Donnerstag, 20. Dezember 2018

Great Women # 165: Marie Kahle

Immer wenn ich zwecks Besuchs der Bonner Kunsthalle bzw. des Kunstmuseums Bonn den Parkplatz bzw. das Parkhaus dahinter aufsuchte, musste ich durch eine Straße mit Namen "Marie - Kahle - Allee" - ein Name, der mir nichts sagte. Erst ein "Zeitzeichen" im Mai dieses Jahres bei WDR 5 klärte mich über das aufregende Schicksal dieser Bonner Bürgerin auf. Und da ich sofort "angebissen" habe, habe ich auch noch erfahren, dass die Hauptschule in meinem alten Bezirk in der Nordstadt aus meiner Zeit beim Bonner Jugendamt heute eine Gesamtschule ist, die ihren Namen trägt: Marie Kahle. Gut gemacht, liebes Bonn!

Ma­rie Kah­le kommt am 6. Mai 1893 in Dah­me/ Mark Brandenburg als Marie Pauline Emilie Gisevius zur Welt. Sie ist die dritte Tochter von Marie Stolzmann, Tochter eines Konsistorialpräsidenten in Breslau, und von Paul Karl Timotheus Gi­se­vi­us, Lehrer an der Höheren Landwirtschaftsschule in Dahme, an der Landwirtschaftslehrer ausgebildet werden und deren Leitung er 1896 übernehmen wird. Die Eltern haben 1884 geheiratet. In die Familie wird 1897 noch ein Sohn, Otto, geboren. Die Familie entstammt dem Adel, ist protestantisch, begütert und gehört zu den gebildeten Schichten im Kaiserreich.

Dahme um die 20. Jahrhundertwende
1898 erhält Paul Gisevius einen Ruf als außerordentlicher Professor für Allgemeine und Spezielle Pflanzenproduktionslehre an die Universität Königsberg, 1903 wird er dann als ordentlicher Professor und Direktor des Landwirtschaftlichen Instituts an die Universität Gießen berufen.

Die zehnjährige Marie besucht in Gießen das Lyzeum und schlägt damit einen für höhere Töchter dieser Zeit typischen Bildungsweg ein. Nach dem Abschluss des Lyzeums setzt sie ihre Ausbildung fast drei Jahre lang am privaten Oberlyzeum des Fräulein Margarete Aust in Breslau fort. Im März 1912 legt Marie an dieser Schule die Reifeprüfung in dreizehn Fächern ab, darunter Englisch und Französisch, Mathematik und Naturwissenschaften. 

Schon im Jahr darauf erlangt sie sie nach einer Prüfung vor der Königlichen Prüfungskommission in Breslau die Lehrerlaubnis für Höhere Töchterschulen - eine der ganz wenigen Möglichkeiten für junge Frauen zur eigenen Erwerbstätigkeit und finanziellen Eigenständigkeit zu kommen und der höchste Bildungsabschluss für Frauen überhaupt in jener Zeit. Die Tätigkeit als Lehrerin ist gesetzlich an das sogenannte Lehrerinnenzölibat gebunden, was bedeutet, dass man automatisch aus dem Schuldienst entlassen wird, wenn frau heiratet.

Marie kehrt anschließend zu den Eltern nach Gießen zurück, wo sie mit Ausbruch des Ersten Weltkrieges an der Stadtmädchenschule als Lehrerin arbeitet. Gleichzeitig ist sie an der Universität eingeschrieben - in Gießen können Frauen ab dem Wintersemester 1908/09 studieren -, und zwar in den Fächern Landwirtschaft und Neuere Philologie.

In Gießen lernt sie auch einen Kollegen des Vaters kennen, der wie dieser aus Ostpreußen stammt, 18 Jahre älter als sie selbst: Paul Kahle.
Paul Ernst Kahle, 1875 in Hohenstein ( Ostpreußen ) geboren, wird nach dem Studium der Orientalistik und Theologie in Marburg, der Promotion in Halle und nach Ablegung des 2. Theologisches Staatsexamens 1902 im Kirchendienst als Pfarrer in Brăila ( Rumänien ) tätig, bevor er im Jahr darauf nach Kairo wechselt. Dort wirkt er bis 1908 als Pfarrer und Leiter der Deutschen Schule, lernt Arabisch und beschäftigt sich mit dem arabischen Schattentheater. Nach seiner Rückkehr habilitiert er sich in Halle für semitische Philologie und wird 1914 nach Gießen berufen. 1923 wird er einem Ruf an die Bonner Universität folgen, wo er das Orientalische Seminar ausbaut und um eine chinesische sowie eine japanische Abteilung erweitert. Paul Kah­le verkörpert geradezu idealtypisch den deut­schen Ge­lehr­ten wil­hel­mi­ni­scher Zeit, des­sen alleiniger Le­bens­inhalt die rei­ne Wis­sen­schaft ist. 
Um so überraschender, dass dieser Gelehrte, der bis dato als eiserner Junggeselle ohne Familie gelebt hat, schon nach sechs Wochen "Brautzeit" die 24jährige Marie an Ostern 1917 zum Traualtar führt und am Ende des gleichen Jahres mit ihr einen ersten Sohn, Ernst Gottfried, bekommt. In Veröffentlichungen  wird immer betont, dass zwei Menschen - hier die politisch interessierte und sozial stark engagierte junge Frau und da der unpolitischen Professor -  nicht hätten gegensätzlicher sein können.

