"Viele Erfahrungen
übersteigen unsere Fähigkeit zur Sinngebung,
und die ästhetische Form der Tragödie hilft
dem Geist zu erfassen,
was die Grenzen der Vernunft übersteigt.
Genau darin besteht die Kraft der Literatur."
Eva Illouz
In den November gestartet bin ich mit dem allerersten Roman von Maggie O'Farrell: "Seit du fort bist" aus dem Jahr 2000. Mir hatte vor allem ihr "Porträt einer Ehe" sehr gut gefallen, "Hamnet" nicht ganz so. In diesem Buch werden die Geschichten dreier Frauen unterschiedlicher Generationen auf eine Art & Weise verwoben, dass es für mich sehr reizvoll zu lesen war.
Hauptperson ist Alice Raikes, die nach einer sie bestürzenden Entdeckung auf dem Bahnhof in Edinburgh, wohin sie gerade gereist ist, um ihre Schwestern zu treffen, Hals über Kopf nach London zurückfährt. Dort, auf dem Weg zum Supermarkt, kommt sie unter ein Auto - ob mit Absicht oder durch Zufall - und liegt nun im Koma in einer Klinik. Ein wichtiger Erzählstrang handelt von ihren Erfahrungen mit Männern und von ihrer großen Liebe zu einem Mann, der Jude ist. Und diese Liebe endet tragisch. Die anschließende Trauer, die Maggie O'Farrell treffend zu beschreiben weiß, hat mein Gemüt nachhaltig angesprochen.
Gleichzeitig ist der Roman auch eine Familiensaga, denn die Großmutter Elspeth und die Mutter Ann und deren "Knackpunkte" im Leben werden immer wieder episodisch aufgegriffen. Die Frauen haben alle gemeinsam in Alice Kindheit & Jugend in North Berwick, einem Küstenort in Schottland, in einem Haus gelebt. Die komplexe Struktur des Romans war mir ein besonderes Lesevergnügen, aber auch die Fähigkeit der Schriftstellerin, Kleinigkeiten aufzugreifen und in Worte zu fassen, so dass die Geschichte anrührt. Ein offenes Ende, aber gut so.
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| Leser im Kreuzgang von St. Maria im Kapitol, Antiquariat im Weyertal |
Dann war wieder mein literarisches Großprojekt dran: Band 4 der "Jahrestage" von Uwe Johnson ( hier, hier und hier habe ich schon darüber berichtet ). Es ist der letzte und dickste Band ( 500 Seiten ) des Werkes, erst 1983 veröffentlicht, also zehn Jahre nach dem Dritten. Er umfasst bei den New Yorker Tagebucheinträgen die Monate Juni, Juli, August 1968. Jedoch verschwindet die Stadt ziemlich aus dem Fokus des Autors, auch die Innen- oder Außenpolitik der Vereinigten Staaten.
Der historische Schwerpunkt der Erzählung setzt ein mit der ersten Wahl zu den Landtagen im Oktober 1946 und geht weiter über Gründung der DDR und deren darauffolgende Politik. Dabei übergießt Johnson das Vorgehen der Sowjets und ihrer Vasallen mit viel Spott ( diese Ironie war mir in den Bänden vorher nicht sooo aufgefallen), findet dafür originelle Bilder und Episoden, wie z.B. die, dass der Musiklehrer der Oberschule, die Gesine nun besucht, die neue Hymne der DDR auf die Melodie von "Good-bye, Johnny" von Peter Kreuder ( Sänger: Hans Albers ) von den Schülern singen lässt.
