Mittwoch, 9. März 2022

Auf meinem Stehpult XVI

"Bloodlands" hat Timothy Snyder, der in Yale Geschichte lehrt, sein 2010 veröffentlichtes Buch über jenen Streifen Osteuropas genannt, der vom Baltikum über Polen und Belarus bis zur ukrainischen Krim reicht und der im 20. Jahrhundert unter unfassbarer Gewalt gelitten hat. Mal kamen die Deutschen über das Land, mal die Russen, aber beide brachten Tod und Elend. Das Buch hat mich schwer beeindruckt und zu einer ganz neuen Sicht einerseits über die tatsächlichen Nazigreuel dort, andererseits über diesen Landstrich unserer Erde geführt, zu dessen Geschichte Wladimir Putin mit seinem Überfall offensichtlich ein weiteres blutiges Kapitel hinzufügen will. Klar, dass ich nun zu Snyders Veröffentlichung von 2017 gegriffen habe, allerdings in einer neu gestalteten Ausgabe vom Oktober des Vorjahres, die ich hier vorstellen  möchte:

 

"Wenn niemand von uns bereit ist, 
für die Freiheit zu sterben, 
dann werden wir alle unter der Tyrannei umkommen." 


"Über Tyrannei" heißt das Buch. Und das Besondere an dieser Ausgabe ist die Aufmachung. Nora Krug, eine deutsche Illustratorin, die sei 18 Jahren in New York lebt, hat "den Text in einen visuellen Kontext gestellt und damit ein neues, ein grafisches Werk geschaffen, das sowohl gestalterisch als auch intellektuell herausragend ist", so Christian Zaschke in der "Süddeutschen Zeitung". Snyders "Kampfschrift" ( FAZ ) ist eine Aufforderung, sich dem Unrecht entgegenzustellen und entstanden aus den Erfahrungen rund um den 45. Präsidenten der Vereinigten Staaten und seinen Erlebnissen mit seinen amerikanischen Landsleuten, die die demokratischen Verhältnisse mit ihren Institutionen zusehends vehement in Frage gestellt haben.

Dabei ist Timothy Snyder zugute gekommen, dass er Historiker ist und sich mit dem Begriff der Tyrannei sowohl in der Antike, des Amerikas der Gründerväter wie mit den totalitären Regimen des Europas des 20. Jahrhunderts auskennt. Demokratie, so Snyders Essenz aus den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts, ist nie dauerhaft gesichert. Und diese Einsicht scheint mir aktueller denn je.













Das betrifft auch unser Land: Die Jahre der Pandemie haben Phänomene heraufbeschworen, vor denen auch ich mich lange gefeit gefühlt habe. Da ist zum Beispiel die immer ärger zunehmende Entmenschlichung von Menschen, die anderer Meinung sind, durch eine entfesselte Sprache, vor allem in den social media. Das Buch enthält ein Beispiel aus der Stalinzeit, in der die wohlhabenden Bauern als Schweine auf Propagandaplakaten dargestellt wurden. Schweine werden geschlachtet, das weiß die Landbevölkerung. Und genau das machten sie mit ihren Nachbarn. Auf Worte folgen Taten...




Das Buch ist geschrieben wie "Ein Beipackzettel für den korrekten Gebrauch von freiheitlicher Demokratie, ein Handbuch für Menschenwürde und Rechtstaatlichkeit", meinte der "Spiegel" schon zur ersten Ausgabe. Ich kann nur bestätigen, dass es sprachlich schlicht & verständlich und keineswegs akademisch ist. Nora Krugs Illustrationen verstärken das noch und nehmen dem Inhalt manches Mal seine ( notwendige ) Schwere, so dass man am Ball bleibt ( und es für junge Menschen geeignet macht ).
















Gerichte, Gesetze und Gewerkschaften schützen sich nicht selbst - das müssen wir schon selber machen. "In dem Augenblick, in dem du ein Zeichen setzt", schreibt er, "ist der Bann des Status quo gebrochen, und andere werden folgen." Sehr lesenswert ist das Kapitel "Glaube an die Wahrheit", vor allem im Hinblick auf jüngste Erfahrungen zur "Flüchtlingskrise", Corona, der Impfung, aber zuletzt auch dem Überfall der Ukraine durch russische Streitkräfte. Gerade bei diesen Themen muss man feststellen, dass eine "offene Feindseligkeit gegenüber der verifizierbaren Wirklichkeit" bei einem gewissen Prozentsatz unserer Mitbürger vorherrscht. 

Bemerkenswert auch solche Abschnitte wie "Praktiziere physische Politik" und "Führe ein Privatleben". Gerade was die "physische Politik" anbelangt, hat die große Mehrheit in unserem Lande während der Pandemiemaßnahmen erfahren müssen, dass eine Minderheit den Diskurs dominiert, da in der Öffentlichkeit lautstark & wahrnehmbar, und Entscheidungen beeinflusst, während die, die sich sozial verhalten, in die Röhre gucken.