Noch in Gießen kommt 1919 Wilhelm zur Welt, 1920 im Sommer dann Hans Hermann, bevor Maries Erstgeborener Ernst und ihre Mutter der Spanischen Grippe zum Opfer fallen. Was das mit ihr macht, ist nirgends herauszufinden. Zum Jahresbeginn 1922 bekommt Marie einen weiteren Sohn, Theodor.

Zum Oktober 1923 wird Paul Kahle,inzwischen als Orientalist gut bekannt, als Direktor des Orientalischen Instituts der Universität nach Bonn berufen - für ihn eine gute Chance, um seine Studien zur Textgeschichte der hebräischen Bibel weiterzutreiben. In Bonn wird noch im gleichen Jahr Paul Eric geboren, 1924 Gustav, der kurz nach seiner Geburt stirbt, und 1927 als Nesthäkchen Ernst - Friedrich Carl.

Auch über diese Zeit in Bonn mit der stetig wachsenden Kinderschar in fremder Umgebung, fern der Familie,  finden sich kaum aussagekräftige Quellen. Die als en­er­gisch wie sen­si­bel beschriebene Marie, von großer spontaner Herzlichkeit und Verantwortungsbewusstsein, wird von Außenstehenden als der Mit­tel­punkt der großen Pro­fes­so­ren­fa­mi­lie erfahren, wäh­rend ihr Mann aufgrund des Al­ters­ab­standes und sei­ner Ge­lehr­tenmentalität zwar respektiert & verehrt wird, aber eher an der Peripherie der Familie angesiedelt bleibt. Die Söhne werden die Nähe zur Mutter auch in den späteren Berichten immer wieder betonen. Warum das so ist, illustriert auch diese kleine Episode:

Beim Mittagessen im Hause Kahle ist das Sprechen nur gestattet, wenn das Fa­mi­li­en­ober­haupt dazu aufgefordert hat. Inhaltlich bleibt die Kon­ver­sa­ti­on beschränkt auf die väterlichen Vor­le­sun­gsthemen oder sei­ne Kon­tak­te zu anderen Gelehrten.

Aufgrund ihrer menschlichen Art gelingt es Marie Kahle in kürzester Zeit in Bonn einen gro­ßen Freun­des- und Be­kann­ten­kreis aufzubauen, darunter zahl­rei­che Ka­tho­li­ken und ka­tho­li­sche Theo­lo­gen ( 1936 tritt sie, Ehe­frau eines vor­ma­li­gen evan­ge­li­schen Pfar­rers, zum ka­tho­li­schen Glau­ben über ).

Schon vor 1933 hat sie sich mit Adolf Hit­lers "Mein Kampf" und Al­fred Ro­sen­bergs "My­thus des 20. Jahr­hun­derts" auseinandergesetzt und eine ent­schie­de­ne Haltung gegenüber dem Na­tio­nal­so­zia­lis­mus entwickelt. Sie weist beizeiten auf die Pläne der Nazis gegenüber den Juden hin und prophezeit auch einen neuen Krieg, ja, sie erwägt sogar die Auswanderung für die Familie, denn sie sieht eine dramatische Entwicklung für das Land voraus.

Nach der Machtübernahme fühlt sie sich bestätigt. Ihr primäres Ziel ist nun zu verhindern, dass "ihre Jungen" Mitglieder der Hitlerjugend werden: "Sie versuchte, uns mit allen Mitteln aus dem Sog der Suggestion und des blendenden Schauspiels mit Aufmärschen und Paraden, mit Demonstrationen der Macht und des falschen Patriotismus herauszuhalten", so Wilhelm später ( Quelle hier ). Das ist für die Söhne nicht immer einfach, denn es ist mit Schulwechseln und Privatunterricht für sie verbunden, nachdem im städtischen Beethovengymnasium der Druck auf die Jugend auf Eintritt in die Organisation immer größer wird.

