkreuztuch.

Robert Scholl, der dem Nationalsozialismus ablehnend gegenüber steht, führt heftige Auseinandersetzungen mit seinen Kindern, kann sich aber nicht durchsetzen. "Das haben wir Kinder einfach damit abgetan, dass er zu alt für so was ist und es nicht begreift", kommentiert Elisabeth Scholl später. Die Geschwister lieben die Gemeinschaft in den Jugendgruppen und sind fasziniert von der "Führerfigur". Außerdem - so Inge - fühlen sie sich auf eine bemerkenswerte Art und Weise ernst genommen und einem großen, gut organisierten "Volkskörper" zugehörig. Das befeuert ihre Begeisterung, und Inge genießt beim BDM vor allem die Uniformierung, die Aktivitäten im Freien, die Versammlungen mit gemeinsamem Singen, Lesungen und Spielen: "Da wird Deutschland immer einiger."

Inge mit ihrem Vater Robert (19)
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1934 geht Inge von der Realschule mit der "Mittleren Reife" ab, um eine Ausbildung zur Steuerfachgehilfin bei ihrem Vater zu beginnen, obwohl ihr Schulleiter den Vater von der Begabung seiner Tochter zu überzeugen versucht und ihm einen Besuch der Oberstufe ohne Zahlung eines Schulgeldes in Aussicht stellt. Nach Aussage ihrer Schwester Elisabeth und ihrer Freundinnen ist Inge besonders sprachbegabt, auch rhetorisch versiert und musikalisch interessiert. Im Anschluss an ihre Ausbildung wird Inge als Mitarbeiterin im Treuhand-Büro des Vaters bleiben.

Ein erster Zweifel an der Richtigkeit ihrer Weltanschauung schleicht sich dann doch in Inges Gemüt: Eines Abends während eines Lageraufenthaltes bemerkt ein Mädchen: "Alles wäre in Ordnung, aber dieses Ding über die Juden kann ich nicht schlucken." Der verantwortliche Leiter rechtfertigt die Verabschiedung der Nürnberger Gesetze: "Hitler weiß, was er tut, und wir müssen im Interesse des größeren Gutes gewisse schwierige und unverständliche Dinge akzeptieren." ( Das habe ich mir auch noch Jahrzehnte nach den Ereignissen anhören dürfen... )

Inge, Hans, Werner und Sophie sowie Elisabeth Scholl in den 1930er Jahren


Ein weiterer Schatten legt sich auf die sonst so glasklare Überzeugung, als Bruder Hans von einer Veranstaltung in Nürnberg, für die er als Fahnenträger ausgewählt worden ist, heimkehrt & berichtet, die Anführer haben ihm gesagt, dass seine Lieder nicht erlaubt seien. "Warum sollte es verboten sein, diese Lieder zu singen? Sie waren so voller Schönheit? Nur weil sie von anderen Rassen erschaffen worden waren?"
Schwester Elisabeth dazu später: "Zuerst sahen wir, dass man nicht mehr lesen konnte, was man wollte, oder bestimmte Lieder singen. Dann kam die Rassengesetzgebung. Jüdische Klassenkameraden mussten die Schule verlassen. " ( Quelle hier )
Inge und Sophie arbeiten trotzdem noch engagiert im BDM mit, während Hans und Werner sich abwenden und sich der Bündischen Jugend anschließen, die die Lebensform der Deutschen Jungenschaft vom 1.11.1929 fortsetzt, was das Singen bündischer Lieder und sogenannte "Kohtenfahrten", aber auch eine Offenheit gegenüber homoerotisch gefärbten Jungenfreundschaften einschließt. Prompt geraten sie zusammen mit Inge & Sophie 1937 in die Gewalt der Gestapo. Die gerade erst sechzehnjährige Sophie darf am gleichen Tag nach Hause - zum endgültigen Bruch mit den Jungmädeln kommt es bei ihr aber erst im Verlaufe des Jahres 1938.

