Freitag, 5. August 2016

Wieder nichts zu Raif Badawi, aber Persönliches zur Nazikeule


"Deutschland, das seiner Nazi-Vergangenheit nicht entkommen ist, hat seine Maske fallengelassen. Es unterstützt die putschistische Fetö-Bande, die gegen die Türkei ist. Es hat einmal mehr bewiesen, dass es kein Freund und Verbündeter ist." So schrieb die regierungsnahe türkische Zeitung "Takvim"* Anfang der Woche anlässlich der vom Bundesverfassungsgericht Deutschlands untersagten Übertragung einer Rede des Herrn E. bei der Kölner Großdemonstration.

Ich habe lange, lange überlegt, ob ich hier im Blog darüber schreiben soll: Über meine vielfältigsten Erfahrungen mit Mitmenschen türkischer Herkunft in fast vierzigjähriger Lehrertätigkeit, die so vielfältig waren, wie es nur Menschen gibt. Dabei habe ich immer versucht, jedem, mit dem ich beruflich zu tun hatte,  die Chance zu geben, ihn nicht nach seiner Herkunft zu beurteilen, sondern als menschliches Gegenüber zu sehen.








Dass ich es jetzt doch hier & heute darüber schreibe, liegt am obigen Zitat, das mich getroffen, empört und einen regelrechten Flashback bei mir ausgelöst hat:

Mir selbst ist nämlich in meinem Lehrerdasein in der Grundschule wiederholt der Vorwurf gemacht worden, ich sei eine Faschistin bzw. ein Nazi, und zwar oft dann, wenn türkische Väter ( und nur die schwangen diese verbale Keule ) enttäuscht waren, weil ihr Kind in der gewünschten weiterführenden Schule vom dortigen Schulleiter aufgrund seines Zeugnisses nicht angenommen worden war. ( Auch im Falle eines anderen Schülers, für den der Schulleiter einer anderen Grundschule ein Sonderschulverfahren eingeleitet hatte, dem die Mutter durch Umzug & Schulwechsel entgehen wollte, wurde ICH vom Vater zusätzlich mit Gewalt bedroht, ich, bei der der Junge zufällig in der Klasse gelandet war. Nebenbei ein Exkurs darin, was unterschiedlichen Umgang mit Männern & Frauen anbelangt...)

Diese Vorwürfe haben mich immer sehr verletzt und traurig gemacht. Sie kratzten an meinem Selbstverständnis, negierten meinen Einsatz als Lehrerin für meine Schüler, respektierten mich nicht als Frau und zeigten ein absolute Missachtung meiner tatsächlichen Persönlichkeit. Ich habe an diesen Vorwürfen lange zu knabbern gehabt & Zeit benötigt, um sie zu verarbeiten. Und ich habe immer versucht zu relativieren und für jedes negative Erlebnis mindestens ein positives Erlebnis mit türkischen Müttern & Vätern aufgerechnet. Ich habe viel über das Land und seine Probleme gelernt, habe erfahren, dass es kurdische, assyrische, armenisch- oder griechischstämmige Familien mit türkischer Staatsangehörigkeit gibt, Aleviten & Kemalisten neben den Muslimen, und das alles als große Bereicherung empfunden. Und ich habe mich bis heute bemüht, vor allem die Zuneigung & Dankbarkeit meiner ehemaligen Schülerinnen & Schüler in meinem Herzen aufzubewahren.

Die oben zitierte Bemerkung lässt das alles in sich zusammen fallen.



Ich fürchte mich nach den verbalen Exzessen der letzten beiden Wochen auch davor, dass nun ein Aufeinander - Los - Gehen in Gang kommt, dass die Drohung wahr wird, die meine Freundin, am Empfang in der Praxis ihres Mannes, meinem Freund & Hausarzt, einmal an den Kopf geworfen bekommen hat, nachdem ihr Mann einem türkischen Oberstufenschüler wegen nicht vorhandener Erkrankung das Ausstellen eines Attests verweigert hatte: "In ein paar Jahren übernehmen wir das hier sowieso alles." ( Er brauchte es dringend, um sein Fehlen bei einer Klausur rechtfertigen zu können ).

