Freitag, 19. Mai 2017

Tut mir leid, Raif,...


... ich muss mich heute wieder erst einmal zur Türkei äußern, denn dort wird Tag für Tag den Menschenrechten der Garaus gemacht:

  • Am Sonntagabend, 7. Mai, wurde der renommierte Belge-Verlag in Istanbul von Sondereinsatzkräften der Polizei gestürmt, die  über 2.100 Bücher mit der Begründung konfisziert haben, dass den Exemplaren die staatliche Steuermarke fehle. Dabei handelte es sich allesamt um Bücher, die gedruckt worden waren, bevor diese Marken überhaupt eingeführt worden sind. Der Verlag ist dafür bekannt, Sachbücher zu brisanten Themen herauszubringen, die die Regierung gerne unter den Teppich kehren würde. So waren sie die Ersten in der Türkei, die ein Buch über den Genozid an den Armeniern veröffentlicht haben. Der Verleger Ragıp Zarakolu befand sich zu diesem Zeitpunkt bereits im Exil in Schweden, bevor ein Haftbefehl gegen ihn erging. ( Informationen auch hier . Und hier ist der Link, um die Petition des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels #FreeWordsTurkey zu unterschreiben ).
  • Der Online-Chefredakteur der "Cumhuriyet", eine der wenigen regierungskritischen türkischen Zeitungen, Oguz Güven ist vergangenen Freitag, dem 12. Mai, in Istanbul festgenommen worden. Die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu meldete, Güven sei aufgrund einer Nachricht über den Tod des türkischen Oberstaatsanwaltes Mustafa Alper bei einem Verkehrsunfall in der vergangenen Woche in Polizeigewahrsam genommen worden. ( Alper war derjenige, der die erste Anklageschrift gegen Putschisten vom 15. Juli erstellt und 250 Ermittlungen gegen Gülen-Anhänger eingeleitet hat. )   
  • Damit sitzen bereits 13 Mitarbeiter der "Cumhuriyet" in Untersuchungshaft. Die türkische Staatsanwaltschaft bezichtigt die Zeitung, seit 2013 unter Kontrolle von Gülen zu stehen. Die Zeitung hat die Vorwürfe zurückgewiesen und daran erinnert, dass sie die Gülen-Bewegung bereits kritisiert habe, als die regierende AKP noch mit ihr verbündet war.
  • Die vom türkischen Staatspräsidenten erlassenen Notstandsdekrete lähmen das Justizsystem: 50 000 Klagen gegen die Notstandsdekrete sind inzwischen eingegangen, doch sie werden nicht weiter verhandelt, da sich das Verfassungsgericht für nicht zuständig erklärt hat. So lange die Klagen aber in der Türkei nicht abgelehnt worden sind, können die Kläger sich nicht an den Europäischen Gerichtshof wenden.
  • Der Anwaltsvereine ÖHD (Anwaltsvereinigung für die Freiheit/Özgürlükçü Hukukçular Derneği) und Anwaltsvereinigung ÇHD ( Çağdaş Hukukçular Derneği ) sowie die mesopotamische Anwaltsvereinigung MHD ( Mezopotamya Hukukçular Derneği ) sind seit November 2016 verboten. 
  • Besuche der Verteidiger bei ihren inhaftierten Mandanten können für einen Zeitraum von bis zu 6 Monaten verboten werden. Wenn es ihnen gestattet ist, dann nur noch eine Stunde pro Woche. Die Behörden haben das Recht, die Gespräche zw. Verteidiger & Mandant audiovisuell aufzuzeichnen. Den Anwälten selbst wird Papier & Bleistift vorher abgenommen. Anwälte können bei Besuchen ihrer Mandanten in der Haft durchsucht werden, auch in den Körperöffnungen.
  • Um ein Büro, z. B. eines Anwalts, durchsuchen zu können, ist nicht mehr das Einschalten eines Staatsanwaltes notwendig. Die Polizei kann also ohne richterliche Anordnung auf eigene Faust Hausdurchsuchungen durchführen, Computer und Akten & andere Mandantenunterlagen konfiszieren und die Menschen festnehmen. Vor allem Anwälte in politischen Strafverfahren sind davon betroffen.
  • Aber auch wenn ein Anwalt Menschen vertritt, denen eine Enteignung droht, steht er unter Generalverdacht. 300 Juristen sitzen derzeit deswegen in Haft.
  • Auch die ethischen Grundsätze für Ärzte, die besagen, dass keiner Person eine gesundheitliche Versorgung versagt werden darf, werden in der Türkei ausgesetzt: So hatte am 13. März 2017 der Arzt Serdar Küni, Vertreter der Türkischen Menschenrechtsstiftung, eine erste Anhörung vor Gericht, weil er angebliche "Terroristen“ medizinisch behandelt hat und einer terroristischen Vereinigung angehöre. Bei einer zweiten Anhörung am 24. April entschied das Gericht, dass eine Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung nicht belegt werden könne. Dennoch verurteilte es Küni zu vier Jahren und zwei Monaten Haft. Bis zur Entscheidung der höheren Instanz darf er allerdings das Gefängnis verlassen.
  • Der türkische Staatspräsident will den Ausnahmezustand so lange aufrecht erhalten, bis "Frieden und Wohlstand" in der Türkei erreicht sind. Das erklärte er gestern vor Geschäftsleuten in Istanbul. Der Ausnahmezustand endet im Juli, wenn er nicht verlängert wird.