Auch Inge und Werner werden bald wieder entlassen, doch die Verhaftung bewirkt allmählich eine immer größer werdende Distanz zum Nationalsozialismus. Der Vater tobt, so erinnert sich Inge: "Wenn die meinen Kindern etwas antun, gehe ich nach Berlin und knalle ihn ( Hitler - Erg.d.mich ) nieder." Einen solchen Satz vergesse man nicht, so Inge, "weil er das Gefühl gibt: Du stehst auf Granit.

Bald gibt es kein Zurück mehr, auch, weil die Gestapo das Haus der Scholls durchsucht, Tagebücher, Gedichte, Essays, Volksliedsammlungen konfisziert, um Beweise für die Mitgliedschaft in einer illegalen Organisation zu finden.

Sicher ist, dass Eltern & Kinder 1938/39 wieder miteinander ins Gespräch kommen, und sich eine Übereinstimmung in der Anschauung entwickelt, dass der von Hitler entfesselte Krieg auch das Ende der Naziherrschaft einläuten werde. Die Verhältnisse in Deutschland werden als zunehmend belastend empfunden:
"Wir lebten in einer Gesellschaft, in der Despotismus, Hass und Lügen zum Normalzustand geworden waren. (... ) Versteckte Ohren schienen alles zu hören, was in Deutschland gesprochen wurde. Der Schrecken war an deiner Seite, wohin du auch gingst," so Inge.
Otl Aicher
Im Sommer 1939 lernt sie Otl Aicher kennen, einen Klassenkameraden ihres Bruders Werner, der als überzeugter Jungkatholik großen Einfluss auf die 22jährige haben wird und der orientierungslos gewordenen jungen Frau den Katholizismus als Gegenentwurf zur NS-Ideologie nahe zu bringen versucht. Auch Otl Aicher ist 1937 wegen seiner Weigerung, der HJ beizutreten, verhaftet worden und darf 1941 deshalb auch nicht das Abitur ablegen.

1942 wird Inges Vater für vier Monate inhaftiert, weil er Hitler als "Geißel Gottes" bezeichnet hat.

Vom Widerstand ihrer Geschwister Hans und Sophie an der Münchner Universität wissen Inge sowie die Eltern jedoch nichts: Als Mitglieder einer studentischen Widerstandsgruppe verteilen die im Lichthof der Münchener Universität Flugblätter gegen das Naziregime. Ihre Verhaftung am 18. Februar 1943 ist ein Schock für die Familienangehörigen ( Elisabeth gar erfährt erst aus der Zeitung von der Verhaftung, einen Tag später, in einem Café in Ingolstadt ). Dass sie ihre jüngeren Geschwister, die am 22. Februar unter dem Fallbeil sterben, nicht hat schützen können, wird die damals 25jährige Inge ihr Leben lang verfolgen.

Zu der Beerdigung der beiden Geschwister am 24. Februar auf dem von der Gestapo abgeriegelten Friedhof am Perlacher Forst in München kommen nur die Eltern, die drei Geschwister und Hans Scholls Freundin, Traute Lafrenz. Inge erinnert sich an jene Tage:
"Wir kamen von der Beerdigung meiner Geschwister Hans und Sophie nach Hause, nach Ulm, und wir saßen dann am nächsten Morgen beim Frühstück, ich kann nicht anders sagen, in einer tiefen Weltverlassenheit."
Die Angehörigen werden drei Tage später in Sippenhaft genommen. Inge, ihre Mutter und die Schwester bleiben fünf Monate lang im Ulmer Gefängnis inhaftiert. Die Nazi-Presse des "Ulmer Sturm" erklärt Robert Scholl für vogelfrei, denn er habe durch sein "Tun und Lassen schon längst den Anspruch verwirkt", als vollwertiges Glied der "Volksgemeinschaft" geachtet zu werden. Die wisse nämlich, "welche Schuld den Vater dafür trifft, daß in der Familie sich der Gedanke der Volkszersetzung breitmachen konnte ..." 

