Freitag, 10. Mai 2019

So nicht! { #DHMDemokratie}

Der Fall des saudischen Bloggers Raif Badawi, seine Inhaftierung und Auspeitschung hatten mich vor drei Jahren und vier Monaten so aufgewühlt & empört, dass ich aufgehört habe, mein Blog als Nähblog zu betreiben. Es drängte mich,  mich u.a. den wirklich wesentlichen Fragen, nämlich denen nach der Art & Weise des menschlichen Zusammenlebens, nach der Verfasstheit von Gesellschaften, nach dem zivilisatorischen Zustand der jeweiligen Gemeinschaften, zuzuwenden und mich dazu zu äußern. Waren es erst die Menschenrechtsverletzungen in den Ländern des Nahen Ostens, so habe ich mich nach und nach in meinen freitäglichen Posts auch dem angeblich so fortschrittlichen Westen  zugewandt...

... denn die politischen Entwicklungen in den letzten Jahren in Europa haben mich herausgefordert, Stellung zu beziehen. Immer weniger wurde ja der Demokratie in Europa und seinen unmittelbaren Nachbarn der Wert beigemessen, der ihr zusteht. Gerade in diesen Tagen kann man wieder den Mangel an demokratischem Verständnis & Einstellung beobachten: 

Da gerät zum einen im sonst so geschätzten südöstlichen Nachbarland die Pressefreiheit immer weiter  unter Druck, so dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk ( ORF ) jetzt immer öfter nen Kotau vor der rechtspopulistischen kornblumenblauen Regierungspartei macht. Bei österreichischen Journalistinnen und Journalisten setzt inzwischen schon die Schere im Kopf an, denn ein Begriff wie "distanzieren" im Abspann zur Kulturmontagssendung mit Jan Böhmermann ist nichts anderes als ein Ausdruck von Angst. 

Neben der ständigen Forderung nach einem steuerfinanzierten - was faktische der Umwandlung in einen Staatsfunk gleichkäme - Rundfunk, gehen die Rechtspopulisten regelmäßig Journalisten direkt an, wie zuletzt Armin Wolf oder 2018 den  ORF-Korrespondenten in Budapest, Ernst Gelegs, dessen Berichterstattung zur Ungarn-Wahl angeblich "einseitig" gewesen sei. Überhaupt droht ORF - Stiftungsrat Steger, in den Achtzigerjahren Parteichef der FPÖ sowie österreichischer Vizekanzler, gerne, zum Beispiel auch mit der Streichung von Stellen für Auslandskorrespondenten, "wenn diese sich nicht korrekt verhalten". Nur wer entscheidet, was "korrekt" ist? Herr Steger? 

Übrigens macht bei der austriakischen Journalistenschelte auch gerne der türkisfarbene Regierungspartner mit: So deklarierte der Kanzler kürzlich einen Radiobetrag als falsch, der nachweislich "korrekt" war...

Zum anderen hat sich auch wieder der starke Mann am Bosporus in mein Gedächtnis zurückkatapultiert, um den es doch zuletzt etwas ruhiger geworden war, indem er alles daran gesetzt hat, das Ergebnis der Bürgermeisterwahl in Istanbul aus der Welt zu schaffen.

Nur zur Erinnerung: Nach Einsprüchen der AKP erklärte die Wahlbehörde den CHP - Politiker İmamoğlu zum Sieger, der damit zum ersten Mal seit 25 Jahren einen AKP - Politiker auf diesem Posten verdrängt hatte. Für Erdoğan, der von 1994 bis 1998 selbst Oberbürgermeister der Stadt gewesen war, ein Gesichtsverlust. Auf Antrag der AKP, die eine "außerordentliche Beschwerde" einlegte, knickte der Hohe Wahlausschuss (YSK) am 6. Mai 2019 ein und erklärte wegen angeblicher Regelwidrigkeiten das Wahlergebnis für null & nichtig.

Das sei der "beste Schritt" für sein Land. Damit werde "unser Wille ( Hervorhebung durch mich ), Probleme im Rahmen von Demokratie und Gesetz zu lösen, gestärkt", verkündete Erdoğan daraufhin bei einem Treffen mit Abgeordneten seiner Partei. Deutlicher kann man seine abgrundtiefe Demokratieverachtung nicht zeigen und ausdrücken. "Es kommt nicht darauf an, wer wählt, sondern wer zählt" -  so soll es angeblich Josef Stalin gesagt haben. Dass der türkische Präsident inzwischen das alleinige Maß aller Dinge in seinem Land ist, hat er mit diesem Eingriff wieder einmal bewiesen...