Vieles, was da weiterhin in der Türkei passiert,  erinnert den, der die Geschichte kennt, an das Deutschland der Dreißiger Jahre: Der Staatspräsident hat ein Drittel aller Richter & Staatsanwälte suspendiert und durch unerfahrene ( aber willige ) Berufsanfänger ersetzt, die statt eines Referendariats einen 14tägigen Crashkurs absolviert haben.

Ich bin nach wie vor immer wieder fassungslos, wie viele türkische Mitbürger hierzulande sich bei Diskussionen immer noch daran festklammern, dass es in diesem Land mit rechten Dingen zugeht bzw. all diese Vorgehensweisen als Reaktion auf den Putsch gerechtfertigt sind. So eine eingeschränkte Wahrnehmung muss einen nicht wundern, wenn auch solche Leute wie der britische Sänger Cat Stevens ( danke, Doro! ), jetzt Yusuf Islam, sich zu solchen Formulierungen versteigen: "Der Begriff 'Menschenrechte' hat in der Türkei wichtigere Bedeutung als bei der UN."


Source
In der Causa des saudischen Bloggers gibt es kaum Nennenswertes zu berichten:

Am Mittwoch hat "EnglishPen" und "Reporters Without Borders" wieder eine Mahnwache vor der Saudischen Botschaft in London abgehalten, an der diesmal auch Ensaf Haidar teilgenommen hat.

Die (125. ) Mahnwache vor dem Wiener König-Abdullah-Zentrum hat heute auch wieder stattgefunden.

Max Steinacher, Tübinger Humanist & Spanischlehrer, der die Mahnwachen in seiner Stadt organisiert, setzt sich dafür ein, dass Ensaf Haidar auch vom 15.-18. Juni nach Tübingen kommen kann. Die im Exil in Kanada lebende Frau könnte damit einer Einladung des Tübinger "Weltethos Instituts" nachkommen.

Kleine, handverlesene Nachrichten...

Dass dieser unsägliche amerikanische Präsident, der heute mit König Salman zusammentrifft, Raif Badawi zur Sprache bringt ( obwohl im Ensaf Haidar twitternd erinnert hat ), wage ich zu bezweifeln. Noch bevor er gewählt worden war, hatte er sich vor Anhängern in Alabama gebrüstet: "Saudi-Arabien, mit denen komme ich klar. Sie kaufen Apartments von mir, sie geben 40 oder 50 Millionen Dollar aus. Soll ich sie deshalb nicht mögen? Ich mag sie sehr."




14 Kommentare:

  1. Über die Verurteilung des Arztes lese ich das erstmals... danke dafür!

    Es sit auchd er Punkt der mir komplatt den Magen umdreht. Es ist nämlich ein komplet unpolitischer Beruf. Wer eine Zeitung macht rechnet mit Gegenwind, wer Anwalt ist weiß genau es gibt eine Gegenpartei. Einen Arzt für dessen geleistete Arbeit zu bestrafen ist für mich nochmals eine ganz andere Dimension!

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  2. Danke, mal wieder!, liebe Astrid!
    Und herzliche Grüße!

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  3. Was soll man da noch sagen? Diese Fakten sprechen für sich.
    Auch ich bin erschüttert darüber, dass viele Türken hier bei uns dieses Unrechtssystem in der Türkei unterstützen. Wie hatte ich gehofft, dass sie die Demokratie, die sie hier erleben, schätzen würden. Aber auch da spielt das patriachale Männer-Frauen-Thema sicher eine große Rolle. Wie auch bei Trump und den Saudies. Wo es mit Frauenrechten und -Anerkennung nicht weit her ist, ist es auch mit Menschenrechten nicht weit her.
    Umso mehr freue ich mich, dass Ensaf Haidar immer wieder eingeladen wird und damit sichtbar und aktiv für ihren Mann eintreten kann.