Passanten wechseln die Straßenseite, wenn sie einem Familienangehörigen begegnen. Einmal steht sogar eine fremde Frau vor der Wohnungstür und klingelt: "Ich wollte nur mal sehen, wie jemand aussieht, dem zwei Geschwister geköpft worden sind", sagt sie. Die Wohnung, die der Württembergischen Metallwarenfarbrik (WMF) gehört, wird den Scholls mit der Begründung gekündigt, eine Weltfirma könne nicht an Hochverräter vermieten. Eine Zuflucht findet Inge mit der Mutter ( Elisabeth bleibt als Kindergärtnerin in Ulm ) im "Bruderhof" in Ewattingen ( Südschwarzwald ) beim Ehepaar Binninger. Inge leidet nach einer schweren Diphterie, die sie sich im Gefängnis zugezogen hat, an den Nachwirkungen, vor allem an starken Herzstörungen. 

Sieben Wochen ist im Jahr 1944 bei ihnen auch der katholische Schriftsteller Theodor Haecker zu Gast. Im November 1944 stößt dann der Vater nach seiner Entlassung aus der üblen Kislauer Strafanstalt zu ihnen -  "nur noch ein Schatten seiner einstigen Gestalt" - und im März 1945 Otl Aicher, der an der Westfront desertiert ist. Vorher, am zweiten Jahrestag der Hinrichtung ihrer Geschwister, konvertiert Inge zum Katholizismus.

Gegen dessen Ende hin, so schreibt Inge später, "zeigte uns der Krieg - Erg.d.mich ) noch sein (...) brutales Gesicht." Doch dann kehrt endlich Ruhe ein:
"Wir erhielten ein Schild an die Haustür unseres einsam gelegenen Bruderhofes, auf dem vermerkt war, daß seine Bewohner nicht belästigt werden durften, weil sie unter den Nazis gelitten hatten. Einmal, so erinnere ich mich, kamen zwei junge Marokkaner in französischer Uniform, hatten ein junges Rehkitz im Arm und baten schüchtern um etwas Futter für ihren vierbeinigen Kriegsgefangenen." ( Quelle hier )
Im Lauf des Monats Mai kommt ein Ulmer Bürger ins Wutachtal und bittet Robert Scholl im Namen eines provisorischen Gemeinderats, sich als Oberbürgermeister zur Verfügung zu stellen. Inges Eltern verlassen das Refugium im Schwarzwald, Inge erst dann, als eine Wohnung in der schwer zerstörten Stadt gefunden ist. Am 6. Juni 1945 wird Robert Scholl von der US-amerikanischen Besatzung zum Oberbürgermeister von Ulm bestellt - ein Amt, das er bis 1948 wahrnehmen wird.

Die Familie baut indessen ein Netzwerk auf mit dem Zweck, den dreihunderttausend Flüchtlingen in der Stadt zu helfen, die auf die siebzigtausend Ulmer in einer Ruinenlandschaft treffen.

Schon im August 1945 beginnt Otl Aicher in seiner Heimatstadt Ulm Vorträge zu organisieren, die viel Zuspruch finden und die amerikanischen Besatzer auf ihn aufmerksam machen. Als ihm die die Leitung einer noch zu gründenden Volkshochschule anbieten, lehnt er ab und schlägt ihnen stattdessen Inge Scholl vor, die er für weitaus geeigneter für diese Aufgabe hält. Eigentlich will Inge, nun 28 Jahre alt, Geschichte und Soziologie in München studieren, letztendlich lässt sie sich aber überzeugen.

Otl Aicher und Inge Scholl (1949)
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So wird unter ihrer Leitung am 24. April 1946 die "vh ulm" als eine der ersten Volkshochschulen Nachkriegsdeutschlands eröffnet. Die entwickelt sich in der Folgezeit zu einer der größten und lebendigsten Bildungseinrichtungen ihrer Art, die sich bemüht, das Bewusstsein vom Wert der politischen und gesellschaftlichen Einmischung bei den von den Nazis verblendeten Nachkriegsdeutschen zu fördern. "Aufklärung und Aufbau, aber nicht Wiederaufbau, sondern neu machen, das wär's", lautet Inges Bildungskonzept.