Ich war streckenweise allerdings auch überfordert, was die Kenntnis der politischen Ereignisse anbelangte, denn ich persönlich wartete zu dieser Zeit noch auf dem Dach der Welt auf meinen irdischen Einsatz. So habe ich z.B. erst jetzt von den Waldheimer Prozessen erfahren. Auf juristische Willkür weist er auch hin mit einer seitenlangen Auflistung von Verurteilungen, darunter auch die des Mitschülers Gesines, Dieter Lockenvitz. Der gehört zu "Arbeitsgemeinschaft Pagenkopf/Cresspahl", die Gesine mit Pius Pagenkopf, Sohn eines "mit leitender Funktion in der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands und hohem Amt in der mecklenburgischen Landesregierung", in ihrer Klasse gebildet hat. Eine wichtige Rolle, auch bis zum Ende des Romans, spielt die Freundin Anita Gantlik, die als Dolmetscherin für die Russen arbeitet und später in West-Berlin Fluchthilfen organisieren wird.
Die ausführliche Schilderung dieser Lebensphase der Gesine Cresspahl hat mir klar gemacht, warum sie so ist, wie sie ist, so kühl, beherrscht, unzugänglich, auch was ihre Gefühle betrifft. In der Schule hat sie die Fähigkeit erworben, sich zu verstellen und zu lügen. Gemeinsam mit ihren Freunden versucht sie, inmitten von Dogmatikern, Opportunisten und Spitzeln Humor und ein gewisses Maß an Freiheit zu bewahren:
"Ich bekenne mich zur Eindeutigkeit des deutschen und angelsächsischen Genitivs. Ich bekenne mich zu einer Pflege des Rechts auf offenem Markt in Deutschland", so das Schlusswort des Angeklagten Lockenvitz in seinem Prozess.
Was ich aus diesem 4. Band "mitgenommen" habe, ist eine Ahnung vom Seelenleben der Gesine Cresspahl. Das lässt mich auch verstehen, weshalb die Geschehnisse rund um die Geburt Maries bzw. die Tode von Maries Vater Jakob Abs und - kurz vor Ende des Romans - des "Verlobten" D.E. so kurz & unemotional, fast nebensächlich, behandelt werden. Wärme bringt nur der hinfällige Vater Cresspahl durch seine Liebe zu seinem Enkelkind ein.
Nachvollziehbar geworden ist mir auch Johnsons großes Interesse an den Vorgängen in der ČSSR. Indem er ganz viele statements der dortigen kommunistischen Partei zitiert, wird seine Parteinahme für einen Sozialismus mit "menschlichem Antlitz" klar, zumal er auch Vorkommnisse in der BRD, insbesondere den Einfluss von Alt-Nazis, höhnisch kritisiert und die bundesrepublikanische Wirklichkeit kein Sehnsuchtsziel sein kann.
Der Roman endet in Dänemark, wo Gesine mit Marie auf dem Weg nach Prag zwischengelandet ist und wo sie ihren uralten Lehrer Kliefoth trifft. Er endet mit dem Satz:
"Wir hielten einander an den Händen: ein Kind; ein Mann unterwegs an den Ort wo die Toten sind; und sie, das Kind das ich war."
Auch wenn es streckenweise eine anspruchsvolle Lektüre war, bin ich froh, dass ich mich ihr unterzogen habe. Sie lässt mich vieles verstehen, was momentan um mich herum in dieser Welt passiert, in der es viele gibt mit einem hohen Bedürfnis nach kognitiver Geschlossenheit, die sich aber vom Leben in seiner Komplexität nicht einfordern lässt.
Ich konnte mir im Anschluss nicht verkneifen, weiter in die Eifel - Welt des Norbert Scheuer einzutauchen. Mit "Mutabor" hatte ich mir das jüngste seiner Bücher vorgenommen. Und damit ist dem Schriftsteller ein zauberischer Roman voller Poesie gelungen, Trauer und Abgründe in Schönheit verwandelnd, ganz so wie es eine der Figuren, Sophia Molitor, die eine Art von Lehrerin für die verwaiste, vernachlässigte, scheinbar behinderte, daher ausgestoßene Protagonistin Nina Plisson, ist, es ausdrückt: "... alles nach den Gesetzen der Schönheit zu kombinieren, sogar in den Momenten der Hoffnungslosigkeit." Ich habe es an einem Abend gelesen, bis weit nach Mitternacht ( ja, Elke Heidenreich, ein Lob auf Bücher unter 200 Seiten! ), so hat sie mich in Bann gezogen, diese Mischung aus urftländischer Provinz & griechischer Sagenwelt.