    Dennoch ein schönes Wochenende wünscht Dir herzlichst
    Sieglinde

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  4. Du hast wieder so recht! Die politischen Verhältnisse in der Türkei sind für Demokraten wirklich unerträglich.
    Aber in einer Sache muss ich dir widersprechen: Yusuf Islam hiess früher Cat Stevens...
    Hab ein schönes Wochenende, lieben Gruß!
    Doro

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  5. Danke für deine Zusammenfassung der Ereignisse in der Türkei !!
    So kurz zusammengefasst, ist es nochmal doppelt erschütternd,was sich dort abspielt.
    Denn leider kommen ja nur wenige dieser Infos so gebündelt bei mir an.
    Also nochmals beten Dank dafür, und LG, Monika

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  6. Als ich diese Büchergeschichte diese Woche über change.org las, war ich fassungslos, dass sich so vieles wiederholt, fast 1 zu 1, dass man es nicht glauben möchte.
    Die "neue Art" sich zu informieren, scheint vielen die Möglichkeit zu eröffnen sich nur dort zu bewegen, wo es ihnen bequem ist.Obwohl die Vielfalt der Medien noch nie so groß war wie heute, scheint die selbstgewählte Infowelt das Gegenteil von
    objektiv informiertem Bürger zu ermöglichen.Nur so ist für mich die Ignoranz und Toleranz dieser Zustände von Landsleuten hier zu erlären.Unfassbar, dass dies alles in Europa passiert.
    Danke fürs stete Alarmieren!

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  7. liebe Astrid
    ich habe es auch wieder mit Bestürzung in den Medien gelesen
    man mag sich gar nicht ausmalen wo das alles hinführt

    und in Amerika prügeln türkische Sicherheitsleute beim Besuch des Staatspräsidenten auf Demonstranten ein als ob sie dort zu hause wären

    Trump ist der dümmste Präsident den ich jemals erlebt habe
    es ist nur seiner Geldbörse verpflichtet
    er wird nichts tun was ihr schadet :(
    totzdem ein schönes WE
    Rosi

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  8. In der Türkei werden die Menschenrechte mit Füßen getreten. Deine Zusammenfassung ist erschütternd. Ich fürchte, dass Trump kein Wort zur Rettung von Raif Badawi äußern wird. Wichtig ist vor allem, dass er ihm, seiner Familie und deren Unterstützung nicht auch noch schadet, denn dem traue ich wirklich alles zu...
    Liebe Grüße
    Andrea

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  9. Liebe Astrid,
    bei all den Ereignissen in der Türkei muss ich oft an Deutschland nach 33 denken und mir ist es unbegreiflich, wie man das dem Herrn E. alles so durchgehen lässt, wenn man mal von ein paar halbherzigen Protesten absieht. Dem Gröfaz hat man auch einiges durchgehen lassen zu einer Zeit als man ihn noch leicht hätte zurecht weisen können, als man ihm noch leicht vernichtende Niederlagen hätte beibringen können, aber man hat lieber zugesehen, und wir alle wissen ja wo das endete. Ich dachte immer, wir hätten, bis auf ein paar unbedeutende Wirrköpfe, aus der Geschichte gelernt.
    Da tun sich beängstigende Parallelen auf.
    Ich wünsche Dir ein schönes Wochenende.

    Viele liebe Grüße
    Wolfgang

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  10. Also hochaktuell: Der Parthenon der Bücher, der Kunsttemmpel, der gerade hier in Kassel zur Documenta Gestalt annimmt, mit dem die argentinische Künstlerin Marta Minujin ein Zeichen setzen will gegen Zensur und Verfolgung von Schriftstellern in aller Welt!
    LG Ulrike

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  11. alles so unfassbar. und man selbst fühlt sich dabei wie ein kleines hilfloses wichtchen, das dass alles mitbekommt, vor wut schäumt, aber nicht weiß, was man dagegen machen kann.
    lg, mano

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  12. Mit jedem Punkt, den du auflistest, zieht sich mein Magen mehr zusammen. Ich bin richtig wütend gerade. Wie kann so etwas immer wieder passieren, ohne dass alle daraus lernen? Wie kann es sein, dass so viele dieses System unterstützen und diese "Politik" überhaupt möglich machen? Es ist mir unbegreiflich... Danke dir aber vielmals für deine Recherchen!!

    Nachdenkliche Grüße
    Steffi

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  13. Meine türkischen Mitarbeiterinnen sind alle sehr entsetzt was dort in ihrer Heimat vor sich geht. Sie sehen die Gleichungen von 1930 in Deutschland sehr deutlich, sie sind allesamt gut gebildete Frauen und Männer. Seltsam finde ich nach wie vor, das so viele diesen Mann unterstützen. Aber auch in den Dreißigern war es verwunderlich wie viele diesem Irren hinterher liefen.
    Genauso schlimm finde ich, dass keine Regierung dem Mann Knüppel zwischen die Beine wirft. Alle halten die Füße still, wie damals wird nur zugeschaut...
    Lieben Gruß
    Andrea
    Danke, dass du immer wieder solche Zusammenfassungen schreibst!

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Danke, dass du dir für ein paar liebe Worte Zeit nimmst! Ich setze allerdings voraus, dass am Ende eines anonymen - also von jemandem ohne Google- Account geposteten - Kommentars ein Name steht. Gehässige, beleidigende, verleumderische bzw. vom Thema abweichende Kommentare werde ich nicht veröffentlichen.

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