Doch für manche in Ulm ist Inge damit auch ein rotes Tuch, gibt es doch auch in dieser Stadt ein starkes Beharrungsvermögen und die Tendenz, sich nicht mit der NS-Vergangenheit auseinanderzusetzen. 

1947 veröffentlicht der Schriftsteller Alfred Neumann seinen schon 1944 im Exil erschienenen Roman "Es waren ihrer sechs" über die "Weiße Rose" auch in Deutschland. Inge fühlt sich düpiert. Sie initiiert eine Kampagne gegen Neumanns Buch, indem sie ihm Faktenfälschung vorwirft und ihm die Deutungshohheit abspricht, weil er schon 1933 ins Exil gegangen ist. Sie übersieht aber, dass sein Werk romanhafte Fiktion ist, und scheitert erst einmal.

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Erst ihr eigenes Buch "Die Weiße Rose" 1952 verdrängt den Roman aus den Regalen der Buchhändler. Ab da hält die große Schwester das Gedenkmonopol in ihren Händen: Sie dosiert die Herausgabe des Materials aus ihrem Archiv, lässt sich zu sehr von ihrer eigenen Religiosität leiten und betont den Charakter des Widerstandes ihrer Geschwister als moralische Mission. Ihre Version kommt den Nachkriegsdeutschen ganz gelegen und dient der Rechtfertigung, selber keinen Widerstand geleistet zu haben.

In Inges Darstellung gerät die Schwester Sophie zur Ikone des Widerstandes zuungunsten ihres Bruders. Dessen Persönlichkeit wird nicht allumfassend dargestellt & gewürdigt und seine Gedichte beispielsweise nicht erwähnt, vermutlich auch, um die Bisexualität des Bruders nicht ansprechen zu müssen, wegen der er 1937 von den Nazis u.a. auch angeklagt worden ist. ( All das kann erst relativiert werden, nachdem ab 2005 der Nachlass Inge Aicher - Scholls im Münchner "Institut für Zeitgeschichte" zugänglich wird - Barbara Beuys, Christine Hikel, Maren Gottschalk und Robert M. Zoske werten u.a. die nachgelassenen Quellen aus. ) Zweifelsfrei ist Inges Verdienst , dass bis heute über die "Weiße Rose" gesprochen wird.

Am 7. Juni 1952 heiratet Inge Otl Aicher und bekommt ein Jahr später ihre erste gemeinsame Tochter Eva, die von Trisomie 21 betroffen ist. Inge wird Mitbegründerin der Ulmer Ortsgruppe der "Lebenshilfe für das behinderte Kind" und gegen Ende ihres Lebens wird sie das Buch "Eva. Weil Du bei mir bist, bin ich nicht allein" schreiben. Im Oktober 1954 bringt sie die Zwillinge Florian und Pia zur Welt, 1958 Julian und 1960 Manuel. 

Dazwischen fällt auch die Gründung der "Hochschule für Gestaltung Ulm", an der Inge neben ihrem Ehemann und dem Schweizer Künstler Max Bill beteiligt ist. Diese neue Bildungsstätte ist im Vergleich zur Volkshochschule nicht für die breite Masse gedacht, sondern für eine junge, internationale Elite, bekommt aber erst nach und nach den Schwerpunkt "Gestaltung und Design" und wird ein Prestigeobjekt deutsch - amerikanischer Kooperation und international die bedeutendste deutsche Design - Schule nach dem Bauhaus. 1953 nimmt sie den Unterricht auf, ab Oktober 1955 im Gebäude der HfG auf dem Ulmer Hochsträß/Kuhberg. Die Hochschule steht für die Entnazifizierung und Demokratisierung auch derAlltagskultur & ihrer Gegenstände, und der von den Ulmern geprägte Funktionalismus hat bald weltweit ein positives Image. Mit ihren Entwürfen für die Firma Braun oder die Deutsche Lufthansa schreibt die HfG wieder deutsche Designgeschichte.