Das geschieht alles wieder in der typisch Scheuerschen Manier: Sparsam, knapp, treffend formuliert, immer an der Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit angesiedelt. Und mit vielen alten Bekannten aus seinen anderen Büchern. Alle Episoden, weitgehend chronologisch, nicht immer aus der Perspektive Ninas erzählt, handeln vom Aufwachsen jenes sich nach dem Tod der Großeltern selbst überlassenen Mädchens, dem immer wieder Furchtbares widerfährt und die nicht aufhört mit der Suche ( und Sehnsucht ) nach ihrer verschwundenen Mutter. Nach und nach dringt sie ins dunkle Zentrum des Schweigens der Provinzler vor und bekommt eine Ahnung, welches Geheimnis in den Fluten des bei der Hochwasserkatastrophe überschwemmten Urfttales verborgen ist. Und wie oft bei Norbert Scheuer, kann sie sich aus der Stigmatisierung befreien und Kall verlassen, um sich auf Reise ins vom Großvater mystisch überhöhte Byzanz sowie die vom griechischen Wirt in Kall, Evros, besungene Insel in der Ägäis aufzumachen, ja, sich auch auf die Spuren der Störche zu begeben. Leseempfehlung!
Noch viel neugieriger geworden auf den scheuerschen Kosmos, habe ich nach dem Roman von 2017 gegriffen - "Am Grund des Universums" - und schon befand ich mich wieder mitten in den sich kreuzenden Lebensläufen und Geschichten, die rund um den literarischen Ort Kall in der Eifel angesiedelt sind. Im Café des Supermarktes sitzen die alten Rentner des Ortes und kommentieren gleichsam wie der Chor im antiken griechischen Theater das Weltgeschehen, was in diesem Fall das des Urftlandes ist, in dem der Grund des Universums verortet wird. Sie wissen alles und kennen jeden und die geplanten Veränderungen, die im Strukturwandel begründet sind, dem ab sofort Modernisierungen entgegenwirken sollen: Der Stausee soll vergrößert werden und um eine Feriensiedlung ergänzt, damit die Menschen wieder in den Ort kommen wie in seligen Zeiten.
Es gibt unterschiedliche kleine Geschichten in diesem Roman, die Scheuer wieder auf seine unnachahmliche Art unspektakulär, nüchtern und zugleich poetisch versprachlicht und in gemächlichem Tempo vorantreibt. Nicht zu kurz kommen die Hoffnungen & Ängste der Protagonisten, aber auch deren Sehnsüchte nach Ausbruch in den unterschiedlichsten Erscheinungsformen:
Da geht es darum, einen versteckten Silberschatz, der in den Gängen unter dem Dorf lagert, zu finden. Da ist der Afghanistan-Veteran & Hobby - Ornithologe Paul, den ich aus dem Roman "Die Sprache der Vögel" kannte, der zu einer Kolibri-Beobachtungstour nach Brasilien aufgebrochen war. Dann die verwitwete und pensionierte Lehrerin Sophie Molitor, die in "Mutabor" eine wichtige Rolle spielt, und diesmal ganz in der Welt des Konfuzius & Laotse versinkt und sich an der Übersetzung von Laotses "Daodejing"versucht. Nina aus "Mutabor" findet sich auch wieder, die sich ständig ihren verschollenen Bruder imaginiert, wie er mit einem kleinen Boot ganz allein auf den Weltmeeren unterwegs ist. Da ist Traum & Wirklichkeit nicht mehr zu unterscheiden, bis es zu einem überraschenden Ende kommt, weil die Liebe zu Paul in Ninas reales Leben tritt.
Besonders speziell ist der Fall des Betriebselektrikers Lünebach, der viele Jahre außerhalb auf Montage war, nach Kall zurückkehrt ist und mehr als am Körper am Geist versehrt zu sein scheint, denn er baut sich eine Raumkapsel, die ihn außerhalb von Raum und Zeit bringen soll. Mit dieser Episode beginnt das Buch auch.