Je größer die Polarisierung innerhalb einer Gesellschaft, desto wichtiger das ehrenamtliche Engagement ist die Quintessenz des 15. Kapitels. Mir persönlich liegt das nächste am Herzen: "Achte auf gefährliche Wörter". Darüber habe ich nach meinen Erlebnissen im Blog in den vergangenen zwei Jahren sehr viel nachgedacht und gelernt, mich im Zaum zu halten. Gelernt habe ich auch - und das macht sich in den letzten Tagen bemerkbar: "Bleib ruhig, wenn das Undenkbare eintritt.""Moderne Tyrannei ist Terrormanagement", so bringt Snyder seine Erkenntnisse auf den Punkt. 

Zugegeben: mit der Aufforderung des vorletzten Kapitels "Sei patriotisch" habe ich mich zunächst schwer getan, aber die Lektüre hat mich bestätigt, dass ich da auf einem richtigen Weg bin. Was die Aufforderung des letzten Kapitels betrifft - "Sei so mutig wie möglich" - will ich das in meinem Schreiben im Blog weiter bzw. noch mehr beherzigen ( auch das empfiehlt der Autor - siehe das 2. Foto ). "Schau nicht nur zu" kann kein Lebensmotto für mich sein.

Ich habe das Buch noch drei Mal nachbestellt, um es zu verschenken. Wenn das keine Leseempfehlung ist!



11 Kommentare:

  1. Hallo Astrid,

    werde das Buch gleich auch drei Mal bestellen, zwei Geschenke, ein Exemplar für mich. Und den Titel "Blutland" auch noch zusätzlich für den Enkel, der sehr an der europäischen Geschichte interessiert ist.
    Viele Grüße,
    Susa aus dem Kölner Süden

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  2. Danke für die interessante Besprechung dieses klugen Buches! Manchem Buch würde man eine mangelnde Aktualität wünschen...
    Liebe Grüße
    Andrea

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  3. Nicht nur inhaltlich, sondern auch optisch ist das vorgestellte Buch sehr spannend. Eine Graphic-Novel, die auch jüngere Menschen erreichen könnte.
    Ich werde sie mir im Buchhandel auf jeden Fall mal ansehen.
    Danke für die guten Tipps und Deinen passenden Text dazu.
    Und auch Danke für Deinen Beitrag von gestern zum Internationalen Frauentag. Und, dass Du Donnerstags immer Deinen eigenen Frauentag machst! Bist halt selbst auch eine great woman!!
    Herzlichst, Sieglinde

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  4. Thank you for highlighting this author and his books. I will definitely read both.
    I love your always enjoyable and enlightening blog and wish you all the best ❤️
    Stay safe!

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  5. wow, danke, super leseempfehlung! jaja, gerichte gesetze gewerkschaften, ja die ganze demokratie schützen sich nicht selbst. das müssen wir tun, als zivilgesellschaft. nachtgrüße vom rhein. eva

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  6. ich habe von Bloodland und dem Autor gelesen
    "Die Guten starben zuerst" war der Titel des Beitrages
    es hat mich sehr erschüttert
    alleine die Zahl der Menschen die verhungert und umgekommen sind
    ist kaum zu fassen
    ich hoffe und bete dass das Morden bald ein Ende hat :(

    liebe Grüße
    Rosi

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  7. Sieht aus wie ein Buch, das auch ich gern lesen möchte - danke für den Tip! Ganz sicher ein hochrangiger Historiker.
    Doch fällt mir - immer wieder - auf, dasz es, egal ob Sachbuch oder Roman, fast immer die amerikanischen, machmal auch die deutschen Autoren sind, die zum Thema im Westen gelesen werden. Nicht aber die Osteuropäer selbst. Kann mich natürlich auch täuschen (aber ich hab schon mehrere amerikan. Bestseller z.B. über die Blockade von Leningrad halbgelesen weggelegt, da sie so gar nichts mit der Mentalität russischer Menschen zu tun hatten, naja, das waren halt Romane...)
    Werd versuchen, dieses Buch zu beschaffen -
    Frühlingsssonnenhoffnungsgrüsze
    Mascha

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  8. Sowas will ich gar nicht lesen .. sollte ich aber natürlich ... also werde ich.
    Vielen Dank!
    (Anmerkung: heute brauche ich einen gewaltfreien Tag ... habe die letzten Tag wieder zuviel Nachrichten konsumiert. Deswegen wohl mein Kommentar ...)
    Bussi aus Wien

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  9. Vielen Dank für den Hinweis. Das kenne ich noch nicht, aber ich werde es gleich bestellen. Wenigstens etwas, was wir tun können.
    LG
    Magdalena

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  10. Liebe Astrid,
    vielen Dank für den Lestip! Ich werde es mit bestellen und freue mich tatsächlich auf das Lesen. Bei dem Thema und der momentanen Lage nicht einfach.
    Ich wünsche dir viel Kraft und bedanke mich für den Lichtblick, den dein Blog für mich oft bereit hält.
    Katrin

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  11. Danke, liebe Astrid - bestellt.

    Herzliche Grüße
    Astrid rechtsrheinisch

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Danke, dass du dir für ein paar liebe Worte Zeit nimmst!

Ich wünsche mir allerdings nach wie vor, dass ein Name am Ende des Kommentars steht.
Da die anonymen namenlosen Kommentare zuletzt wieder zugenommen haben, hier der ausdrückliche Hinweis:

Ich werde sie ab jetzt wieder konsequent NICHT freischalten.

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