1964 beginnt auch die Karriere der Inge Aicher - Scholl als Aktivistin der Friedensbewegung, als sie mit ihrem Schwager Fritz Hartnagel, Mann ihrer Schwester Elisabeth, die "Ostermärsche" in Ulm mitorganisiert.

Piktogramm von O. Aicher
(CC BY 1.0)
Nach langjährigen internen Streitigkeiten über die pädagogische Ausrichtung des Lehrbetriebes der "Hochschule für Gestaltung Ulm" und finanzieller Schwierigkeiten stellt die  ihren Lehrbetrieb 1968 ein. Otl Aicher ist im Jahr zuvor schon zum "Gestaltungsbeauftragten" für die Olympischen Spiele in München berufen worden, für die er u.a. die bis heute gültigen Piktogramme entwirft.

1974 gibt Inge nach einem Vierteljahrhundert die Leitung der Ulmer Volkshochschule auf. Der Lebensmittelpunkt der Familie hat sich schon zwei Jahre zuvor nach Rotis, einem Ortsteil von Leutkirch im Allgäu, verlagert, wo ihr Mann nach und nach auf dem Gelände einer Mühle weitere Atelierhäuser baut. 1975 verliert Inge die 21jährige Tochter Pia durch einen Unfall.

Seit Anfang der 1980er Jahren beteiligt sich Inge Aicher-Scholl an der Blockade des US-Militärdepots in Mutlangen.
Schon seit Mitte der 1960er Jahre lagern Atomraketen in dem Ort, ohne dass die Öffentlichkeit großen Anstoß daran nimmt. Mit dem NATO-Doppelbeschluss von 1979 sieht das auf einmal ganz anders aus. 150 Prominente, darunter der erkrankte Nobelpreisträger Heinrich Böll, nehmen an den Sitzblockaden teil. Im November 1983 wird die Stationierung der Raketen im Bundestag beschlossen, schon wenige Tage später beginnen die Aktionen. Gut 3000 Blockierer werden in den nächsten Jahren wegen Nötigung angeklagt werden, bis die Raketen 1990 wieder aus Mutlangen abgezogen und verschrottet werden.
Auch Inge ist unter den Verklagten. Vor dem Amtsgericht Schwäbisch Gmünd 1986 verteidigt sie sich mit dem Zitat aus einem der Flugblätter der "Weißen Rose": "Zerreißt den Mantel der Gleichgültigkeit, den ihr um Euer Herz gelegt! Entscheidet Euch, ehe es zu spät ist!" Sie wird zu einer Geldstrafe verurteilt. 1986 tritt sie als Rednerin auf einer Veranstaltung gegen Atomkraft auf dem Gänsbühl in Leutkirch anlässlich der Atomkatastrophe in Tschernobyl am 26. April auf und 1986 veranlasst eine Anzeigenkampagne mit dem Slogan: "Versagen ist menschlich. Mit Versagen nicht zu rechnen ist verantwortungslos und unmenschlich." 1987 erhält sie für ihr Engagement den "Allgäuer Friedenspreis", 1988 den "Freda-Wüsthoff-Friedenspreis" ( zu Freda Wuesthoff dieser Post ).

1987
© dpa
Im Spätsommer 1991 reißt ein Unfall ihren 69jährigen Ehemann aus dem Leben: Beim Rückwärtsfahren mit dem Rasenmäher von seinem Grundstück stößt er mit einem Motorradfahrer zusammen und erliegt am 1. September seiner Kopfverletzung. Was das für Inge bedeutet, ist nicht zu erfahren. Es wird ruhiger um die 74jährige, die 1995 noch Verdienstmedaille des Landes Baden-Württemberg und 1997 die Ehrenbürgerschaft der Stadt Ulm erhält. Als sie "Die Grünen" bitten, für das Amt der Bundespräsidentin zu kandidieren, lehnt Inge Aicher-Scholl dankend ab.

Bei der Verleihung der Ehrenbürgerschaft (1997)
© Maria Müssig





Im Spätsommer 1997 wir bei ihr eine unheilbare Krebserkrankung festgestellt. Sie lebt mit ihrem Sohn Julian weiter in der Rotismühle, bis sie in dessen Beisein am 4. September 1998, also vor genau zwanzig Jahren, stirbt.