Ganz anders ihr Ehemann, der dem Nationalsozialismus zwar kritisch - distanziert gegenüber steht, aber auch meint, dass der Spuk schnell vorübergehen werde. Nun wissen einflussreiche Kreise unter den Nazis den Wert des eher un­po­li­ti­schen Ge­lehr­ten Kahle wegen seiner internationalen wis­sen­schaft­li­chen Re­putation und seines Or­ga­ni­sa­ti­ons­ta­lents zu schätzen, profitieren sie doch auch von seinem An­se­hen. Sie nehmen daher auch hin, dass er weiterhin zahl­rei­che aus­län­di­sche und jü­di­sche Mit­ar­bei­ter, darunter ein Rabbiner, und Schü­ler um sich schar­t und verlangen von ihm auch nicht den Besuch oder die Teilnahme an den üblichen Propagandaveranstaltungen.

Marie Kahle ( 1938 )
Doch als Paul Kahle sich 1935 um einen Ruf nach Berlin bemüht, um Gründungsdirektor eines neu zu errichtenden großen Orient-Instituts zu werden, scheitert das an "weltanschaulichen Gründen". Man lässt Paul Kahle aber noch die Geschäftsführung der "Deutschen Morgenländischen Gesellschaft", in deren Rahmen er die Orientalistentage von 1936 und 1938 ausrichtet.

Marie hingegen wird schon zu Beginn des "Dritten Reiches" von ihrem Dienstmädchen denunziert, weil sie Hitler angeblich einen "Pinselquetscher" und Goebbels "Ohrfeigengesicht" genannt hat. Das daraufhin eingeleitete Ermittlungsverfahren wird mangels weiterer Zeugen aber eingestellt. Ansonsten bleibt die Familie unbehelligt, obwohl u.a. ein jüdischer Student beherbergt und versteckt bzw. jüdischen Mitbürgern immer wieder mal beigestanden wird. Das verändert sich  schlagartig mit der Reichspogromnacht:

Am Morgen des 10. November 1938 werden die Synagogen in Bonn und Umgebung in Brand gesetzt ( insgesamt zwanzig in der Region ) - die "Reichskristallnacht" findet in Bonn also am helllichten Tag statt. 27 Geschäfte und Wohnungen jüdischer Inhaber werden zerstört. Organisiert werden die Aktivitäten der Schlägertrupps von der lokalen NSDAP-Parteileitung.

Margarete Philippson, Frau des jüdischen Uni-Kollegen Alfred Philipson, sucht Marie auf, informiert sie davon und nutzt die Gelegenheit, ihr das Manuskript des Lebenswerkes ihres Mannes, eines namhaften Geographen und Freund Sven Hedins,  in Verwahrung zu geben.

Währenddessen fährt Sohn Nummer Drei, Theodor, mit dem Fahrrad zu einem Bekannten, dem Uhrmacher in der Bahnhofstraße, und hilft diesem, Sachen zu verstecken bzw. einen Koffer mit den wertvollsten Schmucksachen & Uhren im Haus der Kahles zu sichern. Anschließend hilft der Junge der Besitzerin des Schokoladengeschäftes der Geschwister Apfel in der Meckenheimer Straße, indem er einen Koffer mit Wertpapieren durch die Hinterzimmertür bringt, während im Laden schon drei SS-Männer alles kurz und klein schlagen. Die so geretteten Wertgegenstände werden in den Wochen darauf verkauft, um den jüdischen Mitbürgern Geld zu verschaffen, ohne dass die Nazis davon Kenntnis erhalten.

Später geht Marie mit den Söhnen zur Brücke. Sie berichtet darüber in ihrer 1939 verfassten Schrift "Was hätten Sie getan?":
Brennende Synagoge am Rheinufer
"Von der Rheinbrücke sahen wir die schöne alte Synagoge in Flammen stehen. Nichts wurde gerettet. Feuerwehrleute standen herum und verhinderten das Übergreifen des Feuers auf die Häuser. Kein Tropfen Wasser wurde auf das Feuer verspritzt. Soldaten in grauen Uniformen bewachten die Straßen. Niemand durfte näher herangehen. Die Leute standen da und starrten in die Flammen – schweigsam, furchtsam. Ein Mann neben mir murmelte: 'Vater vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.' Es waren meine eigenen Gedanken."
Ein Löschzug der Bonner Feuerwehr hat den Brand an der Synagoge zwar schnell eindämmen können. Doch der Polizeidezernent, ein SS-Standartenführer, befiehlt dem Einsatzleiter, er solle sein Augenmerk auf die angrenzenden Häuser richten. Fünf bis sechs SS-Männer schütten anschließend zum zweiten Mal Benzin- und Ölkanister in den Betsaal und zünden wieder alles an, nun auch unterstützt von Bonner Bürgern, die weitere Benzinkanister herbeischleppen und Fenster einschlagen, damit das Feuer mehr Luft bekommt.