Die viele Anmaßungen türkischer Regierungsmitglieder ( und der Missbrauch des Wortes Demokratie für rechtsbrecherisches Verhalten  ), in den vergangenen Tagen lauthals verbreitet, finde ich schlichtweg hetzerisch & entzweiend und aktiv die Desintegration betreibend. Ich erlebe sie zudem als Angriff auf die Souveränität unseres Landes und als Versuch, einen Staat im Staate zu installieren.







Gedeihlich sind solche Machtdemonstrationen - auch wenn sie vielleicht nur gegenüber der eigenen Bevölkerung gedacht sind -  überhaupt nicht für ein friedvolles Miteinander...

Ich höre oft, dass wir ja gar nicht verstehen würden, warum die Türken die Niederschlagung des Putsches so enthusiastisch feiern und ihren Präsidenten dazu. Ich wünschte mir im Gegenzug, dass uns gegenüber nicht immer gleich die Nazikeule geschwungen, sondern  auch verstanden wird, dass genau in der Erfahrung mit Hitlers Diktatur der Schlüssel für unsere derzeitige Haltung zu finden ist...




Wer wieder Neuigkeiten zu Raif Badawi vermisst: Ich weiß nicht mehr, als dass die österreichischen Grünen ihre 84. Mahnwache abgehalten haben. Die tapferen Menschen kann man hier sehen. 1533 Tage im Gefängnis sind es mittlerweile...


* Die Zeitung gehört  dem Çalık Konzern, bei dem Berat Albayrak, der Schwiegersohn  des Herrn E. mit 29 Jahren Chief Executive Officer wurde, und dessen Konzernvorstand der AKP nahe steht. - Wie paranoid und besorgniserregend die Gülen-Hexenjagd ist, in der sich ein weiteres Medium des Konzerns exponiert hat, kann man hier nachlesen.


13 Kommentare:

  1. Danke für Deine Worte, die ich gut verstehen kann! Mir macht das Verhalten dieser Männer auch Angst vor möglicher Eskalation, und es macht mich wütend. Warum gelten nicht die gleichen Bedingungen für sie, wie für uns früher in der Türkei(keine polt. Betätigung...)? Zur Zeit ist der "Spielraum" dort für In- und Ausländer inakzeptabel. Was sagen türkische Frauen, so sie dürfen?

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  2. Mich machen solche verbalen Attacken wahlweise ratlos oder ärgerlich. Sie sind befremdlich, verletzend und schlicht Propaganda. Wie herrlich einfach es doch ist, jedesmal NAZI zu schreien, wenn ein Staat, Politiker oder andere Gruppen nicht bekommen was sie von uns wollen.

    Ich hasse Nazis. Das ist aber völlig unbedeutend, weil wir natürlich alle von Geburt an welche sind - wenn es gerade ins politische Konzept passt.

    Ich genoß - als Außenstehende die türkische Kultur, bzw. das was wir davon mitgebekamen. Ich habe mit meinem Partner für eine Zeit in einem Viertel gewohnt, in dem fast ausschließlich Türken lebten und das sehr genossen. Ich fühlte mich sicher und geachtet.

    Nun denn, das ist auch 30 Jahre her. Seitdem ist eine Menge passiert.

    Mich macht ratlos, welchen Zuspruch das derzeitige politische System bekommt, insbesondere von Türken, die bei uns leben. Was hält sie hier, wo es doch hier so fürchterlich ist ? Nein, sie sollen nicht "zurück" in die Türkei ! Aber ich will mich auch nicht als Nazi beschimpfen lassen.

    Gern lebe ich mit einer bunten Mischung von Menschen zusammen. Und ja, sie sollen nach ihren Vorstellungen und Wünschen leben können, wenn sie nicht unsere Form des Zusammenlebens und unser Demokratieverständis bzw. unsere Demokratie auflösen oder zerstören wollen.

    Wir haben wohl doch aus unserer Vergangenheit gelernt. Zumindest die meisten und das macht uns sperrig.