Nicht nur in der Türkei ist einer an der Macht, der am liebsten allein und ungestört regieren will und die Gewaltenteilung als wichtige demokratische Struktur abzuschütteln und abzuschaffen versucht. Bei einem anderen, unmittelbaren Nachbarn unseres Landes arbeitet man ebenfalls schon länger daran: Die polnische Regierung ist der Meinung, die Justiz ist nur im Recht, wenn dieses Recht von ihr bestimmt wird, schließlich sei sie von der Mehrheit gewählt worden. Selbstermächtigung nennt man das, wenn man diese Behauptung umsetzt und alles der eigenen Kontrolle unterwirft. Demokratie geht anders... 

So begründet, schafft die Regierungspartei PiS also den Rechtsstaat ab, indem sie Richter in die Zwangspension schickt und deren Posten mit ihren Gefolgsleuten neu besetzt. Jarosław Kaczyński hatte das bei den Journalisten des öffentlich-rechtlichen Rundfunks und Fernsehens schon erfolgreich praktiziert, jetzt kam die Justiz dran. Kaczyński ist es gewohnt, dass seine Landsleute dabei kuschen. Doch noch ist Polen nicht ganz verloren:
"Der Widerstand hat in Polen einen schönen Namen - er heißt Małgorzata Gersdorf. Małgorzata ist ein weiblicher polnischer Vorname, auf Deutsch Margarete. Die Trägerin dieses Namens ist eine wunderbar kluge, 66 Jahre alte Juristin und Rechtsprofessorin. Sie war während der Achtzigerjahre in der Gewerkschaftsbewegung Solidarność aktiv, die das kommunistische Regime Polens in die Knie zwang. Gersdorf wurde Dekanin an der Fakultät für Rechtswissenschaft in Warschau, wurde 2008 zur Richterin am Obersten Gericht ernannt und stieg 2014 zu dessen Präsidentin auf - bis die PiS-Regierung ihren Rausschmiss inszenierte", schrieb am vergangenen Sonntag Heribert Prantl hier
Diese Frau ist für mich eine Heldin: Nachdem sie von der Regierung als Präsidentin des Obersten Gerichts in Polen über Nacht zwangsweise und verfassungswidrig in Pension geschickt worden war, indem man einfach die Altersgrenze für die Pensionierung von Richtern von 70 auf 65 Jahre heruntersetzte, ging sie in Richterrobe und mit weißer Rose weiter zu ihrer Arbeit.

"Ich stelle fest, dass meine Amtszeit bis zum 30. April 2020 andauert und ich kraft des höchsten Rechts der Republik Polen, der Verfassung, zur Amtsführung verpflichtet bin", schrieb sie in der Begründung für ihr Verhalten an den Staatspräsidenten. Die Regierung führte sie als Richterin "a.D.", doch die Richterin ging Tag für Tag weiter ihrer Arbeit nach. Und schließlich machte der Europäische Gerichtshof in einer Eilentscheidung die Zwangspensionierungen rückgängig.

Ein kleiner Sieg, aber nur ein kleiner, denn daraufhin hat sich die polnische Regierung neue Schikanen überlegt und einfach neue Richterstellen geschaffen, damit die alten Richter bei Entscheidungen regierungsgenehm überstimmt werden können, und ein neues Gesetz nach dem anderen auf den Weg gebracht, um die Justiz zu ihrem Erfüllungsgehilfen zu machen. 

Małgorzata Gersdorf wird morgen um 10.30 Uhr im Haus der Wirtschaft in Stuttgart als Anerkennung für ihren "Widerstand für den Rechtsstaat" der Theodor-Heuss-Preis verliehen. 


So heißt es in der Begründung des Kuratoriums der Stiftung.


Mit der Demokratie in Europa alles im grünen Bereich? So lautet eine der Fragen in der Einladung des Deutschen Historischen Museums zu einer Blogparade anlässlich ihres Ausstellungsprogrammes für das nächste halbe Jahr. Und da bleibt mir nur das "Nein" als Antwort. Die von mir in diesem Post geschilderten drei Beispiele belegen es wieder einmal.

Sie belegen aber auch wie notwendig es ist, den Selbstermächtigungen populistischer Extremisten etwas entgegenzusetzen. In meinen Augen ist es unerlässlich, sich am 26. Mai an die Wahlurnen zu begeben und die demokratischen Grundrechte zu stärken. Die rechtspopulistische Vergiftung hat schon zu viel durchdrungen...


8 Kommentare:

  1. Da bekommt die Gretchen-Frage doch gleich nochmal ein neues Gesicht, wenn Frau Malgorzata G. so ihrer Arbeit nachgeht! Und von der Theodor Heuss-Stiftung dafür ausgezeichnet wird.