Gerettet wird von den Kahles auch Alfred Philippson, der mit seiner Frau die ganzen Zeit im Haus in der Kaiserstraße verbringen darf und so ( fürs Erste ) einer Festnahme entgehen kann. Denn anschließend rollt in Bonn eine Verhaftungswelle los, in deren Rahmen jüdische Männer gesammelt und ins Konzentrationslager nach Dachau verschleppt werden. "Daß ich fünfundsiebzig Jahre alt geworden bin, um das zu erleben!", klagt Philippson.

Die Kaiserstraße 22 in Bonn,
wo Emilies Goldsteins Geschäft war
Source
Zwei andere Söhne Maries versuchen zeitgleich Emilie Goldstein, die ein Korsettgeschäft in der Kaiserstrasse 22 in der Nachbarschaft der Kahles betreibt, zu warnen, doch sie kommen zu spät.

Ab 11. November helfen die Kahle - Söhne verschiedenen jüdischen Ladenbesitzern beim Beseitigen ihrer Schäden, besonders der 19jährige Wilhelm, der Emilie Goldstein dabei unterstützt, ihren Laden in Ordnung zu bringen. Marie fühlt sich aufgrund der Stellung ihres Ehemannes eher zur Zurückhaltung verpflichtet, geht aber am Abend des 15. November im Anschluss an einen Lebensmitteleinkauf zusammen mit Wilhelm bei Emilie Goldstein vorbei. Da diese vergessen hat, die Ladentür abzuschließen, kann ein Polizeibeamter eindringen, der verlangt, die Namen aller Anwesenden im Ladengeschäft zu erfahren.

Das Wochenende darauf ist ein ganz normales ruhiges Familienwochenende mit einem Autoausflug. Am Montag geht auch jeder seinen "Geschäften" nach, der Professor in die Universität, die beiden Ältesten zu ihren Vorlesungen. Doch später ruft Paul Kahle höchst verärgert zu Hause an: Vom Universitätsrektor habe er erfahren, dass Marie in einem jüdischen Geschäft angetroffen worden sei und ein Bericht dazu in der Zeitung erscheinen werde. Betroffen und beunruhigt versammelt sich die gesamte Familie zu Hause und informiert Freunde über das Menetekel.

Dann, am 17. November, bricht es über die Familie herein. Da geifert nämlich der "Westdeutsche Beobachter" auf der ersten Seite seiner Bonner Ausgabe:
"Das ist Verrat am Volke - Frau Kahle und ihr Sohn helfen der Jüdin Goldstein bei Aufräumungsarbeiten (...) die ehrlich und rein empfindende Bonner Bevölkerung steht sprachlos vor einer solchen Gemeinheit (...) Sie wußte, daß sie sich nicht nur außerhalb dieser Gemeinschaft, sondern gegen sie stellte. Und sie wußte, daß sie das ganze Volk in seinem heiligsten Gefühl beleidigte und verriet.  (...) Sie stellten sich an die Seiten der Juden und halfen ihnen, gegen ihr eigenes Volk, die Wirkung der Volksempörung abzuschwächen. Sie haben damit den größten Feind des nationalsozialistischen Deutschland mit Rat und Tat unterstützt. (...) Dafür trifft sie die ganze Verachtung der deutsch-fühlenden Bonner Bevölkerung und die Verurteilung des ganzen deutschen Volkes." ( Quelle hier )
"In ihrer schwächlichen Sentimentalität", so urteilt der Journalist abschließend, wollen die Kahles "die harten Erfordernisse der Rettung Deutschlands nicht verstehen: die Ausrottung der Weltpest". Mit diesem Artikel beginnt die In­sze­nie­rung des so ge­nann­ten "Skan­dals Kah­le", mit dem die Bonner Bevölkerung auf ei­ne noch här­te­re Gang­art ge­genüber Ju­den & ihren Unterstützern vor­be­rei­tet werden soll. Der Fall ist ein eindrückliches Beispiel für Volksverhetzung Goebbelscher Machart ( wie sie immer wieder auch heutzutage angebahnt wird ). Doch nur wenige Bonner sind bereit, die Zeichen an der Wand richtig zu deuten.