Zwischen Phantasie und Wirklichkeit gebe es keine Grenze, ist Scheuer überzeugt: "Alles ist wirklich, weil alles Spuren in der Wirklichkeit hinterläßt", und es gelingt ihm wieder großartig, die Entzauberung unserer schlichten Alltagswelt rückgängig zu machen - für mich als Leserin jedenfalls. Am Ende, das ahnt man bald bei der Lektüre, wird es nichts mit dem Ferienpark und dem vergrößerten Stausee. Aber ich bin wieder reich beschenkt zurückgeblieben durch die Schilderung weiterer Charaktere, "Versehrte an Leib und Seele", wie es im Menschenleben nicht ausbleibt, neu in das Geflecht eingebunden, welches der Autor auch mit diesem Roman so fein um seinen literarischen Mittelpunkt webt.
Zwischendurch habe ich in Stephen Frys Neuerzählung der griechischen Heldensagen geschmökert. Denn es ist jetzt schon über sechzig Jahre her, dass ich auf Du und Du mit den griechischen Göttern war und in ihrer Welt mit Leidenschaft gewandelt bin, damals noch auf der Basis der bereinigten Erzählungen eines Gustav Schwab, später mit Ovids "Metamorphosen". In "Mutabor" ist mir u.a. das Medusenhaupt begegnet ( als Kopf der Ruth Plisson unter dem Eis des Stausees, mit Neunaugen statt der Schlangenhaare ), da wollte ich noch mal wissen, wie sich die Sage zugetragen hat. Amüsant, wie sich das alles jetzt in Alltagssprache liest! Denn Fry bleibt Fry, sich und seinem urbritischen Talent treu, Komik & Tragik in eins zu setzen. Eine bildungsbürgerliche Gelehrtheit braucht da kein Leser, keine Leserin, so nahe kommt unserer Realität, was da farbenfroh & ungekünstelt zu neuem Leben erweckt wird. Hat Spaß gemacht, noch einmal einzutauchen! Der erste Band - "Mythos" - liegt schon bereit.
Wenn von Griechenland die Rede ist, ist Rom nicht mehr weit. Zumindest war das früher im Geschichtsunterricht so. Deshalb hat mich die Wahl meiner nächsten Lektüre nicht überrascht: John Williams berühmtester Roman war "Stoner", den ich letzten Monat gelesen habe. Aber es gibt noch zwei weitere Romane von ihm, jeder wieder ganz anders als sein berühmtestes Buch. Das hat mich neugierig gemacht, und so habe ich antiquarisch nach "Augustus" gesucht - und gefunden. Ja, genau der, auf den das "Augusteische Zeitalter" zurückgeht, jener Phase von fast hundert Jahren rund um Christi Geburt, welches dem röm. Reich Frieden, Stabilität und kulturelle Blüte beschert hat!
Williams schreibt aber keinen historischen Roman ( das hätte mich auch nicht interessiert ), es ist eine großartige, künstlerische Fiktion. Dazu projiziert der Autor schon zu viel Gegenwart auf die Antike. Alle vorkommenden Figuren in diesem, seinen letztem Werk sind allerdings historisch. Wir wissen über die meisten auch recht viel. Williams erschafft sie aber so neu, wie wir sie nicht in den Geschichtsbüchern oder Nachschlagewerken finden, und schafft wieder einmal auf seine merkwürdige Weise eine Atmosphäre der Nachdenklichkeit und Melancholie. Wie schon bei "Stoner" geht es um die Frage, was der Mensch ist, welches Bild er von sich hat, wie er auf andere wirkt und was am Ende von all dem der Wahrheit entsprochen hat. Das hat mich besonders im "3. Buch" genannten Teil des Romans so angesprochen, dass ich bis drei Uhr in der Nacht nicht aufhören konnte zu lesen.