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  3. Die letzte Aussage tut mir einfach gut. Danke!
    GLG

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  4. Ach Astrid, soviel schwirrt mir dazu im Kopf herum, aber ich kann es heute nicht in Worte fassen. Ich habe mich auch immer bemüht, mein Gegenüber einfach nur als Mensch zu sehen, aber es fällt mir immer schwerer. Es verletzt und erschöpft, schürt Misstrauen und Widerwillen, dass uns immer und immer wieder entegegengeschleudert wird, dass wir Deutschen doch eh alle Nazis sind. Es mag ketzerisch sein: aber der kleine Mann dort in der Türkei, der erinnert mächtig an genau den Mann, der für die Nazivergangenheit steht ...
    Hab trotz allem einen schönen Abend ... liebe Grüße, Frauke

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  5. Da wird doch gern zur verbalen "Nazi-Keule" gegriffen, weil man merkt, dass der Gegenüber gerade darauf ganz besonders sensibel reagiert. Dass es man selber ein faschistoides Regime unterstützt, wird wohl gar nicht erfasst.
    Momentan rächt es sich, dass es uns in Deutschland nicht gelungen ist, diese Menschen hier zu integrieren. Sie werden gerade nur allzu leicht Beute des Rattenfängers, dem eigentlich nur noch ein kleines Bärtchen fehlt...
    "Die Geschichte lehrt die Menschen, dass die Geschichte die Menschen nichts lehrt." Mahatma Gandhi hatte wohl doch leider recht.

    Liebe Grüße
    Andrea

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  6. Geschichte scheint sich immer zu wiederholen, egal wie viel Schreckliches man erfahren hat und daraus lernen könnte. Mich trifft dieser Vorwurf zutiefst, aber ich empfinde seit einiger Zeit, dass gerade unsere Medien dem noch Vorschub leisten in ihrer ständigen aufmerksamkeitsheischenden Präsenz. Und es wird mir immer übler bei all dem um uns herum! Liebe grüße, Sunni

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  7. Liebe Astrid,

    Außenminister Çavusoglu, der ein sehr einschlägiges Bärtchen trägt, hat im türkischen Morgenfernsehen Wien als "Hauptstadt des radikalen Rassismus" bezeichnet. Du siehst also, es gibt zur Zeit überemotionalisierte Rundumschläge, die ich aus dem Munde von Staatsmännern, die gegen die eigene Bevölkerung so brutal vorgehen, nicht auf die Waagschale legen würde. Das sind Nationaismus, Populismus und Säbelrasseln. Wir sollte ruhig bleiben und dieser Diktatur klarmachen, dass es für sie keinen EU-beitritt und keine Visumfreiheit geben wird.
    Ja, es gab einmal in Deutschland und Österreich eine Zeit wo Rssismus und Nationalsozialismus regierten - die ist zum Glück vorbei. Jetzt scheint sich die Türkei in diese Richtung zu entwickeln. Lassen wir uns nicht einschüchtern, begehen wir nicht den Fehler, einzelen Mitmenschen mit türkischen Wurzel dafür verantwortlich zu machen. Aber seien wir zu jeder Art radikaler Nationalisten genauso streng, wie wir es mit Neonazi-Gruppierungen sind! Ich habe das Geühl, es wird hier versucht, Hass und Zwietracht zu säen und dafür soll unser Boden nicht fruchtbar sein, denn auch bei uns gibt es Menschen, die sehr empfänglich für radikales Gedankengut sind.

    Ich wurde übrigens auch mehrmals von türkischen Männern angepöbelt und es hat mich sehr verstört und wütend gemacht. Meist habe ich gesagt oer gedacht (je nach Brisanz): "Auf diesem Niveau unterhalte ich mich nicht." Natürlich ist das für eine Lehrerin ungleich schwieriger.

    Liebe Grüße,
    Veronika

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  8. Ja, das ist auch hier Gegenstand der Nachrichten, was du über AU berichtest.

    Mein damaliger türkischer Kollege hat mich auch immer zu trösten versucht, indem er mir seine Landsleute als dumme anatolische Bauern & ungebildet charakterisiert hat ( mein allererster türkischer Schüler von 1976 redet von seinen Landsleuten, da ist Herr Böhmermann mit seinem Schmähgedicht handzahm ), aber das hat mir nicht wirklich geholfen, dazu habe ich doch zu viel Achtung für alle Menschen...
    Glücklicherweise stehe ich nicht mehr als Lehrerin in der (Halb-)Öffentlichkeit!
    LG

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  9. "Wir haben wohl doch aus unserer Vergangenheit gelernt. Zumindest die meisten und das macht uns sperrig."
    Ja, das ist wahr! Gut, dass es auch so viele friedliebende Menschen mit gesunden Menschenverstand, auf unserer schönen Erde, gibt - ich habe großen Respekt vor Ihnen!