Kloster "Zur Ewigen Anbetung"
( Im April 1941 richtetet die Gestapo
dort übrigens ein provisorisches
Sammellager für Juden
aus Bonn und Umgebung dort ein )
Noch am gleichen Tag wer­den die Kah­les in ih­rem Haus an­ge­grif­fen, indem die Fens­ter im ers­ten Stock eingeworfen werden. Auf die Straße vorm Haus schreibt man "Volks­ver­rä­ter" und "Ju­den­freun­de". Anonyme Anrufer bekunden, dass "Schweine" wie die Kahles umgebracht werden sollten. Die beiden Jüngsten werden in der Schule schikaniert, der Kleinere mit Steinen beworfen, und schließlich tauchen in der Stadt Plakate auf mit indirekten Aufrufen zur Ermordung und Vertreibung. Die Familie rechnet mit Verhör, Lagerhaft, Hinrichtung. Marie sucht daraufhin mit dem elfjährigen  Ernst -Friedrich Zuflucht im Benediktinerinnen-Kloster "Zur Ewigen Anbetung" in Bonn-Endenich.

Zwischenzeitlich wird sie zum Verhör bei der Gestapo geladen. Ihre Familie begleitet sie dorthin, in der Furcht, sie nicht wiederzusehen. Doch der Beamte stellt sich als ehemaliger Blockwart der Kaiserstraße heraus, dem Marie Jahre zuvor in einer Notsituation mit Kleidern & Geld hilfreich zur Seite gestanden hat. Sie begründet auch ihre Unterstützung für Emilie Goldstein damit, dass sie allen Menschen helfe, die ihrer Hilfe bedürfen. Da stimmt ihr der Gestapo - Mann zu und entlässt sie zu aller Überraschung. Marie kann sich anschließend im Kloster etwas verschnaufen...

Anfang Dezember muss sich ihr Sohn Wilhelm vor dem Disziplinargericht der Universität rechtfertigen. Jeder Student, der vorgeladen wird, hat das Recht, durch einen Professor vertreten zu werden. Eigentlich soll das der Ordinarius für Religionsgeschichte in der Philosophischen Fakultät, Gustav Mensching, sein, den Wilhelm gut kennt, und der es dem Vater versprochen hat. Doch der zieht sich zurück, erwartet er doch Nachteile beruflicher Art und verurteilt inzwischen auch die Hilfe der Kahles für jüdische Mitbürger. Erst ein dritter Professor, der Rechtswissenschaftler Wolfgang Kunkel, ist dazu bereit.

Wilhelm wird "wegen eines Studenten unwürdigen Verhaltens gelegentlich der Protestaktion gegen die jüdischen Geschäfte mit der Entfernung von der Hochschule, verbunden mit der Nichtanrechnung des Semesters bestraft." An den Universitäten in Leipzig und Frankfurt wird er abgewiesen und keine Kirche in Bonn ist bereit, ihn, den Studenten der Musikwissenschaft, ihre Orgel zu Übungszwecken spielen zu lassen.

Paul Kahle selbst ist schon am 19. November jede weitere Tätigkeit an der Universität und der Zutritt zu seinem Seminargebäude mit seiner Bibliothek untersagt worden. Ende Januar 1939 muss er seine Beurlaubung einreichen und seine vorzeitige Emeritierung zum 1.Oktober 1939 wird vereinbart.

Marie sucht derweil Beistand bei verschiedenen Personen, darunter der Bonner Theologe Arnold Rademacher, der ihr eine wichtige Stütze in jenen Tagen ist. Ein ganz anderes Kaliber ist der Freiburger Nervenarzt Eduard Aigner, langjähriger Freund der Familie, NSDAP - Mitglied, der sich bei den Kahles einlädt, weil er angeblich mit Paul Kahle über das Aramäisch in den Offenbarungen der Therese von Konnersreuth reden möchte.

Als er mit Marie allein ist, erläutert er ihr die Nazi - Doktrin in Bezug auf die Juden eindrücklich und sagt ihr in aller Deutlichkeit, dass demzufolge Menschen wie sie kriminell seien. Dann legt er ihr dar, dass das bisher Erfahrene nur der Anfang der Verfolgung darstellt, dass das Ziel der psychologischen Zermürbungstaktik Maries Nervenzusammenbruch und die Einweisung in eine Irrenanstalt sei. "Für sie gibt es keine Rettung. Das ist ganz sicher. Aber sie können es ermöglichen, daß ihre Familie gerettet wird." Deshalb legt Aigner ihr einen Suizid nahe. Nur so könne sie verhindern, dass die Söhne der Familie entzogen werden, sie selbst inhaftiert, gefoltert, vernichtet wird. Dann schreibt ihr ein Rezept für Veronal aus. Bei zwei weiteren Besuchen mahnt er noch einmal ihren Selbstmord an.