Doch fangen wir an mit dem ersten Teil, dem "1.Buch", das mich über fünfzig Jahre zurückversetzt hat in meinen Lateinunterricht, in dem all diese Berichte von Kriegen und Eroberungen zu meinem Leidwesen im Original gelesen werden mussten. Das Thema - Erfolg in der öffentlichen & politischen Sphäre - lässt der Autor mit Tagebuchfragmenten, Briefen, Senatsbeschlüssen, Schmähgedichten, Erinnerungen und vielem mehr von diversen Personen erzählen. Mittelpunkt ist der neunzehnjährige Großneffe und Adoptivsohn Julius Cäsars, dem nach dessen Ermordung ein gewaltiges politisches Erbe zufällt. Zwar von schwächlicher Konstitution, aber enormer Willenskraft, gelingt es ihm, durch Glück, List, Intelligenz und Entschlossenheit das desolate Römische Reich in jene Epoche zu führen, die uns heute noch so vor Augen schwebt.
Das "2. Buch" - das Scheitern im Privaten - ist auch ein Buch über die Frauen, die um Augustus herum leben: die stoische Schwester Oktavia, die schöne & ehrgeizige Livia, die mit ihm bis zum Ende seiner Tage verheiratet bleibt, aber vor allem, - sozusagen als zweite Hauptperson - sein einziges Kind, die geliebte Tochter Julia. Die bleibt im Roman eben nicht nur die übliche Manövriermasse, mit der in Rom Bündnisse verfestigt werden, sondern entwischt nach ihrer dritten ( unglücklichen ) Ehe mit Tiberius den überaus frauenverachtenden Normen ihrer Zeit und reflektiert in ihren Tagebuchaufzeichnungen im Exil über körperliche Lust und Leidenschaft, über Liebe, Macht und Lebenssinn. Nirgendwo tritt die Spannung zwischen öffentlicher Rolle und persönlichen Wünschen & Bedürfnissen deutlicher zutage.
Erst im "3.Buch" meldet sich Augustus selbst zu Wort, als er seine letzte Reise mit dem Schiff nach Capri als Möglichkeit nimmt, auf ein Leben zurückzublicken und dies in einem Brief an einen Freund festzuhalten. Dabei findet Williams viele kluge Worte für das, was am Ende übrig bleibt. Und vielleicht hat mich gerade das so beeindruckt, weil ich genau in dieser Lebensphase stecke und mich des Öfteren frage: Was macht ein Leben aus? Hat mein Schicksal, mein langes Leben die noch übrig gelassen, die ich zu sein glaubte? Es sind solche existenziellen Fragen, die neben der virtuosen Sprache des John Williams für mich diese Lektüre so substantiell gemacht haben.
Zwischendurch habe ich auf meinem E-Reader "Jeder schreibt für sich allein. Schriftsteller im Nationalsozialismus" von Anatol Regnier auf Empfehlung einer Leserin aus Südniedersachsen gelesen. Über Kästner, Fallada und Benn weiß frau ja so einiges über ihr Bleiben im Nazireich ( über die vielen Exilschriftsteller allerdings sehr viel mehr, besonders über die Mann-Familie ). Verlockend, noch weitere Personen und ihr Verhalten zu entdecken. Fazit des Autors ( wie auch meines ): Das makellose Weiß oder das lückenlose Schwarz in der Beurteilung anderer sollte man geflissentlich sein lassen! Die Ambivalenz des menschlichen Verhaltens ist einfach ein Fakt und trifft eben auch auf die Literaten unter einem terroristischen Regime zu.