    Meine Hoffnung sind eh die Frauen, die mutigen, klugen, sehr gut ausgebildeten Frauen jeden Alters, die von Regimen dieser Art geradezu dazu herausgefordert werden, sich der Demokratie deutlich und öffentlich zu verschreiben. In den USA gibts ja auch schon einige, die klugen Widerstand demonstrieren und ihrerseits an Macht gewinnen. Neue Netzwerke entstehen, mehr Vielfalt und Lebensentwürfe sind präsent und neue Formen politischen Denkens und Handelns.
    Mir macht das Mut.
    Ich finde es sehr gut, dass Malgorzata Gersdorf die Anerkennung "Widerstand für den Rechtsstaat" morgen in Stuttgart erhält. Was für eine tolle Auszeichnung - allein schon der Titel!
    Applaus für diese mutige Frau!
    LG Sieglinde


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  2. ein weitergeleiteter Kommentar von meiner Mama:

    Liebe Astrid,

    Du hast uns überzeugt, die Wahlunterlagen zur Briefwahl sind schon bestellt. Dein Bericht ist eindringlich, "wehret den Anfängen". Alles schon mal da gewesen, leider war ich da noch nicht geboren und als es dann geschah hatte ich noch kein Wahlrecht. Und wenn, wär ich in Dachau gelandet wie unser Onkel, 12 Jahre, mißhandelt und taub geprügelt. Die Wiedergutmachung dauerte bis Ende der Sechziger Jahre. Ellenlange Anträge und Untersuchungen, alles mußte wieder aufbereitet werden.
    Die Welt wird nicht mehr gescheiter, wir haben doch nur hier diese kurze Zeit eines Gastbesuches.

    Nachdenkliche Grüße zum Wochenende von der Helga.

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  3. Der vorauseilende Gehorsam im Kopf ist böse bei uns! Es gilt immer wieder laut dagegen Stellung zu beziehen.

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    1. Es tut mir ja schon leid, dass jetzt die "Piefkes" den Rechten bei euch den Spiegel vorhalten ( ich bin nicht unbedingt ein Böhmermann-Fan ).
      Alles Gute!

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  4. Mund aufmachen ist wirklich angesagt
    die "schweigende" Mehrheit " ist schon groß genug
    und sie überläßt den Lauten von rechts das Feld
    eine Demokratie lebt von der Meinungsvielfalt
    dann verträgt sie auch Tendenzen von rechts oder links
    und man kann darüber diskutieren
    doch wenn nur noch eine gelenkte Meinung zählt wird es kritisch
    und wenn eine "Richtung" versucht andere zu unterdücken
    oder nieder zu "schreien" dann ist Wachsamkeit angebracht
    schön dass du nicht nachläßt

    liebe Grüße
    Rosi

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  5. Danke für Deine wie immer treffenden Worte, liebe Astrid!
    Ja, Österreich verliert in Sachen Pressefreiheit usw. schleichend, aber dennoch massiv; und scheinbar erkennen dies viele Menschen im Lande immer noch nicht als höchst bedrohliche Situation für die Zukunft.. wohin führt das nur?

    Herzliche Grüße und ein großes Danke für alle Deine wunderbaren Blog-Einträge

    Elena

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  6. Liebe Astrid,

    was für erschreckende Beispiele und kaum zu glauben, dass das nach der Historie erneut möglich ist. Das zeigt, wie wichtig es ist, Erinnerungskultur zu leben. Es zeigt aber auch, wie anfällig die Demokratie aufgrund ihrer Strukturen dafür ist, sich selbst wieder abzuschaffen. Rechte Verirrungen leben davon, dass sich Teile der Bevölkerung benachteiligt sehen, es lebt davon, dass Bildung nicht integrativ in die Gesellschaft einwirkt, da es in Deutschland immer noch eine Frage der sozialen Herkunft ist, ob jemand sozial aufsteigt bzw. ein zufriedenstellendes Auskommen hat. Hier ist extremst viel zu tun.

    Ich war auf einer Museumstagung die letzten zwei Tage, deshalb komme ich erst jetzt dazu, deinen Beitrag genau zu lesen und er tut gut. Auf der Tagung plädierte ich für ein Haltung zeigen der Kulturhäuser, die auch integrativ und verbindend wirken können. Das werde ich weiter ausbauen und Projekte, wie #DHMDemokratie mit allen Unwägbarkeiten mit durchdenken und begleiten, das bin ich mir allein schon als Kulturmensch schuldig.

    Nochmals MERCI für deine eindringlichen Gedanken!

    Herzlich,
    Tanja Praske

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  7. Hallo,

    es erscheint so einfach Institutionen zu untergraben, die eingerichtet wurden eben das zu verhindern. Die polnische Richterin Małgorzata Gersdorf ist ein wunderbares Beispiel dafür, wie Positionen vertreten und Durchhaltevermögen gezeigt werden können.
    Schöner Artikel.

    Liebe Grüße
    Claudia

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