Marie findet jetzt keine Ruhe mehr, erhält aber seelischen Beistand bei einem Palottinerpater in Vallendar bei Koblenz. Der rät ihr eindringlich zur Flucht. Ab da verfolgt sie diesen Plan weitgehend ohne ihren Mann und ohne ihre Söhne einzuweihen, denn es müssen nun Wege gefunden werden, sieben Personen möglichst unauffällig und zeitgleich aus dem Land zu bringen. Ersatz für die zwischenzeitlich eingezogenen Pässe muss beschafft werden, Visa, ausländische Devisen. Vollkommen klar ist Marie, dass sie alles in Bonn wird zurücklassen müssen:
"Ich ging von Zimmer zu Zimmer und betrachtete die Möbel, die wir von der Familie und den Großeltern bekommen und die wir teilweise erst während der letzten Jahre gekauft hatten, ich betrachtete die Sammlung von kostbaren Dingen und wußte, daß wir sie verlieren würden. Niemand durfte etwas ahnen von unseren Absichten, mein Dienstmädchen nicht und noch nicht einmal die Jungen. Ich wagte es nicht, auch nur eine Kleinigkeit einzupacken noch irgend etwas vorzubereiten. Ich sah meine Jungen an, ihre Gesichter waren blaß und schmal geworden, ihre Augen übermüdet. Ich wußte nicht, ob ich sie wiedersehen würde, wenn ich Deutschland verließ. Eines Nachts hörte ich, wie die Tür des Eßzimmers geschlossen wurde und sah einen S.S.-Mann durch den Flur gehen und dann das Haus verlassen. Die Anspannung wurde unerträglich."
Am 1. März 1939 ist es so weit: Marie reist mit Wilhelm in die Niederlande, von dort aus neun Tage später nach London. Der zweite Sohn Hans ist schon im Februar zu einer lange geplanten "Abiturreise" mit seinem Cousin in die Schweiz und nach Italien aufgebrochen. Auf dem Rückweg bleibt er in Zürich und fährt dann mit der Bahn über Paris zu Mutter & Bruder nach London.

Dort hat Marie in der Zwischenzeit nicht geruht, Beschäftigungsmöglichkeiten für ihren Mann zu finden, der noch immer der Meinung ist, in Deutschland bleiben zu können. Als ihm die Geschäftsführung der "Deutschen Morgenländischen Gesellschaft" entzogen wird, droht er durch einen wutentbrannten Protest in Berlin seinen mühselig neu beschafften Pass zu verlieren. Marie gelingt es, ihn davon abzuhalten und ihn nach Brüssel zu locken. Doch dort kommt er ohne die drei jüngsten Kinder an.

Immerhin kann sie ihm zwei durchaus attraktive Arbeitsangebote in England unterbreiten. Doch der realitätsfremde Gelehrte will vorher in Bonn seine Angelegenheiten noch regeln. Da bietet Marie ihm die Scheidung an bzw. droht mit dem Suizid, um ihm den Ernst der Lage zu verdeutlichen. Paul Kahle lenkt ein.

Jetzt muss Marie alle ihre Kräfte einsetzen, um die verbliebenen Söhne aus Deutschand zu bekommen. Theodor, Paul und Ernst treffen am 31. März in Brüssel ein, gerade noch rechtzeitig, bevor ein neuer Erlass Jugendlichen, die nicht in der Hitlerjugend sind, die Ausreise unmöglich gemacht hätte. Anschließend bricht sie zusammen und benötigt einen ganzen Monat zur Erholung.

In Bonn dauert es bis Ende Mai, bis die Flucht der Familie entdeckt wird. Als Erstes werden die Dienstbezüge & Versorgungsansprüche des Professors gestrichen und ihm sein Doktortitel entzogen. Dann wird das Haus der Familie Kahle in der Bonner Kaiserstraße von der Gestapo beschlagnahmt und samt dazu gehörigem Hausrat versteigert. Ein Bonner Bauunternehmer übernimmt das Haus, einzelne Gegenstände werden von der Gestapo fortgeschafft, andere – auch neun nicht mehr verifizierbare Ölgemälde – öffentlich versteigert. Die 8000 Bücher Paul Kahles werden konfisziert. Maries Vater, dessen zweite Frau und ihr Bruder wenden sich von ihr ab, da sie "deutsches Blut verraten" habe.

In London findet die Familie in Kew, einem Stadtteil im Südosten Londons eine Bleibe, die jüngeren Söhne können zur Schule, die drei älteren dank Stipendien ein Studium aufnehmen bzw. fortsetzen. Doch nach Beginn der Luftschlacht um England 1940 werden die drei ältesten Kahle - Söhne von einem Polizeiwagen als "enemy aliens" abgeholt und interniert, ohne dass ihr Aufenthaltsort bekannt gegeben wird. Erst im Frühjahr 1941 kehren sie aus Kanada zurück.