Trotz - vielleicht auch wegen - aller Widersprüche und Eigenheiten war Inge Aicher-Scholl eine beeindruckende Persönlichkeit:

Sie war eine eine geschickte Netzwerkerin, dadurch auch einflussreich, und überzeugt davon, dass die Demokratie nur durch Bildung in den Menschen Wurzeln schlägt. Und die demokratische Entwicklung hat sie durchaus kritisch und aktiv begleitet und gelebt. Ein "role model" auch wieder für heutige Zeiten, aufgrund ihrer ganz persönlichen Entwicklung vom überzeugten BDM- Mädel, dem das Angebot der Nazis an Zugehörigkeit, Anerkennung und Wertschätzung in der Pubertät Halt gegeben und das sie gerne aufgegriffen hat, bis sie durchschaut hat, welch einseitiges Menschenbild dahinter stand. Da wandelte sie sich zur konsequenten Verfechterin des Gebrauches des eigenen Verstandes. Gerade auch im Hinblick auf die deutschen Ereignisse der letzten Wochen & Monate finde ich das eine erzählenswerte Lebensgeschichte.


18 Kommentare:

  1. Ich finde das auch unbedingt eine erzählenswerte Lebensgeschichte.
    Sehr spannend und lebendig, gerade durch Widersprüche. Vielen Dank, dafür musste ich mir heute die Zeit nehmen und ich bin froh drüber!
    Liebe Grüße

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  2. Es ist immer wieder spannend, über sie und ihre Familie zu lesen. Was für eine große Zahl von Schicksalsschlägen zudem ihr Leben begleitet hat!
    Liebe Grüße
    Andrea

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  3. danke, du hast recht, das ist eine wirklich erzählenswerte lebensgeschichte! ich habe deinen post heute schon 2x gelesen.... und beim zweiten mal fällt mir auch auch: ihr mann und mein papa sind am gleichen tag verstorben. das heißt zwar an und für sich nichts, aber nun ist mir diese lebensgeschichte doch ein wenig näher gerückt.
    lg kathrin

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  4. Welch einen < Auftrag< hat sie auch uns heute mit dem Satz mitgegeben" zerreißt den Mantel der Gleichgültigkeit, den ihr um euer Herz gelegt.Entscheidet euch ehe es zu spät ist"
    So aktuell das Thema < Gleichgültigkeit< für die heutige Politik,- oder ist es heute Unsicherheit und Un-mut????
    Gruß zu dir und Danke für deinen Post
    heiDE

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  5. Danke für diese ausführliche Biografie von Inge Aicher - Scholl sowie ihren Verdienst, dass bis heute über die "Weiße Rose" gesprochen wird.

    Damit sich diese finstere Vergangenheit niemals mehr wiederholt, habe ich - auf der Homepage von Digital Diary - Claudia Klinger - gerade gelesen, dass am 13.Oktober in Berlin eine Großdemo "Für eine offene und freie Gesellschaft - Solidarität statt Ausgrenzung" stattfinden wird.
    Ich glaube, dass dies ein Riesenerfolg werden wird!
    LG Gerda

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  6. Genau richtig kommt heute diese imposante Lebensgeschichte dieser beeindruckenden Frau und ihrer nicht minder beeindruckenden Familie.
    Sie beinhaltet alles, was auch derzeit wieder dran wäre:
    Bildung statt Verblendung, Engagement statt Gleichgültigkeit und Vernetzung statt Vereinzelung.
    Gerade heute habe ich mit einer Freundin überlegt, wie und was die für uns als ältere Frauen richtige Protestform sein könnte. Waren wir doch u.a. auf unzähligen Ostermärschen, haben in Wackersdorf demonstriert, Anti-Strauß-Buttons getragen und waren "Mütter gegen Atomkraft".
    Doch was ist es jetzt, was ist dran und wirksam??
    Danke für die ausführliche Vorstellung der Aicher-Scholl Familie und besonders von Inge Aicher-Scholl,
    sagt herzlich Sieglinde