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  10. Was haben wir aus der Vergangenheit gelernt??? Ich denke doch sehr viel, doch unsere Politiker zeigen keine Meinung zu den deutschlandfeindlichen Aussagen aus der Türkei. Ich möchte meine Mitmenschlichkeit und Achtung vor den Anderen behalten und doch fällt es zur Zeit Richtig schwer.- Aber es gibt in dieser Woche einen kleinen Sonnenschein von syrischen Flüchtlingen, die sehr dankbar waren, dass sie von uns Hilfe und Möbel bekommen haben; si beschenkten uns mit kleinen Gaben und Gesten- und das war Balsam für die Seele.!!! Ich hoffe, solche Begebenheiten können wir demnächst wieder mehr er-fahren!! Lass uns wachsam bleiben und mutig und nicht ängstlich und wütend sein.
    Gruß zu dir
    heiDE

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  11. Liebe Astrid,
    ich habe viele türkische Freunde, und die meisten davon leben im Osten der Türkei, sind keine Sunniten und haben seit Jahren Angst vor Herrn E., wie Du ihn so nett bezeichnest, und seinen Sinnesgenossen. Und das sind nicht nur hochgebildete Akademiker. Aber durchweg herzensgebildete Menschen.
    Dass Herr E. die Wirtschaft in Schwung gebracht hat, Unis gegründet und Straßen und Flughäfen gebaut hat- das steht für die meisten im Lande und außer Landes im Vordergrund. Zu welchem (Umwelt-)Preis, interessiert kaum jemanden.
    Ich fürchte, dies wäre bei uns nicht viel anders. Im Detail natürlich, aber der Materialismus ist der Speck, mit dem man die zeitgeistigen Mäuse fängt. Gepaart mit dem Habitus des Übervaters, der der anatolischen Frau wieder ihre Würde gibt, indem er allen Frauen dieses altüberkommene Frauenbild versucht überzustülpen, hat er Viele auf seiner Seite, die nicht herauskonnten aus ihrer patriarchalisch geprägten Bildungsfernheit, und ihnen neue traditionelle Heimat zurückgegeben. Die Saat geht auf, und auch das erinnert auf beunruhigende Weise an die 30er Jahre in unserem Land, wo von langer Hand das Unsagbare vorbereitet wurde, bis es sagbar
    war.
    Ich glaube, im Moment schweigt die verzweifelte Hälfte. Hier und in der Türkei.
    Viele haben viel Angst. Und das zurecht.
    Umsomehr braucht es klare eindeutige Worte und Taten. Von Europa, von Deutschland. Man darf nicht mit Herrn E. paktieren( was eh von Anfang an eklig war) und bald werden wir viele Asylanträge von türkischen Bürgern haben. Zurecht.
    Die Mörder sind unter uns. Und immer gewesen. Sie waren nie weg.
    Aber die Tapferen und Heiteren und Großzügigen und Mutigen und Humorvollen auch nicht. Machen wir sie groß!
    Lieben Lisagruß!

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    1. Die türkischen Bekannten, die ich so aus meiner Zeit in der Schule habe, sind alle schon lange als Asylsuchende nach den früheren Putschs hierher gekommen, Kurden & Linke, und solche mit armenischen & griechischen Wurzeln oder Aleviten. Da bestand auch immer eine gewisse Distanz zu den Regierenden. Mit den Chauvinisten, die ich leider ja auch erlebt habe, hätte ich auch nicht weiter Kontakt haben wollen.
      Als große Griechenlandfreundin sah ich auch nie einen Anlass, in die Türkei zu reisen. Deshalb habe ich auch nicht eine solche Beziehung wie du.
      Aber denen, die sich menschlich hierzulande verhalten, stärke ich auf jeden Fall weiterhin den Rücken.
      LG

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Danke, dass du dir für ein paar liebe Worte Zeit nimmst!

Ich wünsche mir allerdings nach wie vor, dass ein Name am Ende des Kommentars steht.
Da die anonymen namenlosen Kommentare zuletzt wieder zugenommen haben, hier der ausdrückliche Hinweis:

Ich werde sie ab jetzt wieder konsequent NICHT freischalten.

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