Maries nächste Sorge ist, dass sie als Staatenlose aus England ausgewiesen werden könnten. Dann plagen sie Ängste, die Nazis könnten sie in England aufgreifen. Paul Kahle wird tatsächlich einmal aufgefordert, einen bei der deutschen Botschaft für ihn hinterlegten Brief abzuholen. Marie warnt ihn eindringlich und kann ihn schließlich überzeugen, einen Freund mit Vollmacht hinzuschicken. Natürlich ist kein Brief dort - Kashoggi lässt grüßen!

Dauerhaft macht ihr aber der stetige Verfall ihrer Gesundheit zu schaffen: Noch in Bonn ist Morbus Raynaud bei ihr diagnostiziert worden. Die physisch und psychisch übergroße Anspannung der letzten Wochen & Monate lässt die Verengung der Blutgefäße in den Extremitäten weiter fortschreiten, die zum langsamen Absterben der Finger, Zehen, Nase führen und Marie zum Pflegefall werden lassen. Immer wieder erleidet sie Schwächeanfälle, Thrombosen und Schmerzattacken, muss ins Krankenhaus. Eine Stütze sind ihr die Söhne, denn Paul Kahle ist damit beschäftigt, den Lebensunterhalt für die siebenköpfige Familie zu sichern - u.a. erstellt er für einen Sammler orientalischer Handschriften einen Katalog - und ist die Woche über in London oder Oxford. Auch ist ihm seine wissenschaftliche Arbeit immer noch das Wichtigste. Auf Spannungen zwischen den Eheleuten deswegen lassen Briefe schließen.

Schließlich stirbt Marie an den Folgen ihrer Erkrankung am 18. Dezember 1948, gerade mal 55 Jahre alt, in Wadhurst Hall, East Sussex. Auf diesem Anwesen haben die Söhne zuvor versucht, einen landwirtschaftlichen Betrieb aufzubauen. Marie findet auf dem Friedhof von Tidebrook ihre letzte Ruhestätte.

Ihr ältester Sohn Wilhelm lässt sich nach ihrem Tod in Rom zum Priester ausbilden und ist später als "Father William" an der Westminster Cathedral und in der Gefangenenseelsorge tätig.

Der zweite Sohn Hans kehrt 1950 nach Deutschland zurück, tritt in den diplomatischen Dienst der Bundesrepublik ein und wird zuletzt deutscher Botschafter in Tunesien. Seinen Ruhestand verbringt er anschließend in Schweden, der Heimat seiner Frau. Der dritte Sohn Theodor schafft als Kaufmann die finanziellen Voraussetzungen für das weitere Gelehrtenleben seines Vaters.

Paul Eric, der seinem Vater in seinem Interessengebiet gefolgt ist und in Ägyptologie in Oxford promoviert hat, stirbt schon mit 33 Jahren an Krebs. Und der jüngste, Ernst, ist erst bei der Europäischen Kommission in Brüssel beschäftigt und anschließend als Vertreter für die Munich Re in Südafrika tätig.

Professor Kahle wird in Deutschland nicht wieder heimisch, führt von England aus noch zwei weitere Jahrzehnte bis ins hohe Alter seine wissenschaftliche Arbeit fort, international hoch angesehen und vielfach gewürdigt und ausgezeichnet. 1963 zieht er zu seinem Sohn Theodor nach Düsseldorf. 1964 stirbt er an den Folgen eines Unfalls in Bonn.

Und was ist aus Emilie Goldstein geworden, der Marie Kahle und ihre Söhne geholfen haben?

Die ist erst einmal von Bonn nach Württemberg gezogen. Nach verschiedenen Aufenthaltsorten wird sie 1942 ins KZ Theresienstadt verschleppt. 1944 wird sie dann einem Transport nach Auschwitz zugeteilt, wo sie wie Millionen anderer Menschen ermordet worden ist.



Wer jetzt noch neugierig darauf ist, wie die Stadt Bonn die Erinnerung an ihre mutige Bürgerin angegangen ist, den verweise ich auf diesen und jenen Artikel.

Ich weiß nicht, wie es euch geht: Nach der eingehenden Beschäftigung mit den Geschehnissen jener furchtbaren Zeit bin ich immer etwas außer Puste...