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  7. Da kann ich nur zustimmen. Das Wegsehen und die Gleichgültigkeit sind leider immer noch weit verbreitet. Das ist eine beeindruckende Familie, über die ich immer wieder gerne lese.
    LG
    Magdalena

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  8. Obwohl es bei uns in der Schule immer ein Thema war, über Hans und Sophie zu sprechen, sind mir jedoch alle anderen Familienmitglieder nicht bekannt. Vielen Dank, dass du uns das Geschehene in dem Post noch einmal in Erinnerung gebracht hast. Ich hatte beim Lesen richtig Gänsehaut. Grüße von Rela

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  9. Vielen Dank für diese beeindruckende Lebensgeschichte.
    Einen schönen Abend wünsche ich dir - lieben Gruß, Marita

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  10. Wie schön, wieder mal über sie zu lesen, aus deiner Perspektive. Eine Lebens- und Familiengeschichte, die uns auch heute noch soviel zu sagen hat. Danke für diese inhaltsreiche Abendlektüre. LG Ghislana

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  11. Liebe Astrid, dachte ich doch erst “wie schade, die kenn ich ja schon”, steht doch ihre Buch in meinem Bücherregal. Aber falsch gedacht, so vieles was ich nicht wusste. Und selbst auf das bekannte noch mal ein neuer Blick. Vielen Dank dafür, Maren

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    1. Ich versuche ja, die Allerberühmtesten nicht in die Reihe aufzunehmen wie z.B. Astrid Lindgren ( die ich so liebe ), aber irgendwer kennt doch immer wieder die eine oder andere. Aber das ist doch auch gut so, oder? Ich bin immer wieder selbst begeistert, wie toll Frauen sind, wo sie doch so im Schatten bleiben müssen.
      LG

      Löschen
  12. Eine interessante Persönlichkeit und auf jeden Fall der Erwähnung und Erinnerung wert, gerade heutzutage.
    Danke!

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  13. Vor einiger Zeit sah ich ein Dokumentation über die "Weiße Rose". Inge Aicher-Scholl war einer der Menschen, die interviewt wurden. Es war sehr beeindruckend.

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  14. Unbedingt eine lesenswerte Lebensgeschichte!
    Ich glaube, ihr Buch über die Weiße Rose war dasjenige, durch das ich als Teenager auf Sophie und Hans aufmerksam geworden bin. Jedenfalls ist mir das Cover sehr vertraut.

    Liebe Grüße
    Sabrina

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  15. wieder etwas dazu gelernt
    denn von der Familie und den Geschwistern wusste ich so gut wie nichts
    auch eine starke Frau

    liebe Grüße
    Rosi

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  16. Ich wollte doch endlich mal schreiben, wie gern ich hier über die Persönlichkeiten lese, die nicht so bekannten Lebensgeschichten. Tatsächlich kenn ich zwar die Autobiografien über die Geschwister Scholl, aber dabei ist Inge Aicher - Scholl leider bei mir im Laufe der Zeit in Vergessenheit geraten.
    Liebe Grüsse
    Nina

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  17. Ich gehöre zu denen, die als Teenager das Buch über die weiße Rose, bzw über Sophie gelesen, nein verschlungen haben. Darüber ist die Schwester irgendwie dann in Vergessenheit bei mir geraten, peinlich. Danke, wieder einmal, für eine tolle Zusammenfassung. Ich bin schon länger Stille Leserin, habe häufig das Problem, dass meine Kommentare bei manchen Plattformen verschwinden, daher habe ich es kaum noch gemacht, tut mir leid.
    Schöne Woche und liebe Grüße
    Nina

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Danke, dass du dir für ein paar liebe Worte Zeit nimmst!

Ich wünsche mir allerdings nach wie vor, dass ein Name am Ende des Kommentars steht.
Da die anonymen namenlosen Kommentare zuletzt wieder zugenommen haben, hier der ausdrückliche Hinweis:

Ich werde sie ab jetzt wieder konsequent NICHT freischalten.

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