Der Autor hat seine Recherche breit angelegt, geht dabei chronologisch vor - ausgehend von den Geschehnissen nach der Machtergreifung in der Preußischen Akademie der Künste, als die eher antifaschistischen Schriftsteller rausgeworfen wurden. Man lernt Will Vesper oder Börries von Münchhausen kennen, den damals überaus erfolgreichen Dramatiker Hanns Johst oder Ina Seidel & Agnes Miegel ( die mir auch noch aus der Nachkriegszeit aus dem Schulunterricht geläufig waren - letztere hat sich nie vom Nationalsozialismus distanziert ). Es werden sowohl die sich verändernden und verschärfenden rechtlichen Bedingungen wie auch Folgen & Konsequenzen, die die Schriftsteller*innen daraus gezogen haben, dargestellt. Es gibt Schicksale, die aus Verzweiflung im Selbstmord ganzer Familien enden, wie zum Beispiel von Jochen Klepper oder Ludwig Fulda, KZ-Aufenthalte gegen Ende des Regimes wie bei Ernst Wiechert, einer der meistgelesenen deutschen Autoren bis in die 1950er Jahre. Es gibt auch Einsichten in die Reaktionen der Schriftsteller NACH dem Zusammenbruch und während der Jahre des Wiederaufbaus. Für Literaturinteressiert ein aufschlussreiches Buch!
Zeit- und Ortswechsel beim nächsten Buch, zu dem ich gegriffen habe, nachdem ich für ein Frauenporträt in die goldene Epoche der deutschen Dichter & Denker eingetaucht bin: Sigrid Damms "Goethes letzte Reise", schon lange auf meinem Stapel und in gewisser Weise auch eine "Dokumentarfiktion" wie das Augustus-Buch. Ich habe mich damit eingelassen auf die Beschreibung der allerletzten Reise per Kutsche des 81jährigen Goethe zusammen mit seinen Enkeln Walter (13) und Wolfgang (10) nach Ilmenau, das thüringische Arkadien für den jungen Dichter, als er 1775 ins Herzogtum gekommen ist. Dort will er nun seinen 82. Geburtstag begehen.
Klar, sind mir in meinem Alter die Gedanken an Gewesenes, an die Trauer über das, was nie mehr zurückkehrt, an das Altwerden, dem man nicht entgeht, ebenso wie dem Tod, nicht fremd. Auch nicht die Freude und Liebe zum Nachwuchs, dem man mit einer Milde begegnet, die einem in den Jahren der eigenen Elternschaft fremd gewesen sind. Und wenn er sich so erinnert: "Als ich achtzehn war, war Deutschland auch erst achtzehn, da ließ sich noch etwas machen... Aber jetzt [seien] alle Wege verrannt" - dann hat das auch viel mit mir zu tun. Es ist in dieser Hinsicht ein "lebenswinterliches" Buch, ein "Goethe für die alternde Gesellschaft", so der Kritiker der SZ, Gustav Seibt.
Schließlich kommt dann auch der Geburtstag des Dichterfürsten zurSprache, ein heiterer Augusttag mit abendlichem Gewitter, den er mit den Enkeln & dem Ilmenauer Oberforstmeister auf einem Ausflug in die Gegend verbringt. Das "holde Gefäß" aus böhmischem Glas, welches er mitgenommen hat, erinnert ihn an seine unerwiderte Liebe zur siebzehnjährigen Ulrike von Levetzow 1821-23 in Marienbad und hernach das Eingestehen, dass man alt ist. "Das Gestern, der vollgepackte Kahn." Doch seine schöpferischen Fähigkeiten helfen ihm über die Abgründe hinweg.
Nach der Rückkehr aus Ilmenau liegt vor Goethe noch eine Lebenszeit von zweihundert Tagen. Nachweislich widmet er diese Zeit seinem Werk, vor allem dem "Faust. Zweiter Teil", aber auch dem Garten und seinen Gästen: ein letztes Mahl am 13. März 1832. Bis zuletzt bewältigt er ein anspruchsvolles Pensum. Das Buch schließt ab mit dem Tod am Vormittag des 22. März 1832 und damit bleibe ich mit einiger Enttäuschung zurück, nein, nicht mit dem Tod, aber mit der Art & Weise wie Sigrid Damm das Thema angegangen ist. Dabei haben mir ihre Bücher über Cornelia Goethe & Christiane Vulpius so gefallen...