12 Kommentare:

  1. außer puste bin ich nicht, aber den tränen nahe. die geschichte von marie kahle (und auch die von emilie goldstein) geht mir sehr unter die haut. kannst du noch den link zu dem im letzen absatz genannten artikel setzen. ich wüßte gern noch mehr darüber.
    liebe grüße
    mano

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    1. Leider nicht vom iPad, da funktioniert Blogger nicht...tut mir leid.
      Alles Liebe!

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  2. Guten Morgen!

    Bei mir ist es eher Gänsehaut, die sich jedesmal bei dem Thema Extremismus einstellt, egal, ob rechts oder links. In Anbetracht der jüngeren Entwicklungen noch mehr, als früher.
    Und das erschreckende ist, sich über andere Ethnien (nicht nur Juden) zu echauffieren, ist wieder sehr salonfähig geworden.
    Für mein Empfinden, ist es insgesamt eine sehr extreme Zeit. Angefangen bei möglichst extremen Freizeitgestaltungen über extrem niedrige Preise bis eben zur politischen Einstellung. Ob die Betreffenden das überhaupt mitbekommen?

    Trotz schwerer Gedanken, wünsche ich einen schönen Donnerstag!
    Franziska

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  3. Was für eine nahe gehende und beeindruckende Geschichte wieder. Wie schön, dass in Bonn auch ihrer würdig gedacht wird. Und sie ist aus unserem Dahme gebürtig. Danke für die berührende, an- und aufregende Morgenlektüre. Grüße aus Cottbus Ghislana

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  4. Liebe Astrid, eine sehr berührende Geschichte einer starken und klugen Frau. Diese Weitsicht und Durchsetzungskraft von Marie Kahle ist bewundernswert.
    Aber es ist schon wirklich seltsam, dass es in Wikipedia keinen Eintrag zu ihr gibt. Zu ihrem Mann dagegen ja. Und da findet sich auch der Satz “Er musste mit seiner Familie nach England emigrieren.” Seltsam, jetzt nach dem ich weiss, wer da mit wem und wie nach England emigrierte. Das ist wieder einmal ein Beleg dafür, dass es nicht gut ist, dass die Mehrzahl der Wikipedia-Einträgen von Männern verfasst und auf Relevanz geprüft werden.
    Liebe Grüsse und Danke fürs Recherchieren und Schreiben, Maren

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    1. Seltsam: Bei uns gibt es einen Wikipedia-Artikel....
      GLG

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  5. Jetzt habe ich ihn auch gefunden. Das war dann mein Fehler, nicht der von Eikipedia. Lg Maren

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  6. wieder eine Geschichte die anrührt ..
    was musste die Menschen doch ertragen wenn sie nicht der stumpfen braunen Masse hinerherliefen
    gut dass sie gewürdigt wird und wurde

    liebe Grüße
    Rosi

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  7. Da laufen mir Schauer über den Rücken. Hatte sie doch in ihrer Weitsicht und Einschätzung der politischen Lage geahnt, was geschehen würde. Dass am Ende die körperlichen Kräfte versagten, ist leider nachzuvollziehen.
    Dass in der Stadt Bonn ihr Name noch immer präsent ist, ist ein wirklich positives Zeichen.
    Liebe Grüße
    Andrea

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  8. Puh, ich habe gerade Gänsehaut. Du hast die Geschichte sehr lebendig wiedergegeben, in geschichtlicher als auch so menschlicher Hinsicht.
    Danke und liebe Grüsse
    Nina

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  9. Vielen Dank, liebe Astrid. Eine sehr fesselnde Erzählung-ich sollte längst im Bett sein.
    Ich halte es immer noch für unfassbar, dass einfache Menschen sich so aufwiegeln lassen, ich kann es nicht nachvollziehen.
    Ich wünsche dir trotz (oder wegen) der fortwährenden Beschäftigung mit menschlichen Abgründen ein ruhiges und friedliches Weihnachtsfest im Kreis deiner Lieben.
    Weihnachten ist Hoffnung.
    Doro

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  10. Ja, die Puste bleibt einem da schon weg, bei solchen Lebensgeschichten. Und sie sind einem plötzlich sehr nah.
    Was für eine Frau, die ihre ganze Familie gerettet hat und deren Söhne so weltläufig wurden nach all der braunen Enge!
    Sehr beeindruckend!
    Danke, dass Du sie vorgestellt hast. Zum Glück ist sie nicht vergessen worden!
    Herzlichst, Sieglinde

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Danke, dass du dir für ein paar liebe Worte Zeit nimmst!

Ich wünsche mir allerdings nach wie vor, dass ein Name am Ende des Kommentars steht.
Da die anonymen namenlosen Kommentare zuletzt wieder zugenommen haben, hier der ausdrückliche Hinweis:

Ich werde sie ab jetzt wieder konsequent NICHT freischalten.

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