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| Helme Heines Tod am 20.11. hat mich in meinen Bilderbuchkisten kramen lassen |
"Es beginnt langsam und es endet langsam," so wie der Fährmann Nils Vik mit seinem Boot sein Haus, seinen Fjord zurücklässt, um unterwegs auf dem Wasser seinen Toten mit ihren allzu menschlichen Lebensgeschicken zu begegnen. Und sich zu erinnern an seine große Liebe, die er beinahe verloren, wieder gewonnen hat, bis sie endgültig ins Schattenreich zurückfällt wie Euridyke, und er sich bei diesem Ende fragt: "Wie konnte ich mich auf diese Tage vorbereiten, die zu diesen Wochen wurden, zu diesen Monaten, zu diesen Jahren, zu diesem Leben?" Was für ein elegisches Buch! Für mich in meiner Lebenslage das Richtige, dieses poetische Echo auf ein langes Leben, lang genug, "um herauszufinden, was Luft und Meer und Erde und Hass und Liebe sind, und dann Danke und Lebewohl zu sagen", um am Ende seinen Frieden mit dem Gang der Dinge zu machen.
Auf das nächste Buch bin ich gekommen, weil mich mit dem Namen Romain Gary eine Vorstellung von wilder, funkelnder Romantik aus meinen jungen Jahren verbindet. Auf die Spuren Garys, geboren als Roman Kacev & litauischer Jude, stößt ein junger Mann - der Autor - bei seinem Besuch in dessen Geburtsort Wilna. Er erinnert sich, dass in dem einzigen Roman, den er für sein Abitur überhaupt gelesen - und damit dann auch bestanden hat -, jener Gary berichtet, dass ein Monsieur Piekielny ihn einstens als Junge zum Tee eingeladen und gebeten hat, solle er jemals berühmt werden, die Welt an seine – Piekielnys – Existenz gegenüber Dritten zu erinnern.
Für François-Henri Désérable, ein heute 38jähriger französischer Autor & nebenbei auch Eishockeyspieler, war das Inspiration für sein Buch von 2017, "Ein gewisser Monsieur Piekielny", eine Mischung aus Roman, Biografie, Geschichtsbuch und Reflexion über das Lesen & Schreiben. Gelungen ist ihm ein sehr sympathisches Oeuvre, scheinbar leicht & heiter daher erzählt, geradezu flanierend im 20. Jahrhundert, nicht immer ganz "ausgereift", aber voller ironischer (Glücks-) Momente, ein Lobgesang auf die Erinnerung und die Phantasie und auch auf die Lust am Lesen und die Liebe zur Literatur.
Es hat allerdings auch eine finstere historische Dimension durch die Erzählung von der Auslöschung des jüdischen Lebens im Baltikum - und das tut Désérable auf sehr eindrückliche, bedrückende Weise - "dessen Widerhall uns unablässig die Kehle aufschürft und das Herz zerreißt". So kommentiert Désérable die Erschießung von Garys Vater 1943 im Wald von Ponar, zehn Kilometer von Wilna entfernt ( und die er sich auch für Herrn Piekielny vorstellt ). Der Autor schafft eine Erinnerung an die Juden Wilnas, Litauens, und an die Taten der Bestien, die unsere Vorfahren gewesen sind.
Jener Fakt bezüglich des Todes seines Vaters wirft wiederum ein Licht auf Romain Gary, der seine Vorfahren und sich selbst wohl immer wieder auch selbst erfunden hat ( und mir als Emile Ajar - ein weiteres seiner Pseudonyme - in den 1970/80er Jahren viel Freude mit seinen Romanen gemacht hat ). Ist es nicht so, dass die Fiktion eindringt in die Realität? Denn nichts anderes ist Literatur. Und manche liest frau besonders gern.
Wenn ich meine Notizen darüber, was ich jeden Monat gelesen habe, anschaue, dann beschleicht mich ein missliches Gefühl, weil ich mehr Autoren als Autorinnen auf dem Zettel habe. Deshalb habe ich mir als nächstes Buch von meinen Stapeln das der Schriftstellerin Katharina Hagena geschnappt. An ihr "Der Geschmack von Apfelkernen" von 2008 habe ich nur noch eine vage Erinnerung. Nun also "Flusslinien". Darauf gekommen bin ich auf der Suche nach Else Hoffa, der Schöpferin des Römischen Gartens der Warburgs in Blankenese, nachdem ich im August "Ein Garten über der Elbe" gelesen hatte.
Hagena schreibt über drei sympathische Charaktere in drei Erzählsträngen, die sie über 12 Tage im Frühsommer immer mehr zu einem Ganzen verbindet: die 102jährige Margrit, einst Stimmbildnerin & Atemtherapeutin, jetzt Bewohnerin eines Seniorenheims, fast blind & fast taub, dem Römischen Garten am Elbufer auf besondere Weise verbunden; die achtzehnjährige Luzie, ihre Enkelin, die - nach einem traumatischen Erlebnis in Australien- nach Hamburg zurückkehrt, die Schule abbricht und Tätowiererin werden will; der 24jährige Arthur, Fahrer des Seniorenheimes, Sondengänger, Kunstsprachenschöpfer, NABU-Mitglied und einiges mehr, ebenfalls mit einem schwarzen Fleck auf der Seele. Alle drei leben direkt am Ufer des Stromes.
Als Stilmittel nutzt die Autorin die sog. erlebte Rede, was mir sehr zugesagt hat. Gemächlich & besonnen strömen die Gedanken & Erlebnisse hin auf die unterschiedlichen "Knackpunkte" in der Biografie der Protagonist*innen, wobei für mich - altersbedingt - der mäandernde Erinnerungsfluss der alten Dame der interessanteste ist. Immer wieder durchbricht sie die "dunkle Stille, die sich dort im Laufe der letzten Jahre ausgebreitet hat, und betrachtet die Dinge, die langsam daraus hervortreten". Dazu gehört auch das uneindeutige Verhältnis ihrer bei einem Bombenangriff auf Hamburg umgekommenen Mutter zur Gärtnerin Else Hoffa, was sie sehr beschäftigt. Aber ich will hier nicht mehr verraten, falls sich jemand ebenfalls mit in die Strömung begeben will, und das offene Ende - um weiter im Bild zu bleiben - etwas von der Mündung der Elbe in die Nordsee hat. "Jedenfalls riecht die Elbe anders als das Meer und auch anders als ein Baggersee", um es mit Arthur zu sagen.
Zwischendurch habe ich immer wieder in zwei Büchern von Norbert Scheuer geblättert ( ja, er spricht mich sehr an ): Dem Bildband "Von hier aus", zusammen mit Andreas Erb und der Gedichtesammlung "Bis ich dies alles liebte. Neue Heimatgedichte". Andreas Erb ergänzt kurze Texte Scheuers mit Collagen, entstanden aus Fotos, aufgenommen in der Eifel und in Ouagadogou ( Burkina Faso ). Des passt scho: Mein ältester Neffe ist in Ouagadougo geboren, und meine Küche stammt aus Kall...
Gedichte kann frau nicht genug haben: Ich greife immer zu ihnen, wenn ich in meinem Alltag aus der Spur gerate und in der Luft hänge. Scheuers Gedichte erzeugen zugleich eine Vorstellung von der Wirklichkeit wie von der Gelassenheit des Gemüts, die, das Unausweichliche vor Augen, sich einstellt.
Fortgehen fängt damit andass ich mich zurücksehnees ist das Andereneben den Wortenworan ich nicht mehr glaubeüberhaupt noch etwas zu wissenist schon genugdas Leben ist die Girtzenbergstraßeeinmal hinauf ... einmal hinunterder Tod ist nur eine falsche Bewegungaus allem rausdort ist es stillwie in einem Bienenstock im Winter
Auch in diesem Monat ein schöner Ertrag, den mir die Literatur bzw. das Lesen eingebracht hat: "Denn es ist die Zeit, da gehen die Lichter auf, da kommt der Wind... ", so Elisabeth Borchers in "Dezember"... Wenn frau aber zu lesen hat: "Da bleibt ein goldner Schein zurück."











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